Hallo, Füchsin, falls tatsächlich Ads vorliegt, wirkt Schokoabstinenz mit Sicherheit nicht gegen das Ads (allenfalls gegen eine begleitende Erkrankung, deren Erscheinungen zudem möglicherweise mit Ads verwechselt wurden.) Ich hab mich mit dem Thema ziemlich lange beschäftigt (findest auch im Archiv was dazu) und kenne Eltern, die am Land leben und ganz bewusst auf gesunde Ernährung achten, die aber dennoch Kinder mit Ads haben.
Weils grad zum Thema passt, post ich hier auch mal etwas, was ich in einem anderen Forum geschrieben hab - ich sag aber gleich dazu, dass ich momentan keine Zeit hab, mich an einer allfälligen Diskussion zu beteiligen, war krank und steh grad ziemlich im Prüfungsstress.
Es ist schwierig, hierauf etwas zu antworten, weil das Ganze sehr komplex ist. Wegen "Hyperaktivität" alleine sollte eigentlich niemand Pillen bekommen. Es gibt aber ein Krankheitsbild, das Attention Deficit Disorder heißt, und zwar in zwei Ausprägungen - mit Hyper- oder mit Hypoaktivität. (Ziemlich gute Informationen dazu findet man auf
http://www.adhs.ch.) Und das hört auch keineswegs mit der Jugend auf, wie es lange Zeit hieß.
In jeder intensiveren Diskussion zu dem Thema, wie man mit ADD umgeht, kommt man genau an den von dir geäußerten Punkt. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn man die Strukturen der Gesellschaft an diese speziellen Menschen - die durchaus auch sehr viele positive Eigenarten haben - anpasst, und nicht umgekehrt. Sehr oft wird das aber einfach nicht gemacht, z.B. in der Schule. Nun führt diese Störung bei Menschen mit normaler-hoher Intelligenz oft dazu, dass sie von Lehrern etc. als "untragbar" angesehen werden - disziplinäre Probleme sind an der Tagesordnung, ebenso wie Lernprobleme. (Ich spreche hier von den krasseren Fällen, es gibt Abstufungen.) Diese Kinder wollen aber gar nicht stören, sie bekommen Dinge nicht mit (sie können Reize nicht ausfiltern, Wichtiges nicht von Unwichtigem unterscheiden, oft haben sie Schwierigkeiten, nonverbale Signale zu interpretieren usw.) und ecken an, weil sie inadäquat reagieren. Und dies soweit, dass nicht selten die Einweisung in eine Sonderschule droht. (Und ich habe nur extrem vereinzelt von Sonderschulen gehört, mit denen die Eltern zufrieden waren, und die tatsächlich auf diese Kinder eingehen konnten, weit häufiger war der Fall, dass die Kinder unter der Situation litten, weil sie unterfordert waren und sich bestraft fühlten durch den Schulwechsel. Es ist auch selten möglich, da wieder zurück ins normale Schulsystem zu kommen. Deshalb führen Eltern oft erbitterte Kämpfe, um ihrem Kind den Verbleib auf der Schule zu ermöglichen. Falls diese Störung vorliegt, erzielt man in etwa 80% durch die Gabe eines bestimmten Medikaments (+ im Idealfall einer Kombination mit Verhaltenstherapie) erstaunliche Ergebnisse - denn das Medikament reguliert den bei solchen Menschen aus dem Gleichgewicht gekommenen Hirnstoffwechsel (es konnte mittlerweile nachgewiesen werden, dass es Unterschiede gibt zwischen Menschen mit und ohne Add, wie das allerdings genau abläuft, ist ein ziemliches Rätsel, also warum das Medikament wirkt, Tatsache ist aber, dass es z.B. in den USA schon weit über 30 Jahre eingesetzt wird, und Nebenwirkungen extrem selten sind und in der Regel auch nach Absetzen verschwinden. Ich kenne viele Leute, einige auch persönlich, die dieses Medikament nehmen. Ich kenne auch Erwachsene, die gesagt habe, nach einem jahrelangen Martyrium hat sich ihr Leben endlich wieder zum Positiven gewendet, als sie dieses Medikament bekommen haben. Viele haben jahrelange Odysseen (z.B. unnütze Psychotherapien hinter sich - und sehr viele sagten auch, dass sie erst unter der Medikation von einer Therapie profitieren konnten, die ihnen vorher überhaupt nichts gegeben hatte.
Sowohl Eltern als auch Kinder nehmen das Medikament meistens aufgrund eines nicht mehr bewältigbaren Leidensdruckes durch die Auswirkungen, die die Störung auf die Interaktion mit der Umwelt hat. Nur in ganz milden Fällen ist es einfach eine "muntere Lebendigkeit", in den ärgeren Fällen verzweifelt die Umwelt an dem ständigen Aufgedrehtsein und den disziplinären Problemen. (Bei hypoaktiven ist der Sachverhalt wieder etwas anders, aber die lass ich mal hier weg.)
