Siehst Du die Eiche dort im Wald, die alle anderen
Bäume überragt? Sie weiß von der Existenz des Himmels und des Lichtes, kennt
den Wald und die Menschen und Tiere um sie her und nimmt alles wahr.
Kommt ein Vogel und fragt: “Wer bist Du?“, da antwortet sie: „Ich bin ein
Baum!“
Aber auch jedes Blatt und jede Eichel hat das Bewusstsein des Baumes. Kommt ein
Schmetterling geflogen, setzt sich auf eine Eichel und fragt: „Wer bist Du?“,
dann antwortet die Eichel: „Ich bin ein Baum!“, und nicht etwa, wie Du denken
magst, „Ich bin eine Eichel!“
Es ist Sommer und die Eicheln wiegen sich im Winde. Sie sind glücklich und
träumen den Traum des Sommers. Doch schon werden die Blätter gelb und der Baum
zieht sein Bewusstsein unmerklich nach innen, denn er folgt den Zyklen der
Natur, die bereits den Traum des Herbstes träumt. Auch der Baum beginnt den
Traum des Herbstes zu träumen und den des Winters. Bald verliert er seine
ersten Blätter.
Die Eicheln nehmen alles wahr und wiegen sich im Winde.
Eines Tages fegt ein Sturm durch den Wald. Er schüttelt die Eiche mit Macht und
fegt fast alle Eicheln herunter auf den Waldboden. Nur einige wenige Eicheln
halten sich noch am Baume.
Der Sturm hat auch Blätter vom Baum gefegt, die die Eicheln unter sich begraben.
Da liegen die Eicheln in der Finsternis und Nässe des Waldbodens. Der Schock
des Falles hat ihrem Bewusstsein einen Schlag versetzt, so dass augenblicklich
fast alle Erinnerung verloren ist.
Es ist aber niemals etwas ohne Bewusstsein. Es bleibt ihnen das Bewusstsein der
Eichel, und sie erkennen sich nicht mehr als Teile des Baumes, der sie sind,
sondern als einzelne getrennte Eicheln. Sie beginnen, sich Namen zu geben wie
Meinkorn, Einkorn, Feinkorn und so weiter, um sich voneinander zu unterscheiden.
Sie verbringen ihren Tag damit, über ihren Zustand zu klagen, aber tief in
ihrem Inneren haben sie eine sehnsüchtige Ahnung vom Himmel und vom Licht. So
klagen sie über die Dunkelheit und die Nässe und über die Ameisen, Würmer und
Schnecken um sie her. Die Eicheln der Vorjahre erzählen ihnen von den Gefahren
der Erde, dass sie dort langsam verfaulen, dass die Schnecken und Würmer sie
auffressen werden. Als Beweis zeigen sie ihnen viele verstümmelte Eicheln, die
schon fast verfault oder aufgefressen sind.
Es gibt aber einige ältere Eicheln, die sehr gelehrt sind und alle Phasen
studiert haben. Sie wissen, dass jede Eichel spätestens nach 10 bis 15 Jahren
verfault und gestorben ist, wenn sie nicht vorher aufgefressen wurde. Sie
wissen auch von den Jahreszeiten, dass im Frühling Bewegung in der Erde ist,
dass es im Sommer Regen gibt, dass es im Herbst kälter und dunkler wird und
dass im Winter der Boden so kalt wird, dass er wie ein Panzer die Eicheln
zusammendrückt und alle Hoffnung aus ihnen herauspresst.
Und dann gibt es jene Eicheln, die Nachrichten sammeln. Sie sind sehr angesehen
und ihnen entgeht keine Eichel, die verfault ist oder vernichtet wurde. Sie
berichten von Sensationen und Katastrophen, etwa wenn ein Wildschwein ganze
Kolonien von Eicheln verwüstet und diese aufgefressen hat.
Alle Eicheln hören dies mit geheimen Schrecken und jammern noch lauter über
ihren Zustand und sind sicher, dass es keine Hoffnung für sie geben kann. So
siechen sie dahin, in ihr Schicksal ergeben, entgegen dem sicheren Tode durch
Verfaulen oder gefressen werden.
Aber da ist noch eine kleine Eichel auf dem Baume, weil die Herbststürme sie
nicht herunterschütteln konnten. Auch sie weiß, dass sie bald vom Baume fallen
wird, wie ihre Brüder und Schwestern, aber sie will nicht unvorbereitet fallen
und will das Bewusstsein des Baumes bewahren und mitnehmen.
