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Luzifers Söhne und Töchter

erwinio schrieb am 19. Februar 2006 um 12:09 Uhr (553x gelesen):

Er stand auf einmal wieder da, bei mir im Büro, und ich bereute sofort, dass ich nicht früher Feierabend gemacht hatte. Er wäre nicht gekommen, wenn ich mit meinen Kollegen das Gebäude verlassen hätte, jetzt aber, wo er mich alleine wusste, war es für ihn ein Leichtes, mich aufzusuchen.
Ich hatte aufgehört, mich zu wundern, woher er kam und wie es ihm immer wieder gelang, mich jederzeit und überall zu besuchen, ungeachtet aller Sicherheitsvorkehrungen, die ich jeweils traf, um ihn auszusperren.
„Ich habe ein ernstes Thema für Dich heute, eines, dass Dir Schmerzen bereiten wird“ begann er dann mit ruhiger Stimme.
„Das ist ja nichts Neues“, antwortete ich. Die letzten Besuche von ihm hatten mich immer erschüttert und aufgewühlt.
Er überhörte meinen Einwand. Zynismus schien etwas zu sein, was er nicht hörte, aber gerne selber verwendete, um mir die Spiegel vorzuhalten.
„Du solltest in Bezug auf Deine Selbsteinschätzung eine kleine Korrektur anbringen“, meinte er, „sozusagen die Vorzeichen ändern“.
Ich ahnte Schlimmes und blickte auf. „Klein“ hatte bei ihm bisweilen die Bedrohung des Unermesslichen.
„Dein Wesen als Mensch, ist nicht, wie Du Dir denkst, im Grunde göttlich. Dein Wesen als Mensch ist im Grunde teuflisch. Luzifer ist Dein Vater, Du bist seine Idee und denkst und fühlst durch seinen Geist.“
„Was?“ Ich blickte ihn ungläubig an. Ich wusste wohl, dass ich kein Heiliger war. Aber ein Teufel?
„Warum gerade ich?“ fragte ich verunsichert.
„Nicht gerade Du. Der Mensch als Mensch ist teuflisch, Du bist weder eine Ausnahme noch besonders schlecht.“
„Wie… das glaube ich nicht!“ stotterte ich. Das konnte nicht sein. Vielleicht vereinigt der Mensch beide Aspekte, das Göttliche und das Teuflische, aber im Grunde teuflisch…?
„Soll ich es Dir beweisen?“
“Wenn Du’s kannst…“
„Du glaubst mir also nicht?“
„Ich kann es nicht fassen, nicht begreifen.“ Ich wusste aufgrund der bisherigen Gespräche mit ihm, dass sich seine Aussagen für mich immer bewahrheitet hatten. Deshalb wusste ich wohl, dass, wenn er es ernst meinte, er auch Recht behalten würde.
„Schau Dir die Welt an! Prüfe die Geschichte Eurer Zivilisation! Unheimlich göttlich, nicht?“
„Ja, aber wir entwickeln…“
„Nichts da. Die Entwicklung beruht auf Sättigung. Ihr seid satt geworden, betört Euch mit wundersamen Erfindungen, die Euch ablenken. Ihr seid noch immer die Zerstörer dieser Welt, mehr übrigens denn je zuvor. Aber vor dem Fernseher bemerkt ihr das nicht. Im Wohnzimmer die Verbrechen der Welt beobachten, das kann Euch schon leicht das Gefühl geben, besser zu handeln und gerechter zu sein als alle die Anderen. Ihr seid Söhne und Töchter Luzifers und wer ihm zu widerstehen versucht, wird von ihm behandelt wie Eure Krieger, wenn sie zum Feind überlaufen wollen!“
„Aber es gibt doch viele Menschen auf der Erde, die in ihrem Umfeld Gutes tun oder zumindest…“
„…gutes Denken! Ja, die mag der Teufel besonders gerne, denn er weiss, dass Gott leidet, wenn er Euch sieht, wie ihr Euch ihm ähnlich fühlt. Sohn eines Teufels zu sein und sich als göttliches Wesen zu fühlen, dass ist für den Teufel das Grösste, die perfekte Verirrung, der grösste Triumph!“
„Wie kann ich denn…“
In dem Moment verschwand er, wie er gekommen war. Wenige Sekunden später öffnete der Hauswart auf seinem Kontrollgang die Türe.
Mein Besucher blieb seither fern. Und zum ersten Mal hoffe ich, dass er mich bald wieder besuchen kommt… Wie es wohl weitergehen mag...?

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