SOLARIS - Aus dem Leben von Paramahansa Yogananda


Kriya - Yoga

„Gesegnet, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen." Die Wahrheit in diesen einfachen Worten wurde in gleicher Weise von Heiligen des Ostens wie des Westens unterstrichen. Es ist eine Wahrheit, die jeder Gottesverehrer wohl überlegen sollte, weil es in allen Religionen die eine allgemeine Täuschung gibt, zu glauben, der bloße Anschluss an eine Gebetsgemeinschaft ergäbe den Reisepass zur Erlösung. Doch sagte Jesus nicht: „Gesegnet sind meine Anhänger, denn sie werden Gott sehen." Seine Botschaft war universell: Der Maßstab innerer Reinheit allein bestimmt die Nähe einer Person zu Gott.

Was ist Reinheit des Herzens? Jesus definierte sie im Prinzip an anderer Stelle als die Fähigkeit, Gott mit all seinem Herzen, mit seiner Seele, seinem Verstand und seiner Kraft zu lieben (33). Und warum wird diese Fähigkeit Reinheit genannt? Aus dem einfachen Grund, weil wir zu Gott gehören; Weltlichkeit ist unserer essentiellen Natur fremd.

 

Wie kann man solche Reinheit erreichen? Ist Selbstanstrengung die Antwort? Ist es Gnade? Paulus sagte: „Denn aus Gnade seid ihr gerettet worden durch den Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus den Werken, auf das sich nicht jemand rühme." (34) Christliche Fundamentalisten benützen diese Stelle oft als Argument gegen Selbstbemühung aller Art und gegen die Übungen des Yoga im besonderen. Aber das Buch der Offenbarung statuiert: „Siehe, ich komme bald und mein Lohn mit mir, zu geben einem jeglichen, wie seine Werke sind." (35) Widersprechen diese Schriften einander? Ganz und gar nicht.

 

Paulus meinte nicht, dass Selbstanstrengung wertlos ist, sondern nur, dass Gott nicht mit sich handeln lässt. Mit anderen Worten: Äußerliche „Werke" in Gottes Namen - wie die Errichtung von Schulen und Spitälern - werden für sich allein nicht Seine Gunst erlangen. Liebe allein kann Ihn gewinnen. Denn Gleiches zieht Gleiches an, und Gott ist Liebe. Um diese inneren Bemühungen - Vertrauen zum Beispiel und Liebe - geht es, wären doch sonst die Schriften vergeblich geschrieben worden. Auf diese inneren „Werke" bezieht sich die Offenbarung in erster Linie (36).
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33) Markus 12:30. 34) Brief des Paulus an die Epheser 2:8, 9. 35) Offenbarung 22:12.

36) In der Neuen Englischen Bibel werden die Worte des Paulus, „Aus Gnade seid ihr gerettet worden durch den Glauben", folgendermaßen wiedergegeben: „Denn durch Seine Gnade seid ihr gerettet worden, indem ihr Ihm vertraut habt." Diese Worte, indem ihr Ihm vertraut habt, streichen heraus, dass die richtige Art von Selbst-Bemühung vonnöten ist. Denn Vertrauen schließt ein aktives Geben ein und nicht bloß passives Annehmen.

Die erste Grundvoraussetzung, um Liebe für Gott zu entwickeln, ist, dass keine anderen Verlangen ihren freien Fluss hindern. Es ist daher unser erstes geistiges „Werk", jegliche Sehnsucht, die mit unserer Hingabe konkurriert, aufzugeben. Wir brauchen diese Verlangen nicht so sehr zu zerstören, als ihre Energien Gottwärts zurückzuleiten.

Dieser Arbeit der Liebe dienen die Yogatechniken am effektvollsten. Es braucht wohl kaum hinzugefügt werden, dass falsche Begierden niemals durch Techniken allein transmutiert werden können. Aber ebenso, wie Lauftechniken für diejenigen nützlich sind, die gute Läufer sein wollen, können die Yogatechniken devotees helfen, ihre physischen Energien zu kontrollieren und sie zu Gott heimwärts zu richten. Yogapraxis für sich allein wird uns Gott nicht bringen, Kann uns aber in unseren Bemühungen, uns Ihm zu schenken, sehr helfen. Die Wissenschaft des Yoga hilft uns, mit anderen Worten, mit der göttlichen Gnade zu Kooperieren.

Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Devotees wollen natürlich Gott lieben. Viele haben jedoch keine klare Vorstellung, wie sie dies in Angriff nehmen sollen. Ihre Anstrengungen sind häufig rein zerebraler Natur und enden in Frustrationen. Aber Jesus deutete auf eine Technik hin, als er sagte: „Gesegnet sind, die reinen Herzens sind." Denn wie jeder tief Geliebte weiß, wird Liebe im Herzen gefühlt - nicht wortwörtlich im physischen Herzen, sondern im Herzzentrum, oder dem spinalen Nervplexus, geradewegs hinter dem Herzen. Christliche Heilige haben wieder und wieder „die Liebe im Herzen" betont. Und Yogis behaupten, dass Liebe leichter entwickelt werden kann, wenn man, statt nur an Liebe zu denken, den Gedanken der Liebe vom Herzzentrum aufwärts durch die Wirbelsäule zum Gehirn lenkt.

 

Auf solche Weise verhilft der wissenschaftliche Yoga durch die praktische Anwendung der den menschlichen Körper samt seinem Nervensystem regierenden Gesetze dazu, für den Fluss der göttlichen Gnade aufnahmefähiger zu werden, ebenso wie technische Fertigkeit am Klavier einen ununterbrochenen Inspirationsfluss ermöglicht. Nach Paulus erlangt man göttliche Vereinigung nicht durch das Bemühen, äußerlich Gott zu „gefallen", sondern durch jenes, sich selbst für Seine Liebe voll aufnahmefähig zu machen. Diese Liebe will sich aus ihrer ureigensten Natur heraus selbst vermitteln.

Ein anderes Beispiel: Devotees, die nach innerer Vereinigung mit Gott streben, finden ihre Bemühungen oft durch rastlose Gedanken zunichte gemacht. Yogis fanden vor langer Zeit eine Technik, um dieses Hindernis zu beseitigen. Nach ihren Entdeckungen ist der Atem innig mit dem mentalen Prozess verbunden. Ein rastloser Verstand geht mit einem ebensolchen Atem einher. Durch einfache, effektvolle Techniken zur Beruhigung der Atmung lernten sie, den Verstand für die göttliche Kontemplation freizumachen.

Das Ego ist ein Strudel des Bewusstseins, der sich durch seine eigene zentripetale Kraft vom Ozean des Gewahrseins separiert. Die Selbstbewusstheit fließt nach außen, um die Unendlichkeit zu erfassen, sobald dieser Wirbel einmal aufgelöst ist. Genauer gesagt lässt jedoch egoistisches Bewusstsein unzählige Millionen nebeneinander laufender Strudel von Neigungen und Abneigungen aufkommen, welche in Begierden münden, die ihrerseits wieder zu egoistischen Handlungen führen. Jede dieser Verwicklungen zieht Energie an sich und bestärkt daher kräftigend das Ego, von dem es die Energie bezieht. Ein Verlangen kann wie ein Same über Inkarnationen im Unterbewusstsein schlummern, bis er durch eine Aktion erfüllt oder durch Weisheit zerstreut worden ist. Je größer die Neigung zum Mentalen, desto größer auch die Verhaftung des Ego. Die Energiemengen, die an diese Myriaden von Verhaftungen abgezweigt werden, sind unkalkulierbar groß. Paramhansa Yogananda pflegte uns darzulegen: „Es gibt genug latente Energie in einem Gramm deines Gewebes, um die Stadt Chikago für eine Woche mit elektrischem Strom zu versorgen. Dennoch siehst du dich selbst einigen kleinen Schwierigkeiten machtlos gegenüber!"

Der Grund, warum wir so wenig von dem erreichbaren Energiepotential verwerten können, liegt darin, dass das meiste von dem, was wir aus dem umliegenden Universum an uns ziehen, bereits „beansprucht" ist; es wird von den zahllosen kleinen Strudeln früherer egoistischer Bindungen aufgesaugt.

