Hiimori der Hexenkönig
Hiimoris glückliche Jahre
"Dein Blut fließt im Zeichen des
Hexenkultes"
"Die Soldateneintreiber kommen, die Soldateneintreiber kommen!" Laut schreiend schlug ein Bauer auf sein Pferd ein und jagte mit dem Wagen durch das Dorf. Er war in der Mühle im Nachbarort gewesen, um das Getreide seiner soeben eingebrachten Sommerernte mahlen zu lassen. Auf der Dorfstraße mit ihren Steinen und Löchern warf es den Wagen polternd hoch und um die Mehlsäcke bildete sich eine Staubwolke. Bald folgte das Gerufe der Dorfleute zum Schreien des Bauern. Mütter ließen das Essen anbrennen und steckten ihre Köpfe aus der Türe.
Zwei Mütter, denen eine ungewisse Flucht ihrer Söhne lieber war als deren Tod auf dem Schlachtfeld, holten in aller Eile den Brotleib aus der Küche und dazu Speck und geräuchertes Fleisch. Sie warfen es in die Winterpelzmäntel ihrer Ehemänner, den wertvollsten Kleidungsstücken, und drückten das Bündel ihren Söhnen in die Arme, um ihnen nach einer festen Umarmung durch einen Vorhang von Tränen nachzusehen.
Als die
Soldateneintreiber des Zaren kamen, das Dorf abriegelten und die Einwohner zum
Dorfplatz zusammen trieben, waren die zwei Jungen schon weit fort.
Die zwei
beeilten sich möglichst weit weg vom Dorf zu kommen. Der Weg lief entlang eines
Waldes und in weit fortgeschrittener Nacht warfen sie sich ermüdet in das
weiche Laub zwischen zwei Büschen. Mit weiten Schritten gingen sie am kommenden
Tag weiter und wieder kam eine Nacht, eine unruhige Nacht. Nach wenigen und
viel zu kurzen Stunden des Schlafes wachten sie durch lautes Bellen in der Nähe
auf. Es waren zum Glück Rehböcke, doch bald hörten sie auch das Heulen der
Wölfe. Eilig kletterten sie auf einen Baum und brachten sich auf seinen dicken
Ästen in Sicherheit. An Schlafen war nicht mehr zu denken.
Müde von der
Nacht schleppten sie sich am nächsten Tag weiter. Allmählich wurden sie durch
die langen Märsche abgestumpft, sie gewöhnten sich an vieles und die Nächte
schienen weniger gefährlich. Immer weiter entfernten sich die zwei Freunde von
dem heimatlichen Landesteil. Der Dialekt der Menschen wurde schwerer
verständlich und auch die Kleidung der Dorfleute wurde anders. Wenn sie jetzt
jemanden ansprachen, erweckten sie Neugier und nicht Misstrauen. Gelegentlich fanden
sie Arbeit gegen Essen und Übernachtung und ohne Lohn. Schon machten sich die
zwei Sorgen wegen des herannahenden Winters.
Wieder war ein
ermüdender Tagesmarsch zu Ende. Es war Dämmerung und Kerzen flackerten hinter
verschlossenen Türen in den Häusern. Die zwei Freunde fanden am Rande des
Dorfes einen verwilderten Garten mit einer Hausruine inmitten. Einige
Apfelbäume mit reifen Früchten standen zwischen hohem Gras und
Brombeergeflecht. Es war wohltuend, die leeren Mägen zu füllen, auch wenn die
Äpfel nicht lange sättigen würden. Ganz nahe bellten die Hunde der benachbarten
Häuser und wollten sich nicht beruhigen. Es war klar, nicht lange und
misstrauische Bauern würden einen Blick auf die Umgebung werfen. So füllten die
zwei Freunde noch schnell den Ranzen und begaben sich auf die Suche nach einem
sicheren Nachtquartier.
