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Handlesen:
Die Kunst des Handlesens (*)
Mein Märchen- "Drei Federn"
Morella schrieb am 17. November 2005 um 22:55 Uhr (901x gelesen):
Bei diesem Märchen habe ich mich von den Zeichnungen der Crowley-Tarotkarten inspirieren lassen. Einfach mal lesen! ;-)
DREI FEDERN
Ein eisiger Winterwind wehte und ließ den zitternden Jungen frösteln. Den Kragen des löchrigen Mantels hoch gestellt, die Wangen rot, die Lippen blau, tappte das Kind durch die Winternacht. Die Sterne standen hoch und glitzernd am schwarzen Himmel. Der Junge sah auf.
„Orion.“, murmelte er. Früher hatte er alle Sternbilder gekannt, früher, als ihm sein Onkel Arek noch jede Samstagnacht auf dem Turm die Planetenkonstellationen erklärt hatte. Orion, der Himmelsjäger. Wie gerne wäre der Junge in den Himmel zu den prächtigen Sternen geflogen, doch der Himmel war weit und die Sterne kalt.
Das Licht des vollen Mondes leuchtete ihm den Weg, dessen Ziel er nicht kannte, nicht kennen wollte. Doch seinen Namen wusste der Junge, der da lautete: ein Platz zum Ausruhen. Mit einem weiteren Blick zum Himmel stellte der Junge fest, dass der Mond nicht ganz voll war, sondern schon wieder abnehmend.
„Der Mond will uns weismachen, er stünde in voller Blüte.“, hatte Merthe einmal gesagt, „In Wahrheit hat sein Sterben schon begonnen.“
Der falsche Mond.
„Bitte, führ mich richtig.“, hauchte er, sich dabei einen Esel scheltend, denn der Mond, so wusste der Junge, hatte seine Bitten noch nie erhört.
Der Junge stolperte auf der glatten Eisfläche und fiel beinahe hin, doch wusste er auch zugleich, dass nicht nur die Glätte des Weges für seine sich mehrenden Stürze verantwortlich war: er war müde, am Ende seiner Kräfte, er fror und musste dringend etwas essen.
„Zu Hause“, dachte er, doch die Erinnerung an die behagliche Wärme des Kamins und das Prasseln des Feuers in der Stube schenkten ihm diesmal keine Kraft, sondern trieben ihm beinah die Tränen in die Augen.
Schließlich beschloss er, auszuruhen, nur für eine Weile. Er ließ sich unter einem Baum am Straßenrand nieder, der schwarz und kahl in den Himmel ragte. Heute Nacht noch musste er einen Platz zum Schlafen finden, eine Scheune vielleicht oder auch nur einen Felsspalt, doch vorher musste er ausruhen.
„Nur eine Weile… eine Weile…“, redete er zu sich selbst, während sein Kopf ständig auf die Schulter zu fallen drohte.
„Nur einen Moment… die Augen schließen…“ Mit einem Mal war ihm gar nicht mehr kalt. Eine wohlige Wärme breitete sich in seinen Fingerspitzen und Zehen aus und durchflutete in Wellen seinen Körper, und er gab sich der Macht des Schlafs hin…
Eine schimmernde Gestalt stand vor ihm. Sie schien weiß zu sein, doch von ihrem Körper wurden Farben ausgestrahlt, und ein vibrierendes Summen lag in der Luft. Der Anblick war derart vielfältig und unfassbar, dass der Junge es kaum aushielt, sie anzublicken. Dort waren verschiedene Symbole und Schichten, in Farben, kristallklar oder weiß, aus reinem Licht… Im Innern glaubte er etwas zu erkennen, doch er sah nicht, was. Er hielt es schließlich nicht mehr aus und senkte den Blick.
„Warum wendest du dich ab, Gayrijn?“, fragte das Wesen mit hundert Stimmen: flüsternd, raschelnd, volltönend, schrill, laut und leise, heiser, weiblich und männlich zugleich.
„Was bist du?“, wollte der Junge mit zitternder Stimme wissen.
„Ich bin das Äon, die Zeit, das Göttliche, der Anfang und Ursprung, die Welt, das Gute in ihr.“
„Aber was willst du… von mir?“ Gayrijn schauerte.
„Dein Leben ändern.“
„Mein Leben? Du? Warum? Warum meins?“
Er war sich sicher, dass die Gestalt lächelte, als sie sagte: „Weil ich das Gute bin und dir Gutes tue. Komm mit mir. Ich biete dir äußerste Vollendung.“
„Vollendung?“ Gayrijn wusste nicht, was er denken sollte. Vollendung wessen, Vollendung von was, warum er?