Um die enormen Energiemengen, die uns zugänglich sind, richtig gebrauchen zu lernen, müssen wir verstehen, wie die Energie im Körper funktioniert. Ihr Hauptkanal ist das Rückenmark. Dieses hat wie ein Stabmagnet seinen Nordpol im spirituellen Auge und seinen Südpol an der Basis, in der Coccyx. In einem Stabmagneten sind alle Moleküle, deren jedes für sich eine eigene Nord-Süd-Polarität hat, in die gleiche Richtung gedreht. In einem nicht magnetisierten Stab sind sie, trotz gleicher Polarisation, individuell verschieden ausgerichtet und schalten einander wechselseitig aus. Ein gewöhnlicher Mensch mag in ähnlicher Weise der dynamischen Kraft, die man mit humaner Größe verbindet, entbehren; nicht deshalb, weil er weniger Energie als das überwältigendste Genie hätte, sondern nur, weil ihn die „Moleküle" seiner unterbewussten Begierden und Impulse in verschiedene Richtungen ziehen und einander ausschalten.

Ein Stabmagnet wird nicht durch die Einführung irgend eines neuen Elementes, sondern einfach durch die Gleichrichtung seiner Moleküle magnetisiert. Der menschliche Magnetismus resultiert in ähnlicher Weise aus einer gleichlaufenden Ausrichtung der „Moleküle" widerstreitender Sehnsüchte. Wenn man sie einförmig auf jegliches Ziel richtet, kann man für beschränkte Zeit beschränkte Macht erlangen. Viele moderne Psychiater haben den Leuten in Kenntnis dieser Tatsache empfohlen, Erfüllung duck äußeres Ablassen unterbewusster Repressionen zu suchen. Aber die tieferliegenden Realitäten der menschlichen Natur wie auch die Tatsache, dass gerade die Konstruktionsweise unseres Körpers diese Wirklichkeiten reflektiert, machen es uns unmöglich, alle unsere Moleküle in die gleiche Richtung zu bringen, ehe wir sie der Nord-Süd-Richtung des Rückgrates anpassen. Anders ausgedrückt: Alle unsere Sehnsüchte und Aspirationen müssen nach oben zum geistigen Auge fließen, dem „Torgang" zur Unendlichkeit. Zu- und Abneigungen und die daraus resultierenden Begierden und Aversionen sind die Grundursache sterblicher Gebundenheit. Die progressiven Stufen der Verwicklung mit der maya können durch die Basisfunktionen des menschlichen Bewusstseins hindurch verfolgt werden: mon, buddhi, ahankara und chitta: individueller Geist, Intellekt, Ego und Gefühl. Paramhansa Yogananda verglich diese Basisfunktionen mit einem Pferd, das durch einen Spiegel reflektiert gesehen wird. Der Spiegel ist der Geist (mon), der das Bildnis ebenso wiedergibt, wie es durch die Sinne erscheint, ohne es in irgend einer Weise zu definieren oder zu qualifizieren. Buddhi (Intellekt) beschreibt dann, was es sieht und informiert uns: „Das ist ein Pferd." Ahankara (Ego) geht den nächsten Schritt und sagt: „Das ist mein

Pferd." Bis zu diesem Punkt sind wir noch nicht wirklich durch den Gedanken des Besitzes gebunden; die Identifikation bleibt trotz der persönlichen Färbung mehr oder weniger abstrakt. Aber dann kommt chitta (Gefühl) und sagt: „Wie glücklich bin ich, mein Pferd zu sehen!" Chitta ist unser emotionaler, reaktiver Prozess, betrifft unsere Zu- und Abneigungen, und ist, wie ich sagte, die wahre Quelle all unserer Illusionen. Daher definierte Patanjali Yoga selbst als „die Neutralisation der vortices (vrittis) der chitta."