Eines Tages sieht sie ein Eichhörnchen die letzten Eicheln einsammeln. Gerade
will es auch die kleine Eichel vom Baume reißen, da ruft diese geschwind:
“Halt, Eichhörnchen, bevor du mich vom Baume nimmst, sage mir, warum du
dies tust!“ „Weil es Herbst ist“, antwortet das Eichhörnchen, „und danach kommt
der Winter, und erst dann kommt wieder der Frühling, der das Leben zurück
bringt und neue Eicheln auf dem Baume und neue Bäume aus den Eicheln der
Vorjahre wachsen lässt, die wieder Eicheln tragen!“ Ungläubig fragt die kleine
Eichel das Eichhörnchen: „Willst Du damit sagen, dass der große Baum in einer
kleinen Eichel war, bevor er Baum wurde?“ „Aber ja doch!“, antwortete das
Eichhörnchen, „das weiß doch jeder!“ „Aber wie ist das möglich?“, fragte die
kleine Eichel, „dass ein so großer Baum in einer so kleinen Eichel Platz hat?
Du willst mich sicher nur zum Narren halten!“
Da wurde das Eichhörnchen wütend: „Eichhörnchen lügen niemals!“, rief es, riss
die kleine Eichel vom Ast und schleuderte sie auf den Waldboden. „Da sieh doch
selbst, dass ich die Wahrheit gesagt habe!“, rief es ihr nach.
Die kleine Eichel landete unsanft neben den anderen Eicheln. Aber weil sie auf
den Fall vorbereitet war und über die erstaunlichen Worte des Eichhörnchens
nachdachte, während sie fiel, blieb ihr das Bewusstsein des Baumes und die
Erinnerung an die Worte des Eichhörnchens erhalten. Mit Entsetzen bemerkte sie,
dass ihre Brüder und Schwestern, die der Herbststurm auf den Boden geweht
hatte, sie nicht verstanden, als sie davon sprach, dass in ihnen ein großer
Baum schlummern würde.
So lebte die kleine Eichel abseits von den anderen und träumte den Traum des
Baumes. Sie dachte immer wieder über die Worte des Eichhörnchens nach, dass ein
riesiger Baum in einer so kleinen Eichel Platz finden konnte und zweifelte
nicht an dieser Wahrheit.
Die kleine Eichel beklagte ihr Schicksal nicht. Sie hörte nicht auf die
gelehrten und erfahrenen Bodeneicheln, denn sie wusste, dass diese nur die
bescheidene Wahrheit der Eicheln kannten und nicht die ganze Wahrheit des
Baumes. Diese Gewissheit erzeugte ein Strahlen, das sie umgab und immer klarer
und stärker wurde.
Einige Eicheln, die noch eine Ahnung von ihrem Baumwesen in sich trugen, wurden
angezogen von der großen Weisheit und Ausstrahlung der kleinen Eichel. Sie
hörten ihre Geschichte und fingen ebenfalls an darüber nachzudenken, wie es
möglich ist, eine Eichel und gleichzeitig ein großer Baum zu sein.
Während die kleine Eichel den Traum der Eichel träumte, die gleichzeitig ein
Baum ist, stülpte sich unmerklich ihr Innerstes nach außen und wuchs aus ihr
heraus.
Der Frühling kam, und eines Morgens durchbrach ihr Keim den Waldboden. Als sie
das Licht des Himmels spürte, erkannte sie das Geheimnis, denn nun wusste die
kleine Eichel mit absoluter Sicherheit: Ich bin der Baum, der in der
Eichel war!
Aber auch die Eicheln, die ihren Worten Glauben geschenkt hatten, stülpten bald
ihr Innerstes nach außen und erlangten das Bewusstsein des Baumes in seiner
ganzen Klarheit und mit der Fähigkeit, selbst Eicheln als ihre Kinder
hervorzubringen.
Die gelehrten Bodeneicheln aber stellten mit Verwunderung fest, dass einige
Eicheln aufgestiegen waren aus der Erde. Da sie sich den Vorgang nicht erklären
konnten, gaben sie ihm wenigstens einen Namen, wie es alle Gelehrten der Welt
tun, wenn sie ihre Unwissenheit verbergen wollen, und sie nannten es
„Super-Wurm“.
Sie sagten zu den anderen Eicheln: „Seht nur, wohin es führt, wenn eine Eichel
denkt, sie wäre ein Baum! Jetzt hat der Super-Wurm sie alle aus ihrem
Eichel-Gehäuse gezogen und getötet - welch schrecklicher Tod!“
Die Nachrichtensammler hatten eine neue Sensation und die Eicheln entsetzten
sich vor der Ungeheuerlichkeit des neuen Schreckens, dem sie ausgeliefert
waren. Sie beeilten sich, alle Gedanken an Bäume aufzugeben, und einige
leugneten sogar deren Existenz.
Die Eichen aber wuchsen zusehends im Sonnenlicht und
blühten und trugen reiche Frucht.
Parabel
von Konstantin Messmer