das Schuld-Sühne-Prinzip
myrrhe schrieb am 29. Juli 2003 um 18:47 Uhr (624x gelesen):
Liebe Helena,
vom Gotteswillen an sich kann natürlich kein Mensch verunsichert
werden – aber in diesem Falle sollte man, glaube ich, darauf
verzichten, Evelyn auch noch auf die Sündhaftigkeit der Tat
hinzuweisen, denn in ihrer Situation weiß sie dies ohnehin. Auch
wenn hinzugefügt wird: Jesus ist gütig und verständig, jeder macht
Fehler usw., so meine ich doch, daß der Hinweis, die Tat wäre zu
tadeln, vielleicht nicht gerade in dieser akuten Situation
angebracht ist. Denn klarerweise sieht ein Mensch in einer
Notsituation genau auf die Dinge, die er vielleicht selbst in seinem
Herzen spürt, und die die Panik möglicherweise auch auslösen.
Deshalb meinte ich nicht, Evelyn sollte sich vom Gotteswillen
fernhalten, sondern sich nicht dadurch – und schrieb ich nicht vom
kirchlichen Schuld-Sühne-Prinzip? – verunsichern lassen, denn
das ist sie ohnehin genug. Gott steht über allem, und das weiß, so
spüre ich es, auch Evelyn, und deshalb auch mein Hinweis auf
den Schutzengel.
Das Bitten um Verzeihung, das Du ansprichst, impliziert für mich
ein Aufrechterhalten des Schuld-Sühne-Prinzips. Diese junge
Frau hat vor Jahren abgetrieben, und, wie Du ihrem Posting
entnehmen kannst, ihre Tat schon längst bereut. Sicher hat sie
Gott schon oft darum um Verzeihung gebeten. Da sie aber, so
sehe ich es, ihre Schuld nicht loslassen kann, weil sie ihr Kind
nicht loslassen kann, weil sie keine aktive Trauerarbeit geleistet
hat, und um diese kommt man nicht herum, spürt sie die göttliche
Gnade des Verzeihens nicht – und darum ist es notwendig, daß
sie ihre damalige Situation noch einmal aufarbeitet und dann
losläßt und zugleich Abschied von dem kleinen Wesen nimmt. In
Frieden und Dankbarkeit. Du weißt, was mir widerfahren ist,
deshalb kann ich durchaus beurteilen, daß Loslassen nicht das
Loslassen eines Gedankenmusters bedeutet, sondern das innere
Freigeben des Anderen (so jung oder alt er auch sein mag). Das
Kindlein ist eine reife Seele und lebt sein Leben, und es ist
wichtig, diese Seele in Frieden gehen zu lassen, ohne es/sie
dabei weniger zu lieben. Dadurch findet auch eine innere
Versöhnung mit der damaligen Tat statt, und damit ist die
Vorasusetzung gegeben für ein Durchbrechen des Schuld-Sühne-
Kreislaufs. Dann spürt sie im Inneren die göttliche Verzeihung,
und die Panik kann weichen.
Abschied nehmen und den anderen in Liebe loslassen: das ist ein
bewußter und sehr wichtiger Vorgang, und ich wollte, da ich es
selbst erlebt habe, daß wir Evelyn auch dazu raten sollten.
Liebe Grüße,
myrrhe
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