Die meisten Anstrengungen für die Selbsttransformation enthalten ein mühsames Bestreben, eine endlose Reihe individueller Fehler zu korrigieren - eine Tendenz zur Intrige, Abhängigkeit von Süßigkeiten, körperliche Faulheit usw. Natürlich muss der Suchende die Schlachten schlagen, wie sie sich ihm präsentieren, doch das Ansinnen, den ganzen Krieg in dieser „Stück für Stück"-Vorgangsweise gewinnen zu wollen, gliche dem Versuch, jedes Molekül eines Eisenstabes einzeln auszurichten. Rein psychologische Bemühung um Selbstverwandlung ist wie ein Fass ohne Boden. (Selbst die erfolgte Ausrichtung einiger „Einzelmoleküle" ist keine Garantie, dass sie sich nicht wieder in die alte Richtung drehen, wenn man dazu übergeht, die anderen zu bearbeiten.)

Spirituelles Erwachen findet statt, wenn jemandes gesamte Energie aufwärts zum geistigen Auge gerichtet ist. Daher der Ausspruch Jesu: „Du sollst den Herrn deinen Gott mit all deiner Kraft lieben." Und das heißt: „mit all deiner Energie".

Dieser Aufwärtsstrom ist bei den meisten Leuten - wie gesagt - durch zahllose Strudeln der chitta behindert, die, einmal im Herzen geformt, entlang des Rückenmarks entsprechend der vorausgedachten Ebene ihrer Erfüllung zur Verteilung gelangen - je niedriger die Ebene, desto materialistischer das Verlangen; je höher die Ebene, desto spiritueller. Diese Wirbel, oder vrittis, können mittels eines Energiestromes durch den astralen Rückenmarkskanal aufgelöst werden, wenn er stark genug ist, ihre zentripetale Kraft zu neutralisieren. Zahlreiche Yogatechniken zielen hauptsächlich auf die Erweckung dieses Energieflusses ab.

Nach Paramhansa Yogananda und seiner Linie von gurus ist kriya-Yoga die effektvollste von allen Techniken, weil er in seiner Anwendung am zentralsten und direktesten wirkt. Diese war, so sagt man, die Technik, die in Urzeiten von Bhagawan Krishna Arjuna gelehrt worden war. Und Krishna erklärt in der Bhagavad Gita, er habe sie der Menschheit in einer weit früheren Inkarnation gegeben als in jener, da er sie Arjuna vermittelte. Von allen Techniken des Yoga ist kriya mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die älteste.

Kriya-Yoga leitet Energie längsgerichtet um das Rückenmark, wobei er schrittweise die vrittis der chitta neutralisiert. Gleichzeitig kräftigt er die Nerven im Rückenmark und Gehirn, um kosmische Ströme der Energie und des Bewusstseins aufzunehmen. Yogananda stellte fest, dass kriya die höchst yogische Wissenschaft ist. Daneben müssen andere Yogatechniken, welche sich mit der Besänftigung des Atems, der Konzentrierung des Verstandes etc. beschäftigen, als untergeordnet klassifiziert werden - wenn auch für sich selbst wichtig (Yogananda lehrte eine Reihe von ihnen).

Meister sagte oft, dass kriya-Yoga auf jeglichem Pfad stärkt - sei es jener der Hingabe, der Diskrimination oder des Dienstes am Nächsten, einerlei, ob einer seinem Temperament oder der Erziehung nach zu Hinduismus, Christentum, Islam oder Judaismus neigt.

„Ich wurde von Christus und den großen Meistern von Indien nicht in den Westen geschickt", sagte Yogananda des öfteren seinen Zuhörern, „um euch mit einer neuen Theologie zu dogmatisieren. Jesus selbst ersuchte Babaji, jemanden hierher zusenden, um die Wissenschaft des kriya-Yoga zu lehren, damit die Leute direkte Vereinigung mit Gott lernen können. Ich möchte euch helfen, Ihn durch eure tägliche kriya-Yoga-Praxis wirklich zu erfahren."

Er fügte hinzu: „Die Zeit, Gott zu erkennen, ist gekommen!"

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Aus: "The Path" von Swami Kriyananda, direkter
Jünger Paramahansa Yoganandas


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