Nicht weit von
dem Obstgarten war die dunkle Silhouette eines Waldes zu sehen. Seine Tiefe
versprach ein sicheres Versteck. Das Gestrüpp und vor allem die Dornenranken
waren in der anbrechenden Nacht schlecht zu sehen. Die zerfetzten Hosen bekamen
noch einige Löcher dazu und zu den Schrammen kamen noch blutige Striemen.
Nachdem sie sich
eine Stunde durch Buschwerk durchgekämpft hatten, standen sie unversehens vor
einem halbverwachsenen Höhleneingang. Die Höhle schien ein sicheres Versteck zu
bieten, falls kein Bär oder Wölfe drinnen hausten. Nichts deutete jedoch darauf
hin. Schon stieg in beiden die Hoffnung auf, dort für einige Zeit zu bleiben
und von Waldfrüchten und Pilzen zu leben. Es war verlockend und sie fassten Mut
die Höhle zu betreten.
Als sie in dem
niederen Gewölbe standen, sahen sie einen Gang, hinter dessen Biegung ein
schwacher Lichtschein schimmerte. Schon wollten die zwei sich wieder heimlich
entfernen, als ihnen zwei bewaffnete Wächter den Ausgang versperrten. Die
Wächter hatten sich anscheinend nahe der Höhle verborgen gehalten und waren von
den zwei nichtsahnenden Freunden übersehen worden. Man führte sie den Gang
entlang, der sich alsbald zu einer großen Höhle ausweitete. Dort befand sich
eine Gruppe von zirka 30 Menschen. Die Gruppe wurde unruhig und starrte die
zwei Unbekannten an, die von den Wächtern in die Versammlungshöhle gebracht
wurden.
Es war Zufall
oder Schicksal, dass die zwei ausgerechnet auf eine geheime Kultstätte der
Hexen gestoßen waren. Allmählich begriffen sie, dass sie in eine
lebensgefährliche Situation geraten waren. Der Tod stand ihnen näher als das
Leben. Die Hexengruppe, selbst von Verfolgung bedroht, konnte es sich nicht
leisten, Fremde entkommen zu lassen, welche die Gesichter der Mitglieder und
den geheimen Ort der Zusammenkunft gesehen hatten. Es hätte den Tod aller
bedeuten können. Das Risiko war zu groß.
Es entstand eine
lebhafte Diskussion. Plötzlich herrschte Stille und die zwei wurden
aufgefordert, über ihre Herkunft und ihre Reise zu berichten. Nachdem beide
über ihre Flucht vor der Soldateska und ihrem weiten Weg berichtet hatten,
herrschte wieder aufgeregtes Stimmengewirr.
"Schaut sie
euch an, die sind ja noch halbe Kinder. Wenn es viel ist, sind sie knapp 16
Jahre alt." Es war eine alte Frau, die das sprach.
Eine zweite alte
Frau pflichtete ihr bei: "Wir können kaum noch junge Leute finden, die
sich uns zugesellen wollen. Die Leute sind zu sehr eingeschüchtert und auch wir
müssen uns vorsichtig jedes Wort überlegen. Jeder junge Mensch, den wir
aufnehmen, ist ein Risiko. Also, warum sollen wir nicht auch hier ein Risiko
eingehen. Ich bin bereit einen oder beide bei mir aufzunehmen. Gönnt einer
alten Frau eine Lebensstütze!"
Wieder war ein
Gemurmel, aber es klang bereits weniger bedrohlich. Schließlich einigten sich
alle unter der Bedingung einer vorläufigen Gefangenschaft der beiden,
vorausgesetzt, dass beide sich dem Kult anschließen wollten.
Die zwei hatten
keine große Wahl. Was den Hexenkult anbelangte, so hatte er für sie die Aura
des Geheimnisvollen und versprach tiefes, magisches Wissen. Es übte auf beide
eine Anziehung aus und sie sagten diesbezüglich nicht widerwillig zu.
