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Frankensteins Erben und der zusammengebaute Mensch

Füchsin * schrieb am 23. Mai 2006 um 16:43 Uhr (807x gelesen):

Frankensteins Erben und der zusammengebaute Mensch (23.5.2006)
„Victor Frankenstein oder der moderne Prometheus“ wurde als Roman von Mary Wollstonecraft Godwin (spätere: Shelley) als Zeitvertreib mit Freunden in einer verregneten kalten Saison (ein Jahr nach dem verheerenden Ausbruch des Vulkans Tambora zu in einer Villa in der Nähe des Genfer Sees 1816 verfasst. ( Der Vulkan auf Sumbawa brach am 15.4.1815 aus, er gehört zu den Kleinen Sundainseln Indonesiens. Der Ausbruch des Vulkans löste eine weltweite Kältewelle und Missernten aus!). Die Geschichte und den Namen entlehnte sie von der Burg Frankenstein nahe Darmstadt, auf dem der Alchemist Johann Konrad Dippel (1673-1734) Leichen untersucht und einen Unglücklichen (Irren?) im Kerker gefangen gehalten hat. Man munkelte, Dippel hätte ihn aus Leichenteilen zusammengesetzt und mit einem Zaubertrank zum Leben erweckt. Der große Mann jedoch brach aus, tötete Dippel und später angeblich weitere Mädchen und Kinder im Wald und habe diese dann angeblich gekocht und als Nahrung verspeist.
Die Brüder Grimm stießen auf die Geschichte und fügten sie der Märchensammlung bei, doch während die Story noch von Marys Stiefmutter in England für den britischen Markt übersetzt wurde, entfernten sie die Geschichte wieder, weil sie zu blutrünstig war.
Im Roman erschafft Victor („lateinisch der Siegreiche“) Frankenstein als Arzt in Ingolstadt eine künstliche Kreatur aus Leichen, die mit der neuen Elektrizität wiederbelebt wird. - Bis 1800 gab es da eine berühmte medizinische Universität, die später in Etappen nach München verlegt worden ist. 1776 wurde in Ingolstadt der atheistisch-materialistische Aufklärer-Geheimbund der „Illuminati“ (engl./lat. „Illumination“ = dt. „Aufklärung“) gegründet, mit Vertretern wie Knigge, Herder oder Goethe. Prometheus, ein klassisches Ideal der damaligen, widersetzt sich Gott (Zeus) und bringt die Fackel der Vernunft zu den Menschen. Der faustisch-promethische Mensch hält sich selbst für Gott, einen Entdecker und einen Schöpfer. Bisherige Grenzen von Ethik oder Glaube existieren für die Vernunft und die Wissenschaft nicht mehr. Und es gibt auch nichts anderes außerhalb der Materie. Alles was ist, kann man sehen, angreifen und begreifen – sonst ist es nicht.
Es ist wohl eine grauenhafte künstliche Kreatur, die die neue Fortschrittsgläubigkeit der Zeit hervorbringt. Der Mensch verkommt zu einer biologischen Maschine, die durch Elektrizität betrieben wird, und das wie eine Maschine logisch zu funktionieren hat. Seele gibt es nicht, Gefühle sind irrelevant. (Dieser Irrtum kostet Frankenstein das Leben.) Das geschaffene entflohene Monster ist so einsam und unglücklich, dass es alles tut, um seinen Schöpfer dieselbe seelische Qual zuzufügen. Das Monster tötet nach und nach alle, die Victor liebt. Alles endet dann im ewigen Eis der Arktis, wohin Victor mit einer Forschungsexpedition reist. (Wo, wie wir wissen, auch der mythische Zugang zu einer anderen bedrohlichen Unterwelt existiert, zur Welt der riesigen nordischen perfekten Übermenschen – einem anderen Mythos der damaligen Zeit.)
Bereits 100 Jahre zuvor experimentierte man mit den ersten Automaten und automatischen Puppen. Der biologische Automat, einen Zombie, Untoten, ein Cyborg, ein Bio-Roboter – oder wie hier ein Leichenteil-Monster – war die Fortsetzung. Geschaffen ohne göttlichen Geist, ohne Glaube, ohne Seele. Hauptsache, es konnte sich bewegen.
Die Ansicht über den Menschen der frühen Neuzeit war noch wie der über den Golem: Der Mensch ist ein Geschöpf, geformt aus nassem Lehm wie ein Tongefäß, in dem der Atem oder Geist Gottes gelegt wird. So können nur besonders fromme Kabbalisten, inspiriert vom Göttlichen, ihrerseits einen Golem erschaffen, dem man das göttliche Wort unter die Zunge legt oder auf die Stirn oder Brust legt: „Wahrheit“ oder „Leben“, und entfernt man nur einen hebräischen Buchstaben, entfernt man das Siegel Gottes, wird daraus „Tod“ und der Golem wird wieder zu Lehm. Die Geschichte des Golem
http://de.wikipedia.org/wiki/Golem
ist älter als der Roman von Gustav Meyrink (1915), kursierte bereits unter den Romantikern des 19. Jahrhunderts, der Stoff der Legende geht bis auf das 12. Jhd. zurück, aber eigentlich auf die Bibel, oder auf die Vorstellung von Götter Ptah und Chnum aus Ägypten, die den Menschen auf der Töpferscheibe formen und beleben. Oder ist noch viel älter. Einfach gesagt: die Vorstellung ist uralt und archaisch.
„Golem“ ist dabei nur das hebräische Wort für „hilflos, dumm, unbeholfen, unfertig“, ein Fötus, ein Ungebildeter, ein Ungeformtes, eine Frau bevor sie ihr erstes Kind geboren hat. Es ist ohne Form und Verstand und nur soweit beseelt, dass es sich bewegen und handeln kann, sofern man ihm befiehlt. Entfernt man aus dem Menschen den Geist Gottes, ist er nur noch beweglicher Matsch, Lehm, ein Bioroboter bis er umfällt und vergeht.
Die Folgen der Zeit mussten für jeden sensiblen Menschen damals um 1815/16 schrecklich sichtbar gewesen sein: Industrialisierung, Manchesterliberalismus, Zerschlagung aller herkömmlichen Werte und Vernichtung ganzer Berufsstände, Massenarmut und Ausbeutung der unteren Schichten, weltweite Kriege (allein in Europa durch das Ende Napoleons), zerstörte Landstriche, massenhaft Waisen, Imperialismus mit Sklavenhandel, Drogenhandel, drogensüchtige höchste Kreise (!), Unterwerfung ganzer Völker durch arrogante Kolonialisten und Freihändler, dazu große Missernten weltweit und Seuchen. Bis auf das mit dem Vulkan und den Seuchen, alles von „modernen, vernünftigen männlichen Bürgern“ begangen.
Eure Meinungen?
Hier anschließend, möchte ich zwei weitere dazupassende Themen anfügen (siehe unten).

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