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Re: wir sind es wert!
myrrhe schrieb am 10. September 2003 um 7:49 Uhr (409x gelesen):

Lieber Rüdiger,

> Ich selbst habe dieses Problem ja erst vor kurzer Zeit (wieder)
erkannt. Und ich hatte tatsächlich meinen Kompaß verloren,
obwohl ich ihn doch weiß Gott (Entschuldigen's, Herr Karajan)
nicht verlieren wollte.
---
Ja, wir verlieren ihn schon in der Erziehung. So wie unsere Eltern
ihn ja selbst verloren haben … etc. weiter zurück. Wir schleppen
unsere Erziehungsmuster mit uns herum und sind von uns
entfernter denn je …

> Aber es gehört auch viel Mut dazu- wie ich zu meinem
Leidwesen immer wieder bemerke-diesem Kompaß zu folgen
---
Das kannst Du laut sagen! Besonders wenn wir ihn erkannt haben
und dann in bestimmten Zwängen stecken – die wir uns natürlich
auch selber, in einer Zeit, als wir ihn eben nicht kannten,
geschaffen haben.


> Aber so versteht man auch erst richtig, was es zum Beispiel in
der Nazi-Zeit bedeutet haben muß, zu sagen: "Die Juden sind
ganz normale Menschen."
> Da kann man heute unseren Vorfahren hundertmal
Duckmäusertum vorwerfen- wir duckmäusern doch heute schon
bei weit geringeren Anlässen.
---
Richtig, Rüdiger, das sage ich auch immer! Aber beobachte
einmal: es sind besonders junge Leute, die der Kriegsgeneration
den Vorwurf machen, nicht aufgestanden zu sein und sich gewehrt
zu haben … sie können die Angst nicht nachvollziehen, weil ihr
eigener Kompaß verschüttet ist. Und er ist verschüttet, weil die
Eltern natürlich, um zu überleben, vieles verdrängt haben … Und
viele dieser Kritiker tun doch heute genau das gleiche, buckeln
und treten in ihrem Job, erzählen dem Chef G'schichtln, weil sie
selbst nach oben wollen …

> Ich bin ja genauso. Ich versuche, zu mir zu stehen, aber das ist
verdammt schwer, selbst, wenn man eigentlich weiß, daß es so
richtig ist.
> Ich bin schon manchmal ein bißchen ratlos... :-(
---
Lieber Rüdiger, das brauchst Du nicht zu sein, glaube ich. Du
stehst zu Dir, weil Du den Kompaß auch erkannt hast. Sicher ist es
manchmal schwer, wenn die materiellen Gegebenheiten dem
entgegenstehen, aber andererseits ist die Erkenntnis da, und das
ist die Hauptsache! Manchmal müssen wir leider gegen unseren
Willen etwas tun und dabei Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen.
Die Belohnung ist: wir selbst zu sein!

> Und dabei fühle mich mich heute selbst in meinen ratlosen
Momenten immer noch besser als vor ein paar Jahren im
Normalzustand. Da frage ich mich dann verschämt: Darf ich das
überhaupt annehmen...? :-)
---
Ja, lieber Rüdiger, das darfst Du!!! Denn Du bist es wert. Da spielt
wieder das Müsterchen hinein, das wir von früher her mitnehmen:
wir sind nur etwas wert, wenn wir etwas leisten. Und wenn wir mal
gerade nichts leisten, sondern nur sind, dann taucht schon die
Frage auf: darf ich das annehmen, wo ich doch dafür nichts
gegeben habe?
Mein Lieber, Du bist ein wertvolles Mitglied der menschlichen
Gesellschaft. Bedenke: ohne Dein Hiersein sähe die Welt anders
aus! Das gilt natürlich für jeden Menschen. Weißt Du, das merkt
man sehr gut, wenn ein Mensch diese Welt verläßt. Wirklich ist
dann die Welt anders als vorher ... sie ist um die Person ärmer,
leerer. Das ist spürbar.
Und so seien wir doch einfach froh, daß es Dich gibt! :-))

Alles Liebe!
myrrhe


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