Zwei ältere
Hexen, die stärksten Fürsprecher, waren bereit, jeweils einen der Burschen bei
sich aufzunehmen und einzuschulen. Die Hexengemeinde willigte ein. Die zwei
Freunde waren erleichtert. Vielleicht war ihnen damit auch die Möglichkeit
einer neuen Heimat geboten. Unvermutet schien die entbehrungsreiche Flucht
gerade vor der Ausweglosigkeit des Winters ein Ende zu haben. Nahrung und Wärme
boten sich an. Hierfür konnte man einen vorübergehenden Verlust an Freiheit
wohl in Kauf nehmen.
Beim Haus der
Hexe angekommen, wurde Hiimori - nennen wir ihn so wie er später immer genannt
wurde – gebeten einen großen Sack mit Stroh zu stopfen, der seine zukünftige
Schlafstätte sein sollte. Bevor er sich jedoch darauf werfen konnte, musste er
sich noch gründlich waschen und bekam anschließend Essen. Es schlief sich gut,
erstmals unter einem Dach und mit gefülltem Magen.
Am nächsten Tag
war es schon Mittag als Hiimori aufwachte. Das Haus war von einem ansprechenden
Essensduft durchzogen. Nachdem sich Hiimori für den Tag fertig gemacht hatte,
wartete auch schon das Essen auf dem Tisch. Im Nu hatte Hiimori seine Schüssel
geleert und seine Kostgeberin füllte ihm lachend und zufrieden nach. Es wurden
mehrere Schüsseln. Dann ließ ihn seine Hexenlehrerin über sein Leben erzählen.
Es war kein Ausfragen, sondern Interesse an seiner Person und seinen Vorlieben.
Dazwischen wurde ihm Tee serviert und Kuchen zugeschoben.
Hiimori hatte
sich seine Gefangenschaft schlechter vorgestellt. So verwöhnt zu werden, war
eine angenehme Überraschung. Hiimori war mit seiner Situation glücklich und
bemühte sich seinerseits, der alten Frau jegliche Arbeit abzunehmen. Alles, was
ihn die Hexe lehrte, nahm er mit höchstem Interesse auf. Eine neue Welt wurde
ihm erschlossen. In vielen kleinen Geschichten wurden ihm die Augen für die
Wunder, welche uns umgeben, geöffnet. Er lernte das Kleine und die Vielfalt
lieben. Was ihm an Übungen gegeben wurde, war ohne Zwang und gleich einer
Belohnung, wobei die Hexe bei den Erklärungen bisweilen ihre Stimme
geheimnisvoll zu einem Flüstern senkte, so als könnte jemand mithören. Die
Stimme der Hexe war dann ein Hinweis darauf, dass das soeben Gehörte in
Verschwiegenheit im Herzen getragen werden sollte.
Hiimoris Hexenmutter
Hiimori lernte
bei seiner Hexenmutter auch Lesen und Schreiben. Sobald er es konnte, studierte
er bis tief in die Nacht Bücher, welche die Hexe eigens für ihn von irgendwo
ausgeliehen hatte.
Die im Hexenkult
eingeweihten Frauen waren schon alt und bemühten sich, möglichst viel von dem
Wissen, das sie bis in ihr Alter angehäuft hatten, weiter zu geben. Das
praktische Wissen und vor allem Fähigkeiten ließen sich nicht durch Büffeln
erlernen. Hierzu mussten zur Unterstützung Tränke und Salben verwendet werden,
um eine verfeinerte Wahrnehmung zu fördern. Neben den Ingredienzien etlicher Pflanzen,
deren Wirkstoffe in Fett gelöst werden mussten, um dann als Salbe aufgetragen
zu werden, wurde auch der heilige Pilz verwendet, um die Fähigkeit des Reisens
zu fördern. Kleine Stücke des Pilzes wurde in getrockneter Form eingenommen,
auch im Sommer. Die Wirkung war anders als von einem frisch geerntetem Pilz.
Dadurch, dass Wirkstoffe unterschiedlicher Herkunft verwendet wurden, konnte
man die angestrebte Wirkung erhöhen und zugleich die unangenehmen
Nebenwirkungen reduzieren. Das war eine sehr hohe Kunst. Sie erforderte
Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen in einem hohen Ausmaß. Hier zeigte
sich das wirkliche Können einer Hexe.