„Was ist vollendet?“, fragte er.
„Der Kreis.“, antwortete das Wesen.
„Das verstehe ich nicht.“
„Komm mit und lerne, zu verstehen.“, sprach die Lichtgestalt.
„Nein.“, sagte Gayrijn, „Ich kann nicht.“ Was hielt ihn hier, in dieser Welt, in einem Winter ohne Wärme, ohne ein Zuhause, ohne einen Freund? Warum sollte er nicht mit dem Äon gehen?
„Ich fürchte mich. Nicht vor dir… vor dem Verstehen. Dem Lernen. Der Vollendung.“
„Du hast nichts, so wie du bist. Nichts sichres, nicht das Leben.“
„Ich kann nicht.“, sprach Gayrijn, und da verschwand das Wesen, so plötzlich, wie es gekommen war, und dort, wo es eben noch gewesen war, lag nun eine weiße Feder.
Gayrijn hob die Feder auf. Sie war kühl und glatt und fühlte sich gar nicht weich oder flauschig an. Doch derweil merkte der Junge, dass seine Müdigkeit verschwunden war und er neue Kraft hatte. Er stand auf und ging weiter, einen Weg ohne Ziel, den zu verfolgen er schon lange Zeit gedachte, da er nichts Besseres wusste.
Gayrijn wusste nicht, wie lange er gelaufen war, doch die Nacht war schwarz wie zuvor, als der Weg anzusteigen begann und auf einen Berg zu lief. Die Veränderung in der ewigen, grauen Landschaft, deren Umrisse weich in den Schatten der Nacht verschwanden, gab dem Kind Hoffnung, zumindest einen Ahnungsschimmer davon, denn das rechte, glückliche Hoffen hatte er ebenso verloren wie eine seiner Schuhsohlen oder seinen Wasserschlauch aus Ziegenleder.
Am Fuße des Berges angelangt, entschied er sich, hinaufzusteigen. Er konnte sich noch erinnern, dass sein Onkel Arek oft spazieren gegangen war, wenn er nicht weiter wusste, und dann auf den Hügel im Wald gestiegen war.
„Jede Höhe, Gayrijn“, hatte er erklärt, „vermittelt Weitblick. Und wenn es nur ein paar Ellen sind, dort oben siehst du doch mehr als hier unten.“
Gayrijn hatte genickt und so getan, als verstünde er, doch in Wahrheit war sein Onkel immer schwer zu verstehen gewesen. Doch gute Ratschläge konnte er immer erteilen, und jedes Mal, wenn er von seinem Ausflug zurückgekehrt war, hatte er vergnügt und gar nicht mehr düster und bedrückt gewirkt. So schien ein Berg das Beste, was Gayrijn geschehen konnte, denn was kann einem kleinen, obdachlosen Jungen auf Wanderschaft Besseres geschehen als ein festes Ziel?
Im schwachen Lichtschimmer des trügerischen Vollmondes begann er den Aufstieg. Bereits nach kurzer Zeit schmerzten seine Beine, und er drohte, den Halt zu verlieren, doch der Junge gab nicht auf, er hatte niemals aufgegeben, wollte nicht aufgeben, bevor er nicht Etwas gefunden hatte.
Es mögen nach Gayrijns Aufstieg noch fünfhundert Schritt bis zum Gipfel gewesen sein, als einige Steine sich unter seinen Tritten zu lösen begannen und er abrutschte. Er griff in die leere Luft über ihm und bekam nichts zu fassen, stürzte ab, am schmalen Felsgrat hinunter, und in dem Augenblick, da er wusste, dass er sterben müsste, empfand er nichts außer Verblüffung.
Eine Gestalt stand vor ihm, ähnlich dem, was Äon, Zeit, Ursprung, das Göttliche und Gute gewesen war, doch rot war ihr Licht, das eher ein Strahlen denn ein Schimmern war. Sie schien ebenso gesichtslos zu sein, herrschte Schwärze dort, wo das Gesicht hätte sein müssen.
„Was bist du?“, fragte Gayrijn, diesmal eher verblüfft denn ängstlich.
„Ich bin der Teufel, das Ende von Allem, die Welt, das Böse, das Verborgene, Triebhafte in ihr.“
„Was willst du von mir?“, fragte der Junge.
„Dein Leben ändern.“
„Warum?
„Ich bin das Böse. Komm mit mir, ich biete dir die dunkle Seite: Deine verborgenen Triebe und Lüste, Macht und Gier.“
„Die dunkle Seite…“ Gayrijn musste nicht überlegen: dies wollte er ebenso wenig wie Vollendung des Äons. Er durfte mit niemandem mitgehen, bevor er nicht die Erlösung gefunden hatte, die er zu erlangen suchte.
