„Du
hast mir ja einmal von den Lipikas, den Meistern des Karmas
erzählt, die für Schicksalsgerechtigkeit sorgen, an die
müssen wir uns wenden und den Fall vortragen“, empörte sich
Elbrich.
Sodashi lächelte,
„ich gehöre auch zu den Lipikas“, sprach sie und sah dem
verblüfften Elbrich ins Gesicht.
Es verschlug ihm
die Sprache. In seinen Augen waren Lipikas die obersten
Regenten, die sich um Gerechtigkeit und förderliche
Schicksalsentwicklung bemühten. Sie gehörten den obersten
Ebenen an und kaum jemand bekam sie je zu Gesicht. Und zu
ihnen gehörte Sodashi?
Sodashi las seine
Gedanken und lächelte. „Es stimmt, die Entscheidungsträger
sind entwickelte und erleuchtete Wesen. Auch da gibt es noch
Abstufungen und Vertreter aus den verschiedensten Bereichen.
Die Lipikas
sorgen für Gerechtigkeit. Das aber beinhaltet, dass sie die
Forderungen und Ansprüche einer jeden Seite berücksichtigen.
Es gibt Regeln – sie achten darauf, dass diese eingehalten
werden, ebenso, wie sie selber daran gebunden sind. Dies
ermöglicht ein Zusammenspiel der dunklen und der hellen
Seite der Schöpfung. Die Einteilung in eine „dunkle und
helle Seite“ ist eine flache Vereinfachung der Situation,
entschuldige, dass ich bisweilen solch simple
Vereinfachungen verwende. Simplifizierungen erleichtern das
Verständnis und das zählt oft.
Die Lipikas sind
jenseits von dem, was wir gut und böse nennen. Aber bleiben
wir einstweilen bei unserer polaren Denkweise. Das Dunkle
und Helle ergibt durch das Wirken der Lipikas ein
Zusammenspiel wie bei einem Schwarz-Weiß Film – bei diesem
gibt es nur durch beides, Licht und Schatten, eine Handlung
auf der Leinwand zu sehen. Ebenso ist es in der Schöpfung.
Ein Bekämpfen und Zerstören innerhalb der Schöpfung wird
durch das Wirken der Lipikas in Grenzen gehalten und so
gelenkt, dass Wachstum und Entwicklung möglich sind. Dies
wollen ja letztlich alle, nur sind sie sich nicht in der
Richtung einig.“
Elbrich ereiferte
sich: „Ich gehöre nicht zu den Lipikas und unterliege nicht
ihren Gesetzen des Gleichgewichtes. Also ist es mir erlaubt
alles daran zu setzen, um diese Zukunft von Carla zu
verhindern“.
„Ja, das ist dir
erlaubt. Unter den Lipikas gibt es auch Angehörige, welche
die Interessen der dunklen Seite vertreten. Sie sind
keineswegs böse oder destruktiv, wie man meinen könnte. Es
wäre eher angemessen, sie als kosmische Staatsanwälte oder
Vollzugsrichter zu bezeichnen. Was das Schicksal von Carla
anbelangt, sind im Augenblick sie am Zug.“
„Woher weiß man,
wann wer ‚am Zug’ ist?“ Elbrich wurde die Situation immer
rätselhafter.
„Vorher waren die
Yogis am Zug. Dadurch war es möglich, dass ich Carla den
Maha Yoga beibrachte, sie die kosmische Einheit und Allliebe
erkennen konnte und ihrem Leben ein spirituelles Ziel vor
Augen geführt wurde. Es ist so: der Mensch kann nicht
einfach unbegrenzt gefördert werden. Von Zeit zu Zeit muss
er sich auch beweisen. Auch muss er Altes aufarbeiten und
der neuen Situation anpassen. Er muss mittels Entscheidungen
und Verzicht beweisen, welchen Stellenwert er der
spirituellen Entwicklung beimisst. Hierbei ist die andere
Seite am Zug. Sie darf prüfen!“
„Wenn du der
Ansicht bist, dass eine Prüfung zu verfrüht oder
unangemessen ist, kannst du dich ja an die Lipikas wenden.
Hier gebe ich dir eine Tafel, in welcher ein astraler
fingerprint von Carla enthalten ist. Das ist notwendig. Nach
einem weltlichen Namen kann ein Lipika schwer jemanden
ausfindig machen. Ein fingerprint jedoch ist eine Kennung,
die eine astrale Verbindung zu Carla ermöglicht – damit ist
es für sie eine Leichtigkeit Carla anzupeilen. Die momentan
zuständigen Lipikas findest Du in der Halle hinter dem Turm,
der wie ein Ritter aussieht. Du bist ja damals solch einem
Lipika begegnet.“ Damit reichte sie Elbrich eine gelbe
Tafel, und sah ihn interessiert an, in Erwartung der
Entscheidung, die er treffen würde.
Elbrich zögerte
nicht und erhob sich aus dem Stuhl, um sich auf den Weg zu
machen.
„Einen Augenblick
noch“, rief Sodashi, „du kannst diese Wesen nicht so einfach
ansprechen. Sie kommunizieren nur telepathisch. Ich hoffe du
schaffst das!“
„Ich habe doch
Telepathie bei dir geübt und mit Carla verständigen wir uns
fast ausschließlich telepathisch.“
„Das ist eine
andere Art von Telepathie“, ergänzte Sodashi. „So wie es
einfache Worte gibt und ‚Worte der Kraft’, Mantras, wie es
die Inder nennen, so können auch Gedanken von
unterschiedlicher Qualität sein. Hinter jedem Gedanken steht
eine Persönlichkeit und die Kraft dieser Persönlichkeit.