Hiimori kam in
Wissen und Können rasch voran, ohne dass seine Persönlichkeit destabilisiert
oder seine Gesundheit angegriffen wurde. Seine Begabung war für seine
Hexenlehrerin die höchste Freude, die ihr je im Leben beschert worden war. Bald
übertraf Hiimori alle in seiner Gruppe an Wissen und Können. Sein Ruf unter dem
Hexenvolk verbreitete sich.
Sein brennendes
Interesse und die liebevolle Zuwendung seiner Hexenlehrerin und Ziehmutter
förderten seine Begabung. In ihrer Frömmigkeit ließ sie keinen Tag ohne kleine
Opfer und Gebete zum Segen ihres Schützlings vergehen. Sie war eine fromme
Frau. Auf ihrem Altar standen für Außenstehende unverfängliche Figuren und
Bilder christlicher Heiliger, mit kleinen kaum erkennbaren Attributen, durch
welche sie von der Hexe altslawischen Göttern zugeordnet wurden. Während der
Andacht stellte sie ihnen Opfer von Speisen und Kräutern in kleinen Schälchen
hin.
Hiimoris Freund
war weniger erfolgreich. Vielleicht war seine Hexenmutter zu ehrgeizig oder
nicht genügend bewandert in den Kräutermischungen, jedenfalls erlitt er
psychischen Schaden und starb bald darauf oder wurde getötet.
Hiimori wurde in
immer höhere Geheimnisse eingeweiht. Als er etwa 26 Jahre alt war, überschritt
sein Ruf als begabter Hexer die Grenzen seines Dorfes. Ungewöhnlich für einen
noch so jungen Menschen.
Als seine
hochbetagte Adoptivmutter und Hexenlehrerin das Empfinden hatte, ihm nicht mehr
viel aus ihren Erfahrungen beibringen zu können, wandte sie sich an den
Hexenkönig, den schwarzen Khan, sich ihres Ziehsohnes anzunehmen. Und wirklich,
bald darauf klopfte ein Reiter an die Türe. Er wurde ehrfürchtig von der Hexe
begrüßt und reich bewirtet. Er hatte ein zweites Pferd mitgebracht - es war für
Hiimori vorgesehen.
Am nächsten Tag
beim ersten Schein des Tageslichtes war der Abritt. Mit einigem Bedenken hörte
der Bote, dass Hiimori noch nie in seinem Leben geritten sei. Der Bote ließ
sich von der Hexe zwei Tücher bringen, wickelte diese als Ersatz für Stiefel um
die Unterschenkel von Hiimori und wickelte eine Schnur herum. Die Hexenmutter
gab ihrem Ziehsohn noch überreichlich Essen mit und sah ihm unter Tränen nach.
Der Ritt
erfolgte zunächst einige Stunden im Schritt, bis die Pferde ihre überschüssige
Energie abgearbeitet hatten, um dann über kurze Strecken immer wieder in
kurzen, nunmehr sanften, Galopp zu fallen. Der Bote empfahl Hiimori, sich beim
Galopp am Widerrist des Pferdes abzustützen und federnd im Bügel zu stehen.
Hiimori gewann bald Sicherheit und überstand den Ritt ohne Sturz.
Sie ritten zügig
drei Wochen bis sie den Khan erreichten. Für Hiimori tat sich eine neue Welt
auf. Es war eine größere Gruppe, welche den Khan wie ein Hofstaat umgab.
Dennoch war der Khan zu allen liebenswürdig und zuvorkommend.
In den folgenden
Tagen beobachtete der Khan Hiimori unauffällig und rief ihn gelegentlich auf
ein kurzes Gespräch zu sich. Er schien Hiimori positiv zu bewerten, denn bald
darauf, als einige Tage Aufenthalt vorgesehen waren, wurden bei einem Schuster
Stiefel für Hiimori angemessen und eilig angefertigt. Hiimori erhielt auch eine
praktische Reisekleidung und einen wetterfesten Reitmantel und war ab nun in der
Ausstattung von den anderen der Gruppe nicht mehr zu unterscheiden.
