Heilige und Satgurus


Ramana Maharshi Foto
Zu den grossen Gestalten des spirituellen Lebens in diesem Jahrhundert gehört Sri Ramana Maharshi (1879-1950) aus Tiruvannamalai in Südindien, ein Heiliger mit aussergewöhnlicher Ausstrahlung.
Bereits als Sechzehnjähriger wurde er einer mystischen Todeserfahrung teilhaftig. Dieser in voller Bewusstheit durchlebte mystische Tod wurde für ihn zum Durchgangstor und zur Geburt des Selbst, dessen er fortan immer gewahr blieb. 

Venkataraman - so der eigentliche Name des Maharshi- wurde am 30. Dezember 1879 in Tiruchuli, einem Dorf in der Nähe von Madurai, geboren. Sein Vater hatte sich vom einfachen Dorfschreiber zum angesehenen Rechtsbeistand emporgearbeitet. Er starb, als Venkataraman zwölf Jahre alt war. Ein Onkel nahm ihn und den älteren Bruder in sein Haus in Madurai auf. Dort besuchte er die amerikanische Missions-Oberschule. Er brachte den Studien wenig Anteil nahme entgegen, doch verhalfen ihm seine Intelligenz und sein gutes Gedächtnis dazu, den Anforderungen ohne allzugrosse Bemühungen gerecht zu werden. Zu dieser Zeit war eine besondere spirituelle Begabung des Brahmanenjungen noch nicht zu erkennen. 

Ein Ereignis jedoch kann als Vorbote des späteren Geschehens betrachtet werden. Im Gespräch mit dem Jungen erwähnte ein Verwandter den Namen Arunachala. Dieser Berg am Rande Tiruvannamalais und der zu seinen Füssen gelegene grosse Tempel gehören zu den bedeutendsten Siva-Heiligtümern Südindiens. Venkataraman hatte den Namen schon oft gehört, aber dieses Mal schlug seine Nennung in ihm eine verwandte Saite an. Doch der Ton verklang wieder, und der Alltag nahm seinen Fortgang. 

Einige Monate danach vollzog sich, ohne dass eine bewusste Vorbereitung erfolgt wäre, die grosse Wandlung seines Lebens. Venkataraman sass allein, gesund wie immer, über seinen Schularbeiten. Da ergriff ihn plötzlich und eindeutig eine tiefe Todesangst. Er fühlte, dass er nun sterben müsse. Nach innen gewandt sagte er zu sich: "Jetzt sterbe ich also. Was bedeutet das? Was stirbt überhaupt? - Dieser Körper stirbt." Nun ahmte er eine Sterbeszene nach. Er legte sich auf den Boden machte sich steif wie ein Leichnam, schloss die Augen und hielt den Atem an. "Dieser Leib ist also tot. Man wird ihn verbrennen. Aber wenn er tot ist, bin Ich dann auch tot? Ist der Körper dieses Ich? - Nein Ich ist etwas anderes. Ich bin losgelöst vom Körper. Also bin Ich nicht der Körper, sondern etwas, was der Tod nicht berühren kann." 

All das war keine blosse Vorstellung, kein intellektueller Vorgang; Venkataraman machte die Erfahrung des reinen 'Ich bin', ohne zu denken und zu folgern. Nun war ihm bewusst geworden, dass das Ich und das universale, unsterbliche Selbst eins sind. Er hatte zur Selbst verwirklichung, zum Zustand reinen und ununterbrochenen Seins bewusstseins (sahaja samadi), gefunden. 

Die Folgen dieser Wandlung machten sich auch im äusseren Verhalten bemerkbar. Er nahm kaum noch Anteil an dem, was sich um ihn herum abspielte. Die Arbeit ging automatisch vonstatten, und im Umgang mit anderen entwickelte er eine vorher nicht in Erscheinung getretene Sanftmut. 

Die äussere Wende trat sechs Wochen später ein. Venkataraman war zu Hause mit einer Schularbeit beschäftigt. Bevor er sie beendet hatte, nahm er Meditationshaltung ein und versank in innere Betrachtung. Sein älterer Bruder, der das beobachtete, tadelte, dass er sich wie ein Yogi benähme, obwohl er doch in der Familie lebe und das Vorrecht geniesse, eine höhere Schule zu besuchen. Diese Kritik hatte der Jüngere schon oft gehört, aber diesmal fand sie Widerhall, und er fühlte, dass er fortmüsse - zum Arunachala. 

Auf einem zurückgelassenen Zettel bat Venkataraman, man solle sich keine Sorgen um ihn machen und ihm nicht nachforschen. Mit der Bahn, und, weil er sich nicht auskannte, zum Teil auch zu Fuss, legte er die Strecke nach Tiruvannamalai zurück. Am 1. September 1896 lag der Arunachala im Morgenlicht vor ihm. Er hatte - nun auch in der äusseren Welt - heimgefunden. 

Sein erster Gang führte ihn in den Arunachala-Tempel. Danach liess er sich den Kopf scheren und entledigte sich der letzten Rupien, der Brahmanenschnur und seiner Kleider, von denen er nur ein Lenden tuch behielt. Um den Nachstellungen frecher Gassenjungen zu entge hen, zog er sich in einen im Tempelbezirk gelegenen fensterlosen Keller zurück. Dort setzte dem ganz in sein Selbst Versunkenen allerhand Ungeziefer aufs schwerste zu. Schliesslich brachten zwei sadhus Venkataraman, dessen Körper vollkommen verwahrlost war, an einen anderen Ort. Er lebte dann an verschiedenen Plätzen in der Nähe des Tempels, später in Höhlen des Berges. 