Es gibt viele Eltern, die lange Zeit versucht haben, alles mögliche andere anzuwenden - z.B. Familientherapie, z.B. Ernährungsumstellung usw. - und die erst ganz am Schluss, als sie quasi alles durchprobiert hatten, einen Versuch mit dem Medikament machten. Die wenigsten wollen ihr Kind dopen oder ruhigstellen, betroffene Kinder leiden ja selber unter ihrem Anderssein, und ich habe schon viele Eltern gehört, die das einfach nicht mehr mitansehen konnten, und ihrem Kind helfen wollten. Dass es heutzutage auch nicht unbedingt hilfreich ist, wenn ein normalbegabtes Kind wegen Lern- und Disziplinschwierigkeiten, die durch sein Konzentrationsdefizit (eig. Konzentrationsinkonsistenz, nicht bloß eine Schwäche) entstanden sind, in der Sonderschule landet, mit wenig Optionen, da wieder herauszukommen, ist wohl auch klar, insofern kann ich diese Eltern verstehen. Viele versuchen auch, zu machen, was möglich ist, mit Lehrern zu reden usw. - leider bringt das in vielen Fällen nicht viel, denn die Umgebung müsste sich permanent auf die Bedürfnisse der AddlerInnen einstellen, es reicht da nicht ein einmaliges Gespräch, sondern es muss die Lernumgebung so gestaltet werden, dass Ablenkung verhindert wird - z.B. sollte ein solches Kind nach Möglichkeit vorne in der Klasse sitzen, sodass es nicht in Versuchung gebracht wird, dauernd alle anderen zu beobachten, viele dieser Kinder haben auch ähnliche Probleme mit modernen Sitzgruppierungen - aber welche Schule stellt ihre modernen Sitzgruppierungen wegen ein paar solcher Kinder um? Selbst wenn good will vorhanden ist, scheitert es oft schon an Kleinigkeiten. Und dann ist es natürlich die einfachere und bequemere Methode, das Problem von der anderen Seite anzugehen - das Kind an die Regeln der Welt anzupassen und nicht umgekehrt. Wenn es eine Chance gebe, letzteres durchzusetzen, würden es die meisten Eltern bevorzugen.
Was das Medikament betrifft, so ist zu sagen, dass es bei jenen Menschen, die eine ADD-Diagnose haben, zu 80% hilft und auch kaum Nebenwirkungen auftreten. 20% sind dabei, bei denen es keine Wirkung zeigt (obwohl sie eine gültige Add-Diagnose haben), und ein kleiner Prozentsatz, bei denen unerwünschte Nebenwirkungen in einem so starken Ausmaß auftreten, dass dieses Medikament, das an und für sich Mittel erster Wahl ist, nicht genommen wird, und statt dessen ein anderes.
In leichteren Fällen von Add braucht man übrigens gar kein Medikament, trotzdem ist es auch hier nützlich, spezielle Tipps für Addler zu beachten, die ihnen etwa helfen, den Tag zu strukturieren etc.
Die wirklich große Gefahr von Add, Adhs, und - meinetwegen Hyperaktivität (obwohl wie gesagt, es keine Krankheit namens "Hyperaktivität" gibt, gegen die dieses Medikament verordnet wird, Hyperaktivität ist quasi nur eine besonders augenfällige Begleiterscheinung der Aufmerksamkeitsstörung) - ist, dass es sehr leicht mit anderen Störungen zu verwechseln ist, weshalb eine korrekte Diagnose auch alles mögliche ausschließen muss (z.B. Schilddrüsenprobleme, z.B. Borderline und und und) Zudem taucht es sehr oft in Kombination mit anderen Störungen, z.B. Depressionen auf - diese wiederum können einerseits Folge des Add sein (durch die permanenten Enttäuschungen, weil diese Leute weit hinter ihrem Leistungspotential zurückbleiben, bei anderen oft anecken usw.) aber durchaus auch einfach so gemeinsam auftreten. Es ist also sehr schwierig, hier wirklich zu sagen, was woher kommt und eine korrekte Diagnose zu stellen, ein direkter Nachweis etwa über eine Blutuntersuchung oder dgl. ist nicht möglich.