Hiimori bekam
vom Khan aus dem Gefolge einen Lehrer. Was Hiimori bei diesem lernte, war in
erster Linie Landeskunde und die Gebräuche der Völkerschaften, mit denen sie
auf ihren Reisen in Kontakt kamen. Im magisch-spirituellem Wissen unterrichtete
der Khan selbst. Nach einem Jahr entschied sich der Khan, Hiimori in einen
höheren Grad einzuweihen. Es war für Hiimori ein aufregendes Ereignis.
Die Einweihung
erfolgte um Mitternacht. Der Vollmond hing am Himmel und beleuchtete die
Umgebung mit seinem scharfen, weißen Licht. Man konnte nicht weit sehen, denn
Nebelschlieren lösten das sichtbare Umfeld zu einem Nichts auf, hinter dem man
selbst mit wenig Fantasie das Ende der Welt oder den Übergang zum Geisterreich
vermuten konnte.
Vor der symbolischen Anordnung eines Tores mit zwei
Wächtern
Hiimori wurde
einen kurzen Weg geführt, der an zwei Holzpfeilern endete, die links und rechts
wie Wächter standen. Zwischen den Pfeilern war ein Brust hohes Tor aus Zweigen
und Rinde. Es war geschlossen. Hiimori blieb davor stehen, gemäß dem Ritual, in
das er zuvor eingewiesen worden war. Laut sprach er die Bitte um Einlass, als
einer, der sein zukünftiges Leben einzig und allein den Diensten des Hexenkultes
unterordnen wolle.
Das Tor wurde
von der anderen Seite geöffnet und er schritt durch. Nach einem kurzen Stück
des Weges gelangte er zu einem kleinen Platz, der von einem Kreis von
unangezündeten Fackeln umgeben war. Lichter und Schatten einer Feuerstelle
außerhalb des Kreises vollführten - vom Nebel verschleiert - in den dunklen
Konturen der umstehenden Bäume einen geisterhaften Tanz. Tiefste Stille
herrschte. Da erhob sich aus der Stille die kraftvolle Stimme des Khans, die
Hiimori anwies den Kreis zu betreten.
Als Hiimori im
Kreis stand, betrat auch der Khan diesen. Die Fackeln wurden angezündet und
beide standen nun in einem Lichterkreis. Der Khan wies Hiimori an, sich nieder
zu knien, um sein Gelübde zu sprechen. Hiimori bestätigte noch einmal seine
Bereitschaft, sein Leben voll und ganz der Lehre und dem Hexenvolk zu weihen.
Er betonte, sein Leben - wenn nötig - jederzeit zum Schutz des Volkes
hinzugeben. Dreimal sprach er laut sein Gelübde aus. Dumpf klang jedes Mal das
Echo aus der Nebelwand und den Schattenbäumen zurück, als stünde ein Volk von
Geistern um ihn und würde das Gelübde wiederholen.
Der Khan erhob
ein kurzes Schwert und ritzte Hiimori ein Malkreuz in die Stirne.
"Dein Blut
fließt im Zeichen des Hexenkultes. Du und die Hexenmagie, ihr seid eins",
sprach der Khan. Auch seine Stimme kam gleich einem geisterhaften Flüstern als
Echo zurück.
Am zeitigen
Morgen wurden das Holztor und die zwei geschnitzten Pfeiler in das Feuer
geworfen und ebenso die Reste der Fackeln. Nichts von dem verbliebenen
Brandplatz ließ darauf schließen, dass hier ein kultisches Treffen
stattgefunden hatte. Die verkohlten Reste hätten ebenso gut von Jägern stammen
können, die sich hier ein Reh gebraten hatten. Gegen Mittag war die gesamte
Reitergruppe bereits weit weg.
