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Re: Spiegel

myrrhe schrieb am 27. Januar 2004 um 18:31 Uhr (520x gelesen):

Hallo Milena,

es hat etwas mit der Todesangst zu tun, das diese Krankheiten in uns
auslösen. Zwar gibt es viele lebensgefährliche Krankheiten – doch nicht
alle lösen in uns die gleiche Todesangst aus: Aids und Krebs wirken auf
unsere Gesellschaft viel bedrohlicher als etwa ein Schlaganfall oder
Herzinfarkt – obwohl sie ebenso therapierbar sind und längst nicht
zwangsläufig zum Tode führen. Doch gerade diese beiden Krankheiten
beunruhigen, weil sie nicht vorhersehbar und daher auch nicht
kontrollierbar sind, und weil sie den physischen Körper nach und nach in
Besitz nehmen: es ist ungewiß, wann und wie das Aids-Virus im Körper
zu wirken beginnt, und wie und wo sich ein Krebs im Körper
manifestiert. Beide Krankheiten wirken jedenfalls sichtbar auf den
Körper, sie dokumentieren eventuell einen Verfall (das muß zwar nicht
sein - aber die Menschen sehen es so: Krebs+Aids=Verfall=Tod);
besonders die bei schwer Krebskranken oft auftretende Auszehrung
(Kachexie) wirkt äußerst bedrohlich und konfrontiert machtvoll mit dem
eigenen Tod.
Letztlich geht es also nie um die Kranken, sondern um diejenigen, die
mit den Kranken umgehen, um deren Tod. Die Kranken halten der
Gesellschaft einen Spiegel vor. Indem sie diese Menschen sieht, kann sie
nicht ausweichen - eine unangenehme Situation, der sie dadurch
entgeht, indem sie den Kranken mit tröstenden Worten ("positiv
denken!") versieht und sich in der Folge zurückzieht.

Liebe Grüße,
myrrhe

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