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re[4]: Petal oder Fugal?
naurmel * schrieb am
15. Januar 2012 um 13:19 Uhr (1829x gelesen):
Entweder es zieht dich in die Kurve oder Du sorgst für einen ausreichenden Reibungswiderstand.
Das echte Leben ist das bewusste Leben. Am Band stehen und Schrauben festdrehen ist nicht das echte Leben. Fahrräder freistellen ist auch nicht das echte Leben. Auch einem Stück Käse die Sonderfarbe 160 zuweisen ist nicht das echte Leben. Das weißt Du auch. Ich kann aber während der Tätigkeit bewusst bleiben und leben wie ich bin, mit all meiner Lebensäußerung und meinen Persönlichkeitsfacetten.
Ich begebe mich hier auf dünnes Eis, wenn ich Dir versuche, den Unterschied zu verdeutlichen. Denn am Ende werde ich erkennen müssen, dass es den nicht gibt.
Aber in meinem Kopf gibt es eine Grenze. Und ich erkläre Dir warum. Stell Dir vor, ich wäre ein Lastenträger im alten Venedig. Den ganzen Tag würde ich Säcke und Fässer durch die Gassen tragen, Treppen rauf, über Brücken, Treppen runter. Hin und her. Das würde ich von Früh bis Spät machen müssen, 16 Stunden wären keine Seltenheit. Da kann ich mir überlegen, hmmm, jetzt schleppe ich den ganzen Tag (= mein ganzes Leben) schwere Sachen durch Venedigs Gassen und ehrlich gesagt füllt es meine Lebensspanne. Denn nach der Arbeit esse ich etwas, küsse meine Frau liebevoll, bringe die Kinder ins Bett und lege mich schlafen. Am Morgen stehe ich vor Sonnenaufgang auf, damit ich früh genug am Hafen bin und Aufträge bekommen kann. Mit Fug und Recht kann ich behaupten, ich bin ein Lastenträger. Das ist mein echtes Leben.
Irgendwann breche ich mir bei der Arbeit den Fuß. Es ist vorbei mit dem Tragen. Das Leben hat als Lastenträger keinen Sinn mehr. Denn ich werde keine Lasten mehr tragen.
Wenn ich mich über meine Tätigkeit definiere, begebe ich mich in eine Abhängigkeit dazu. Mir reicht die finanzielle Abhängigkeit. Sollte ich eines Tages keinen Käse mehr retuschieren können, dann möchte ich nicht den Sinn in meinem Leben neu suchen müssen.
Obwohl meine Tätigkeit nicht der Sinnstifter meines Lebens ist, kann ich trotzdem authentisch bleiben. Es spricht doch nichts dagegen, dass ich auch dann naurmel bleibe, wenn ich mich gerade nicht mit den Dingen identifiziere, die ich mache, oder? Genauso echt und authentisch bin ich bei den Gelegenheiten, durch die ich mich definieren möchte. Es wird niemand sagen können, dass ich mich hier und dort anders verhalte.
Arbeit ist Arbeit. Und Freunde auf der Arbeit sind eine heikle Angelegenheit. Das funktioniert nur auf dem Pfad der Offenheit und Ehrlichkeit. Sachlich auf dem Job, freundschaftlich mit dem Menschen. Leider verwechseln die meisten Menschen Kritik an der Arbeit mit der Kritik an der Persönlichkeit. Wie oft erlebe ich Menschen, die sich persönlich angegriffen fühlen, wenn man sie mit ihren schlechten Arbeiten konfrontiert? Kannst Du mir das erklären? Woher kommt diese Verwechslung, diese fehlende Professionalität? Als wäre ein Künstler ein schlechter Mensch, wenn sein Bild technische Mängel aufweist. Und hier haben wir die unzulässige Vermischung.
Wer also seine Persönlichkeit zu stark mit seiner beruflichen Tätigkeit vermischt, der läuft Gefahr, sich emotional mit dem Ergebnis seiner Arbeit zu vermischen. Es ist besser, diese Vermischung findet nicht statt. Oder man gehört zu den manischen Pedanten. Und denen gehe ich mittlerweile aus dem Weg, das macht noch weniger Spaß.
Aus dieser Erfahrung heraus möchte ich auf der Arbeit nur arbeiten. Wenn das in einer freundlichen und angenehmen Atmosphäre möglich ist freue ich mich und arbeite gerne auch daran, diese zu entwickeln. Wenn nicht, dann bin ich damit zufrieden, dort meine Lebensgrundlage zu erwirtschaften.
Die ersten 10 Jahre im Job dachte ich, es wäre schön, wenn ich Beruf und Privates integrieren könnte. Aber ich kann es nicht. Als Freiberufler ist die Grenze nicht statisch, das kannst Du dir denken. Trotzdem trenne ich Arbeit vom Privaten. Das heißt ja nicht, dass ich auf der Arbeit keine Freunde habe, oder umgekehrt. Im Gegenteil, ich lerne über die Arbeit viele Menschen kennen, die sich in meinen Freundeskreis integrieren. Dennoch ist während der Arbeit rödeln angesagt, gekuschelt wird danach.
Davon habe ich einen großen Vorteil. Wenn ich den Anforderungen auf der Arbeit nicht entsprechen möchte, ist es emotional keine Krise für mich. Und ich wechsle mühelos ins Private, ohne schlechtes Gewissen, und wechsle später wieder frisch in den Job, auch ohne schlechtes Gewissen.
Warum benenne ich das Leben als "echt" und "nicht echt"? Michelangelo kann sich mit seinem David hinreichend bestätigen lassen. Man schaut sich die Statue an und projiziert alles Mögliche in den Erschaffer der Skulptur hinein. Und es bestimmte auch eine hinreichend lange Strecke seines Lebens, so dass man kaum trennen kann zwischen der Phase des Bildhauens und der Lebensspanne, die damit gefüllt wurde. Er hat auch getan, was er gerne tat, relativ kompromisslos und streitlustig.
Naurmel bekommt ein Foto von unreifem Gemüse und zaubert daraus ein schmackhaftes Ensemble frischen Gemüses auf einer Packung mit dem "grünen Punkt". Soll ich mich darüber definieren, ist das "echt"? Ich bin anderer Meinung.
Wenn Menschen zu mir kommen und fröhlicher und glücklicher wieder gehen als sie es vorher waren, das ist echt. Das ist mein echtes Leben.
Knack, knirsch, splitter - schlitter
Liebe Grüße
naurmel
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