Hiimori erfreute sich bald einer väterliche Zuneigung
des Khans und seines nunmehrigen Gönners, der ihn in vielen Abendgesprächen in
tiefste Geheimnisse einweihte. Auch legte der Khan Wert darauf, dass Hiimori
sich ein großes Allgemeinwissen aneignete. Der Khan erzählte Hiimori über die
Kulturen, die Geschichte und die Religionen der Länder. Es war ein lebensnahes
Wissen, da Hiimori mit dem Khan und seinem Gefolge kreuz und quer durch das
Land mit seinen unterschiedlichen Völkern zog, bis hinein in muslimische und
buddhistische Länder, die nicht mehr zu Russland gehörten, in denen jedoch
Angehörige des Tschöd-Kultes lebten, die ebenfalls den Khan als ihren Führer
betrachteten.
Hiimori wurde zu
einem Vertrauten des Khans und dieser sprach mit ihm über Dinge, über die er
sonst schwieg, etwa über die politischen Kräfte einzelner Länder und die
diversen Gruppierungen, die um Macht und Einfluss kämpften.
Der Khan
Hiimori liebte
den Khan und der Khan liebte ihn. Es war für Hiimori eine glückliche Zeit und
er wünschte sich, dass das Leben so ewig weiter gehen würde. Es geschah jedoch
etwas Fürchterliches.
Sie waren schon
einige Wochen unterwegs in Richtung der alten Seidenstraße, als das Pferd des
Khan im Galopp stürzte. Der Khan wurde so unglücklich vom Pferd geworfen, dass
er sich das Genick brach. Gelähmt lag er auf dem Boden.
Er rief Hiimori
zu sich und gab ihm seinen Segen. Seine Begleiter bat er, Hiimori als seinen
Nachfolger zu akzeptieren und zu respektieren. Normalerweise hätte sich der eine
oder andere für berufener gefühlt und dagegen aufbegehrt, doch jetzt unter dem
Schock wagte niemand zu widersprechen und dem Khan den letzten Willen zu
verweigern.
Alle saßen die
ganze Nacht um den Khan und versuchten ihn warm zu halten. Es herrschte bedrückende
Stille. Gegen Morgen, als die Sonne aufging und mit ihren rotgoldenen Strahlen
die Welt in neues Licht eintauchte, bat der Khan ihm eine Ader aufzuschneiden.
Mit sich und der Welt in Frieden gab er seinen Körper der Erde zurück.
Hiimori war gerade
35 Jahre. Die Verantwortung, die er nun übernehmen sollte, erschien ihm als
übergroße Last. Es würde nicht leicht sein von allen als neuer Khan akzeptiert
zu werden. In der Regel wurde der Nachfolger durch Jahre als solcher dem Volk
der Tschöd/Hexenmagie vorgestellt und mit verantwortungsvollen Aufgaben
betraut, die sein Ansehen stärkten. Diesmal jedoch war der neue Khan für alle
eine Überraschung und zudem ungewöhnlich jung.
Schicksalsschläge
Hiimori war als
neuer Hexenkhan pausenlos unterwegs. Das Gebiet der Altreligion, die im
späteren Hexentum aufging, war groß. Teile aus dem Westen unterlagen immer mehr
europäischen Einflüssen, während die Teile im Osten nach wie vor unverändert
dem alten turk-mongolischem Glauben huldigten oder dem Buddhismus angehörten. Ihnen war das
Christentum fremd. Mochte auch das östliche Gebiet flächenmäßig größer sein,
der Westen war dichter bevölkert und einflussreicher.
Ursprünglich war
das Hexentum in den Weiten Russlands eine schamanische Naturmagie. Teilweise
vermischte es sich später mit Glaubenselementen der Ostgoten und Ostwikinger.
Die Praktiken waren vornehmlich auf Heilen und Lebenshilfen ausgerichtet. Es
gab allerlei Gebrauchsmagie für den Alltag, bis hin zur Wettermagie,
Zukunftsvorhersage, Geburtssegen und Sterbebegleitung. Das Hauptaugenmerk lag
auf der praktischen Anwendung. Ethik war eine Angelegenheit des Charakters und
hatte nichts mit der Weisheitslehre und magischen Wissenschaft zu tun. So wie
vieles, etwa Werkzeuge, wie Messer oder der Gebrauch des Feuers, konnte auch
diese Kunst zum Guten oder Bösen verwendet werden. Wie sie eingesetzt wurde,
hing vom Charakter der jeweiligen Hexen oder Hexer ab.