Der junge Venkataraman erregte bald Aufsehen. Zuerst waren es nur wenige sadhus und Pilger, die ihn aufsuchten, doch bald wuchs die Zahl derer, die von der friedvollen Aura, die ihn umgab, angezogen wurden. Viele besuchten ihn regelmässig, einige blieben für längere Zeit oder auch für immer bei ihm.

Nach und nach fand Venkataraman zu einem äusserlich normalen Leben zurück. Die religiöse Überlieferung seines Landes war ihm bisher fast ganz unbekannt geblieben. Als man ihm jetzt Stellen aus den heiligen Schriften vorlegte, um sie von ihm deuten zu lassen, erkannte er, dass hier zergliedert und beim Namen genannt wurde, was er erfahren hatte. Diese seit Jahrtausenden verwendeten Begriffe und Bilder fanden Eingang in seinen Wortschatz. Einige seiner Gespräche mit Wissensdurstigen wurden - zum Teil auch in westlichen Ländern - veröffentlicht und erlangten Berühmtheit. Ein nam hafter Gelehrter, der lange bei ihm weilte, hätte ihm mittlerweile den Namen gegeben, unter dem er bekannt werden sollte: Bhagavan Ramana Maharshi. 

Im Jahre 1916 zog seine Mutter zu ihm in die höhlenartige Behausung am Berg, die er damals bewohnte. Sie kochte fortan für ihn und die Gruppe von Schülern, die sich um ihn geschart hatten. Doch musste sie jetzt die gewohnte Mutterrolle aufgeben. Sie war Schülerin ihres Sohnes, der sie den harten Weg zur spirituellen Vollkommenheit führte. In ihrer letzten Stunde hat sie diese mit seiner Hilfe erreicht; er war während ihrer Krankheit nicht von ihrer Seite gewichen. 

Der Maharshi besuchte fast täglich das Grab seiner Mutter am Fuss des Arunachala. Mit der Zeit entstand dort ein Ashram, der fortan seinen Namen tragen sollte. Eines der Gebäude, die man im Laufe der nächsten Jahre errichtete, war die Halle. Hier verbrachte Bhagavan die meiste Zeit. Vor ihm sassen die Besucher. Nicht alle stellten Fragen; denn der Meister lehrte in hohem Masse durch Schweigen. Redete er aber, dann war seine Sprache anschaulich und bildhaft, überdies mit Humor durchsetzt. Wenn er lachte, wie es oft geschah, wirkte das ansteckend selbst auf jene, die seine Sprache nicht verstanden.

Der Tagesablauf im Ashram war genau geregelt. Alles musste sauber und wohlgeordnet sein. Nichts durfte verschwendet werden. Bha gavan befleissigte sich einer äusserst einfachen Lebensweise und stellte keinerlei Ansprüche. Dabei war er jederzeit für jedermann zugäng lich. Alle wurden von ihm gleich behandelt. Auch mit Tieren aller Art war er gut Freund; er ging mit ihnen genauso fürsorglich, gütig und liebevoll um wie mit den Menschen. 

Gegen Ende des Jahres 1948 trat an Bhagavans linkem Arm eine Geschwulst auf, die sich einige Monate später als bösartig erwies. Therapien verschiedener Art, wozu auch operative Eingriffe gehör ten, wurden von ihm nicht gewünscht, aber den vielen um seine Gesundheit Bangenden zuliebe doch geduldet. Auch als Schwerkran ker hielt der Maharshi so lange wie möglich am gewohnten Tages verlauf fest. Trotz zunehmender Schmerzen - er lehnte es ab, schmerzlindernde Mittel zu nehmen - und offenkundigem körper lichen Verfall bestand er bis zuletzt darauf, dass alle Besucher ihn zu sehen bekämen. Am 14. April 1950 war die Stunde gekommen, wo er seiner sterblichen Hülle entglitt. Doch war es kein Weggehen; denn so hatte er seinen Schülern versichert: "Man sagt, ich würde sterben. Aber ich gehe nicht fort. Wohin sollte ich gehen? Ich bin hier."

Die Aufzeichnungen, die später als 'Gespräche mit Sri Ramana Maharshi' veröffentlicht wurden, entstanden in der Zeit von 1935 bis 1939. Sie sind von einem alten Schüler Bhagavans entweder an Ort und Stelle gemacht oder noch am gleichen Tag aus der Erinnerung niedergeschrieben worden. Es handelt sich meistens um Zusammen fassungen dessen, was gesagt worden war. Ein wörtliches Mitschrei ben war dem Chronisten, der bei den Gesprächen auch als Dolmet scher fungierte, nicht möglich. So ist die Sprache der 'Gespräche mit Sri Ramana Maharshi' die des Schreibers. Doch sind die gesamten Niederschriften dem Meister vorgelegt worden; alles, was veröffentlicht wurde, hatte seine Billigung gefunden. 

Aus Bhagavans Mund vernehmen wir die uralte Botschaft Indiens hier aus eigener Erfahrung auf anschauliche Weise den Menschen von heute übermittelt. Es handelt sich aber nicht um allgemein erteilte Lehren. Bhagavan ging stets auf den Fragenden ein, gleichgültig, ob es sich um ein intellektbefangenes Weltkind oder einen schon lange auf dem Weg befindlichen Gottsucher handelte. Und doch betreffen seine Erklärungen alle; denn auf dem spirituellen Pfad treten immer die gleichen Schwierigkeiten auf, und sie müssen stets mit denselben Mitteln beseitigt werden. 

Aus: Ramana Maharshi
"Gespräche des Weisen vom Berge Arunchala"


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