Paramahansa Yogananda besuchte Giri Bala im Jahre 1936 und schildert hier sein Treffen mit der Heiligen:
"Ihre Geistigkeit umgab sie wie ein leuchtender Schleier. Sie grüßte
mich mit dem traditionellen Pronam, wie sich einem Mönch gegenüber
geziemt. Ihre natürliche Anmut und das stille Lächeln, mit dem
sie uns willkommen hieß, waren uns mehr wert als alle schönen
Worte.
Die kleine Heilige setzte sich mit gekreuzten Beinen auf der Veranda
nieder. Obgleich man ihr das Alter anmerkte, wirkte sie nicht gebrechlich.
Sie hatte eine reine, braune Haut und einen frischen Teint. Yogananda fragte
sie: "Sagt mir bitte, Mutter, ob es stimmt, daß ihr ganz ohne Nahrung
lebt? Ich möchte es gern aus eurem eigenen Munde hören."
"Ja, es stimmt" Sie schwieg einige Augenblicke, und ihre nächste
Bemerkung zeigte, daß sie in Gedanken nachgerechnet hatte. "Seit
ich 12 Jahre und 4 Monate alt war, bis zu meinem jetzigen 68. Lebensjahr,
d.h. über 56 Jahre, habe ich weder gegessen noch getrunken."
"Kommt ihr nie in Versuchung zu essen?"
"Wenn ich Hunger hätte, müßte ich auch essen." Mit
welch einfacher und doch königlicher Würde sie diese Wahrheit
aussprach, die einer Welt, die sich um 3 tägliche Mahlzeiten dreht,
nur allzu gut bekannt ist!"
"Aber irgend etwas nehmt Ihr doch zu Euch!" wandte ich ein.
"Natürlich", sagte sie lächelnd, denn sie hatte mich sofort
verstanden.
"Ihr zieht Eure Nahrung aus den feineren Energien der Luft und des
Sonnenlichts und aus der kosmischen Kraft, die durch das verlängerte
Mark in Euren Körper einströmt."
"Der Vater weiß es". Wiederum erklärte sie sich in ihrer
sanften, unaufdringlichen Art einverstanden.
"Mutter, erzählt mir bitte etwas aus eurem Leben".
Da legte Giri Bala ihre bisherige Zurückhaltung ab und begann
zu plaudern: "Über meine Kindheit gibt es nichts zu berichten, mit
Ausnahme der Tatsache, daß ich einen unbändigen Appetit hatte.
"Kind, warnte mich meine Mutter des öfteren, "bemühe dich, deine
Eßgier im Zaum zu halten. Später wirst du in der Familie Deines
Mannes unter Fremden leben müssen; was soll man dort von Dir denken,
wenn Du deine Tage mit nichts anderem als mit Essen zubringst?"
Das Unheil, das sie vorausgesehen hatte, traf ein. Ich war erst zwölf
Jahre alt, als ich zu der Familie meines Mannes zog. Meine Schwiegermutter
schalt mich morgens, mittags und abends wegen meiner Eßgier. Eines
Morgens machte sich in erbarmungsloser Weise über mich lustig.
"Ich werde dir bald beweisen, daß ich überhaupt keine Nahrung
mehr anrühre, solange ich lebe", sagte ich tief gekränkt. Da
wurde ein eiserner Entschluß in mir wach. Ich zog mich an einen einsamen
Ort zurück, um zu meinem himmlischen Vater zu beten. "Herr", flehte
ich ohne Unterlaß, "sende mir bitte einen Guru,
der mich lehren kann, von Deinem Licht anstatt von Nahrung zu leben." Dann
fiel ich plötzlich in Ekstase. Als sich wieder zu mir kam, machte
ich mich in glückseliger Stimmung auf den Weg zum Ghat am Ganges.
Die Morgensonne schimmerte bereits auf den Wellen, als ich in den Ganges
stieg, um mich wie vor einer heiligen Einweihung zu reinigen. Als ich in
meinem nassen Gewand das Flußufer verließ, materialisierte
sich mein Meister im hellen Tageslicht vor mir.
"Liebes Kind", sagte er voller Mitgefühl, "ich bin der Guru, der
dir von Gott gesandt wurde, um Deine flehentliche Bitte zu erfüllen.
Dein ungewöhnliches Gebet hat Ihn tief bewegt. Von heute an sollst
du nur noch von astralem Licht leben, denn die Atome deines Körpers
werden vom nie versiegenden kosmischen Strom gespeist werden."
Der Ghat war menschenleer; dennoch breitete mein Guru eine Aura schützenden
Lichts um uns aus, damit kein anderer uns stören konnte. Dann weihte
er mich in eine Kriya-Technik ein,
die den Körper unabhängig von grobstofflicher Nahrung macht."
Wie ein Zeitungsreporter stellte ich nun mehrere Fragen an Giri
Bala:
"Mutter, warum lehrt ihr andere Menschen nicht ohne Nahrung
zu leben?" Doch meine Hoffnung für die hungernden Millionen wurde
sogleich wieder zunichte gemacht.
"Nein", sagte sie, indem sie den Kopf schüttelte. "Mein
Guru hat mir strengstens untersagt, das Geheimnis preiszugeben. Er
beabsichtigt keinesfalls, in das Schöpfungsdrama Gottes einzugreifen.
Die Bauern würden es mir nicht danken, wenn ich unsere Leute lehrte,
ohne Nahrung zu leben; denn das würde bedeuten, daß die köstlichen
Früchte am Boden liegenbleiben und verderben. Anscheinend sind Elend,
Hungersnot und Krankheit die Geißeln unseres Karmas,
die uns letzten Endes dazu verhelfen, den wahren Sinn des Lebens zu verstehen."
"Mutter", fragte ich nachdrücklich, "aus welchem Grund seid ihr ausersehen worden, ohne Nahrung zu leben?" "Um zu beweisen, daß der Mensch GEIST ist", sagte sie, während göttliche Weisheit aus ihrem Antlitz leuchtete. "Um zu beweisen, daß der geistig Fortgeschrittene allmählich lernen kann, nicht mehr von Nahrung, sondern vom Ewigen Licht (= göttlicher Liebe) zu leben."
Aus "Autobiographie eines Yogi" v. P. Yogananda (S. 472 - 476, gekürzt)
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