Diese Auffassung
änderte sich gerade in Hiimoris Zeit überaus schnell. Im Westen Russlands
verschob sich der Schwerpunkt von der Gebrauchsmagie zur Ideologie. Diese war
von der Denkweise des Christentums geprägt. Was das Christentum kennzeichnete,
war eine Polarisierung der Schöpfung und der Handlungen des Menschen in Gut und
Böse. Die Schöpfung war dadurch gespalten. Es war undenkbar für die
altasiatischen Anschauungen, dass Böses gegenüber dem Schöpfergott hätte
aufbegehren können. Für sie war das sogenannte Dunkle ein notwendiger Teil der
Schöpfung, so wie Tag und Nacht, wie Geburt und Tod. Ohne "Gut" und
"Böse" gäbe es keine Dynamik, welche die Vielheit des Lebens
überhaupt ermöglichen könnte. Überhaupt war ein Schöpfergott mit menschlichen
Zügen unvorstellbar. Wie sollte eine alles belebende Allkraft, die allem
innewohnt, gleich einem Menschen denken und fühlen? Das wäre so als würde man
erwarten, dass der Wind nachdenken würde, in welche Richtung er wehen solle.
Im Westen
Russlands waren christliche Anschauungen allgegenwärtig und wurden bereits den
Kindern eingeprägt, auch jenen Kindern deren Eltern zum Hexenvolk gehörten. Es
war den Eltern unmöglich, den Kindern ihre eigenen Anschauungen nahe zu
bringen. Eine kleine unbedachte Bemerkung der Kinder hätte die gesamte Familie
gefährdet. Dadurch wurden die Kinder ohne Gegengewicht einseitig christlich geprägt,
mit Anschauungen, die auch später, falls die Kinder den Hexen beitraten,
beibehalten wurden. Als Folge hiervon stand nicht mehr die Naturmagie im
Mittelpunkt, sondern die ideologische Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse,
zwischen christlicher Kirche und den verfolgten Hexen und natürlich auch
zwischen Gott und Satan. Satan bekämpfte den christlichen Gott und war somit
der naturgegebene Verbündete der Hexen.
Hiimori konnte
beobachten wie sich die Denkungsart seines Volkes zunehmend änderte, war aber
nicht imstande, auf die Strömungen neuartiger Denkweisen einzuwirken, die durch
Verfolgungen stark angefacht wurden. Christliches Gedankengut im Hexentum gab
es schon zu der Zeit, als er dem Hexentum beitrat. Was jetzt jedoch neu hinzu
kam, war die Ausrichtung auf dunkle Magie und der Hass auf das Christentum.
Es geschah eines
Tages, dass im Westen des Landes ein Konvent der dortigen obersten
Führungsriege einberufen wurde. Hiimori wurde gebeten am Treffen teilzunehmen.
Die Spaltung in der ideologischen Ausrichtung innerhalb des Hexenvolkes wurde
zum Hauptanliegen der Zusammenkunft.
Der größte Teil
der Führungsriege bestand darauf, den schwarzen Moses anzurufen, um durch ihn
zu einer Entscheidung zu kommen. Hiimori lehnte den schwarzen Moses inklusive
seiner Anrufung ab. Hiimori war ein Mensch hoher Ethik und fand die schwarzen
Kulte abstoßend.
Die Vertreter
des schwarzen Moses in der Versammlung bestanden auf ihrer Vorgehensweise.
Eigentlich war es schon eine unter ihnen im vorhinein abgesprochene Sache
gewesen, denn es lagen bereits abgesägte Wacholdersträucher für das Ritualfeuer
bereit. Man beschloss, in der Nacht eine Anrufung mit Hilfe einer Rauchmagie
durchzuführen.