„Nein… ich will nicht.“
„Was bist du schon, so wie du lebst? Ein Nichts, ein Fliegendreck. Durch mich wärst du stark und groß…“, betörte ihn der Teufel.
„Nein.“, sagte Gayrijn, und das Wesen verschwand, ebenso wie das Äon verschwunden war. Gayrijn aber saß mit einem Male dort, wo er abgerutscht war, und vor ihm lag eine rote Feder. Er hob sie auf. Sie fühlte sich brennend heiß an du ebenso unangenehm wie die weiße.
Mit einem Seufzer stand der Junge auf.
„Was für eine lange Nacht.“, murmelte er, „Was für eine lange, entsetzlich kalte Winternacht.“
Fuß vor Fuß, Schritt um Schritt. Manchmal lösten sich kleine Kieselsteinchen unter den Füßen des Jungen, dann kamen zu dem gleichmäßigen Tap-Tapschlurf ein Brizzizzizz dazu, und schließlich ein Klackklack, wenn die Steine am Boden landeten.
Gayrijn schaute gen Himmel. Noch immer war kein Morgen zu sehen. Es war die längste Nacht aller Zeiten, eine Nacht, die andauerte, seit er von seinem Onkel Arek aufgebrochen war, um sein Ziel zu finden, sein Ziel, dass er nicht kannte.
„Junge, du musst los.“, hatte Arek gesagt. „Nimm nichts mit. Du weißt, dass du angekommen bist, wenn die Sonne aufgeht.“
Der Gipfel.
Gayrijn suchte nach einem Wort, um das zu beschreiben, was er fühlte, als er die dunkle Landschaft weit unter sich liegen sah. Dunkle Tannen- ein Wald. Weiter hinten das Meer, der Mond spiegelte sich glitzernd darin. Felder, eine Stadt, Dörfer…
„Ein ozeanisches Gefühl.“ Damit wäre selbst sein strenger Lehrer Teg zufrieden gewesen. Ein ozeanisches Gefühl… war er am Ziel?
Auf dem Boden vor ihm lag eine Feder.
Gayrijn hob sie auf, verwundert. Sie war schwarz und fühlte sich genau so an, wie es sich der Junge erhofft hatte: weich, flauschig und warm. Er drückte sie an seine Wange und spürte plötzlich eine Hand auf seiner Schulter.
Er wandte sich um. Eine dritte Gestalt, von einem dunklen Glanz umgeben, schwarz, stand hinter ihm. Ihre Hand fühlte sich gut auf seiner Schulter an.
„Komm, Gayrijn, wir gehen.“, sagte das Wesen.
„Wohin?“, fragte der Junge vollkommen angstlos. „Wer bist du?“
Sanft erwiderte die Gestalt: „Ich bin der Tod, das Ende vom Leben, Erlösung und Gleichheit in Allem.“
„Der Tod? Aber… warum willst du, dass ich mit dir gehe?“
„Auf deiner langen Reise durch die Nacht hast du dein Ziel selbst nicht gefunden. Das Leben führte dich in Versuchung, das Gute wie das Böse, doch du lehntest ab, weil du wusstest, dass dies nicht dein Ziel war. Wie weit willst du noch gehen und was willst du noch tun? Wen willst du noch treffen, um dein Ziel zu finden, wenn es das Leben nicht ist? Wer erwachsen wird, der begibt sich auf eine lange Reise durch die Dunkelheit, bis er das Licht findet, das, was er gesucht hat, das, was sein Lebensinhalt sein wird. Manche lassen sich ablenken, manche schließen sich Vielen an, um gemeinsam zu suchen, bis sie verstehen, dass sie den Morgen nur alleine finden. Und manche lassen sich in Versuchung führen von dem, was sie auf ihrer Reise entdecken. Was sie auch finden: ist es ihr Ziel, so ist es das Rechte. Du wirst nicht finden, Gayrijn. Komm mit mir.“, sprach der Tod.
„Und“, fragte Gayrijn, was bietest du mir?“
Der Tod schien zu lächeln. „Ich biete dir Erlösung und Frieden.“
Da blickte ihn Gayrijn an und erkannte sein Gesicht, und es strahlte vor Güte und Gerechtigkeit.
„Lass uns gehen.“, sprach der Junge, und als er sich umwandte, erkannte er einen blassen orangefarbenen Streifen am Horizont.
„Die Sonne geht auf!“, sagte er verblüfft und frei.
„Komm, mein Junge“, sprach der Tod, „Ich führe dich ins Licht.“
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- Mein Märchen- "Drei Federn" ~ Morella - 17.11.2005 22:55 (1)