Bei Kindern ist es so, dass teilweise überdiagnostiziert wird, teilweise unterdiagnostiziert. Es gibt also tatsächlich Kinder, die ein Medikament verschrieben bekommen, gegen etwas das sie gar nicht haben - oder in einer Ausprägung haben, die keine Medikamenteneinnahme erforderlich macht. Genauso gibt es aber auch den umgekehrten Fall - und von dieser Seite habe ich Add kennengelernt, ich habe die "gescheiterten" Erwachsenen kennengelernt, die z.T. das Medikament als Kinder/Jugendliche bekommen hatten, denen es dann aber abgesetzt wurde, mit der Begründung, Erwachsene könnten diese Störung nicht bekommen, und auch jene, die es nie bekommen hatten und erstmalig als Erwachsene mit der Einnahme begonnen haben - also den Fall, dass jemand, der das Medikament eigentlich recht dringend brauchen würde, es einfach nicht bekommt.
Add befindet sich auf einem Kontinuum, "ein bisschen Add" ist nicht behandlungsbedürftig, irgendwo setzt dann aber der Leidensdruck ein, ab dem es "so nicht mehr weitergeht". Teils kann durch Anbieten entsprechender Strukturen die Notwendigkeit der Medikamenteneinnahme reduziert werden. Wenn man die Umgebung anpasst, ist nicht mehr ein so hoher Aufwand von seiten des Betroffenen nötig, um zu versuchen, mit dieser Umgebung zurechtzukommen. Ob man die Gabe des Medikamentes ganz überflüssig machen könnte, wenn man Idealstrukturen schafft, ist wohl zweifelhaft - es wird wohl immer einige "Extremfälle" geben, bei denen das alleine nichts nützt. Aber es gibt eine Unzahl von Kindern und Erwachsenen, die irgendwo zwischen "ein bisschen Add" und "extremes Add" angesiedelt sind, und es ist zu vermuten, dass man hier die Medikamentengabe extrem reduzieren bis überflüssig machen könnte, sofern man entsprechende Strukturen schafft - dass dies aber nicht geschieht, habe ich oben schon beschrieben. Nur zu sagen "Die Kinder schlucken dieses Medikament, weil die Eltern sie ruhigstellen wollen" ist eine sehr verkürzte Sichtweise der Dinge, das mag es geben, das ist aber ein Missbrauch und ein Ausnahmefall.
Das in diesem Zusammenhang am häufigsten verordnete Medikament ist übrigens praktisch geschmacklos, ich weiß nicht, wie es mit den Alternativmedikamenten in der Hinsicht aussieht. Auch Erbrechen dürfte ziemlich selten sein, ich stehe in Kontakt mit vielen Betroffenen, kann mich aber nicht erinnern, das tatsächlich schon mal als Nebenwirkung gehört zu haben. (Und es kommen bei einzelnen Personen verschiedenste Nebenwirkungen vor, sie sind aber in der Regel leichter Natur und verschwinden nach Absetzen).
Ein gravierender Negativpunkt ist auch, dass es keine Langzeitstudien hinsichtlich allfälliger Spätwirkungen gibt.
Es gibt allerdings Langzeitstudien, die z.B. die Gefahr von Drogensucht, Alkoholismus, Selbstmord bei Jugendlichen mit Add-Diagnosne mit oder ohne Medikamenteneinnahme vergleichen, und hier schneiden die medikamentös behandelten Menschen wesentlich besser ab (niedrigere Selbstmord- und Unfallrate, weniger Drogensüchtige, weniger Alkoholismus.) Dass, wenn diese Diagnose vorliegt, das "Medikamentenschlucken" tatsächlich den Jugendlichen eher von den Drogen fernhält (und keineswegs als "Einstiegsdroge" dient), ist ganz einfach begründbar, schließlich wird seine familie, soziale, berufliche Situation dadurch stabilisiert, dass er mit diesem Hilfsmittel in die Lage versetzt wird, grundlegende Anforderungen/Erwartungen zu durchschauen und zu erfüllen, falls er das möchte - er wird stabiler, zufriedener mit sich selbst und braucht daher keine Flucht in Drogen.
Dass es weit wünschenswerter wäre, eine solche Stabilität und Zufriedenheit nicht durch Medikamente, sondern durch spezielle Strukturen, die den Betroffenen das Leben erleichtern, zu schaffen, da werden mir, glaub ich, wohl alle hier zustimmen. Traurig ist es schon, dass das nicht möglich ist, aber man sollte auch mitberücksichtigen, dass die Eltern das Beste für Ihr Kind wollen - und dass das Beste in diesem Zusammenhang vielleicht tatsächlich das kleinere von zwei Übeln, also die Medikamenteneinnahme, ist - jedenfalls dann, wenn es "ohne" nicht geht (wie gesagt, manche Addler schaffen es, ihr Leben mit Add recht gut zu meistern, den schwerer Betroffenen gelingt dies aber nicht), und wenn Versuche, die Umwelt anzupassen, nicht möglich sind, oder nicht in ausreichendem Umfang möglich sind.