Sei vorsichtig.
Bloße Telepathie genügt hier nicht. Aus reiner Gewohnheit
schon werden sie versuchen, dich auszuloten bis in deine
geheimsten Winkel. Du musst deshalb in absolute
Gedankenstille eintauchen, nichts darf sich in dir regen,
auch nicht die kleinste Emotion. Bilde beim Kommunizieren
keine Vorstellung, die du ihm nicht klar und bewusst
entgegen sendest. Er wird in dein Bewusstsein eintauchen
wollen. Umgib dich mit einer Mauer aus Willensstärke und
steinerner innerer Reglosigkeit. Sonst kannst du in arge
Schwierigkeiten kommen.“
Nun doch etwas
bedächtiger als ursprünglich vorgehabt, begab sich Elbrich
auf den Weg. Er stieg den felsigen Hang hinunter, öffnete
das schmiedeeiserne Gartentor und ging zum Zentrum der
Stadt, das sich langgestreckt auf dem felsigen Kamm
erstreckte. Bald stand er vor dem Turm im Aussehen eines
steinernen Ritters. Er öffnete das Tor und betrat die leere
Halle. Das kühle Dämmerlicht der Halle erschien ihm jetzt
von anderer Aussage als damals und gemahnte zur Vorsicht.
Elbrich schritt
entlang der Arkaden, die von den steinernen Figuren getragen
wurden und deren Nischen sich im Dämmerlicht verloren. Aus
dem Schatten trat eine mächtige Gestalt hervor, gut zwei
Köpfe größer als Elbrich. In bodenlangem schwarz-weißen
Umhang gekleidet, trug sie auf dem Kopf seitlich ausladende,
in sich gedrehte Widderhörner. Elbrich fasste sich in Ruhe
und versuchte, die Ausstrahlung dieses Wesens auszuloten.
Nichts Diabolisches haftete ihr an. Eher war es eine
erhabene, nicht-irdische Erscheinung, jenseits des
menschlichen Auf und Ab der Gefühle. Langsam dämmerte
Elbrich, dass die Erscheinung Bezug haben könnte zu Chnum,
jenem altägyptischen Gott, der den Leib des Menschen auf der
Töpferscheibe formt. Der des Menschen Seele in diesen
irdischen Leib bindet und solcherart den Wogen des
Schicksals unterwirft. Weder dunkel noch hell war dieser
Lipika und dies zeigte er durch helle und dunkle Streifen
auf seinem Umhang.
Die Erscheinung
des Lipikas stand vor ihm, schweigend, und wieder versuchte
ihr Blick wie Röntgenstrahlen tief in Elbrich einzudringen.
„Wer bist du, dass du es wagst... „, Er sprach keine Worte
sondern Elbrich fühlte die Frage in sich. Sollte ihn die
Frage aus dem Gleichgewicht bringen, Emotionen aufwühlen?
Ausloten, ob er stark oder ängstlich wäre? Es war keine
Bedrohung zu fühlen, sondern nur ein Lauschen auf seine
Reaktionen. Elbrich verblieb in innerer Stille, zeigte keine
Regung, weder Angst noch gekränkte Eitelkeit, er blieb in
seinem inneren Gleichgewicht. Nunmehr fühlte er eine höhere
Akzeptanz durch jenes Wesen.
„Was willst du“,
war das nächste was er fühlte; es war wie ein Bohren nach
Wünschen, Sehnen, Hass, Rache oder sonstigen Empfindungen.
Auch hier blieb Elbrich innerlich unbewegt. In Gegenwart
dieser Macht erhob sich der innere Wille Elbrichs im
Aufgebot aller Kräfte zu selten erlebter Stärke, zum eigenen
Schutz dem fremden Willen trotzend.
„Das Schicksal
einer mir nahestehenden Person hat sich durch den gezielten
Einfluss missgünstiger Wesen in eine Richtung entwickelt,
die sie einer jeden Hoffnung auf Weiterentwicklung beraubt.
Sie verliert ihre große Chance, ein höheres Ziel im Leben zu
erreichen. Ich übergebe dir mit dieser Tafel ihre aurische
Kennung.“ Damit überreichte Elbrich dem Lipika die gelbe
Tafel.
War es Erstaunen,
das Elbrich wahrnahm? Er war nicht sicher, zu wenig gab
dieses Wesen von sich zu erkennen. Wortlos wurde die Tafel
angenommen, in reglosem Schweigen blieb das mächtige Wesen
stehen. Weder sah man es auf die Tafel blicken, noch sah man
auf seinem Antlitz Konzentration oder Versenkung. Der Lipika
stand lediglich still, sein Blick allerdings weniger bohrend
als zuvor. Einige Augenblicke später blickte er Elbrich
wieder bewusster an und sprach: „Sie hat ohne Zögern das
angenommen, was ihr geboten wurde. Hinter den Argumenten von
Edelmut und Aufopferung für die Mitmenschen steckt in ihr
unbewusst der Wunsch nach Selbstbestätigung durch eine
einflussreiche Karriere. Eitelkeit und Streben nach Achtung
und Anerkennung sind stärker als der Wunsch zu helfen. Ich
werde nicht einschreiten, noch sonst eine Änderung
bewirken.“ Damit wendete er sich von Elbrich ab und
verschwand im Schatten hinter den Arkaden.
Elbrich war sehr
niedergeschlagen, als er zu Sodashi zurückkehrte. Sodashi
ihrerseits war keineswegs überrascht. Sie war nur sehr
nachdenklich. (S. 109ff)