Es war eine
dunkle Nacht. Vor dem Mond standen immer wieder Wolken und auch die Sterne
waren nur stellenweise und in schwachem Licht zu sehen. Es war windstill. Man
richtete in der Mitte der Lichtung einen Platz zurecht, grenzte ihn durch einen
Ring aus Steinen ab und schritt ihn ab, wobei geheime Zauberworte gemurmelt
wurden, um den Platz vor ungebetenen Geistern und Kräften frei zu halten.
Zwischen dem Ring aus Steinen, die das Unzerstörbare darstellten, wurden
Fackeln in den Boden gesteckt. Am Ende der Vorbereitungen sollten die Fackeln
entzündet werden, um unter Beschwörungen, den heiligen Platz mit dem Feuer der
Vernichtung abzusichern. In der Mitte des Ringes wurde der Feuerplatz zurecht
gerichtet. Wiederum war es ein Steinkreis, der ihn umgab und auch der Boden der
Feuerstelle wurde mit Steinen ausgelegt. Auf die Steine wurden mit Lehmfarben
geheime Zeichen gemalt.
Nachdem ein
Feuer entzündet war, erzeugte man einen Schwelbrand, aus dem nur da und dort
kleine Flämmchen emporloderten. Alle saßen um den Schwelbrand herum und einer
nach dem anderen trat an die Feuerstelle, machte in der Luft magische Gebärden
und warf unter Beschwörungsformeln Essenzen und diverse Kräuter wie Sumpfporst
in den Schwelbrand. Alle um das Feuer atmeten den Rauch ein und kamen immer
tiefer in Trance. Sie bemühten sich ihre Wahrnehmungsfähigkeit zu steigern, um
selbst die kleinsten Präsenzen und magischen Wirkkräfte wahrnehmen zu können.
Teilweise erhob sich ein gemeinsamer Gesang, abgewechselt durch gesprochene
Beschwörungen.
Dies dauerte
etwa zwei Stunden.
Dann kam der
große Augenblick, auf den alle gewartet hatten. Das Feuer wurde stärker
angefacht. Damit das Feuer nicht zu hoch würde und ausreichend Rauch liefern
könne, wurden zusätzlich zu den getrockneten Ästen grüne Nadeln und Beeren vom
Wacholder hinein geworfen. Auch andere Essenzen kamen in großen Mengen dazu.
Meterhoch wallte
der Rauch empor, manchmal tief schwarz, manchmal grauweiß. Schatten und Lichter
wechselten unaufhörlich auf den sich bewegenden Formen des Rauches. Es waren
Schatten und Lichter, die aus dem Feuer darunter, aus den Funken und dem Schein
der Fackeln des äußeren Kreises gebildet wurden. Nur der in den Lichtern
wechselnde Rauch war zu sehen, während die Mitglieder in ihren schwarzen
Gewändern mit dem Dunkel der Nacht verschmolzen.
Unaufhörlich und
monoton wurde immer wieder die Anrufung des schwarzen Moses gemurmelt. Wie
Wellen des Meeres ebbte das Gemurmel auf und ab, wurde lauter und sank wieder
zu einem Rauschen ab, monoton gleichmäßig und doch unruhig wie der Rauch.
Da auf einmal
schien mitten im Rauch eine Gestalt zu sein. Sie schien, immer wieder von
dunklen Rauschschwaden verdeckt, dann wieder feurig aufleuchtend, mitten in den
Flammen zu stehen. Als stünde der schwarze Moses an der Schwelle zwischen
dieser und einer anderen Welt. Die Gestalt wallte, wurde deutlicher, um bald
darauf wieder in die Dunkelheit des Rauches zurück zu kehren und erneut wieder
sichtbar aufzutauchen.
Die Gestalt schien von feurigen Rauschschwaden
umgeben, mitten in den Flammen zu stehen.
Der Führer der
Gruppe schritt zum Feuerplatz, kniete auf einem Bein nieder und sprach sein
Anliegen. Eine Zeit lang blieb er reglos, dann beugte er sich vor, als wolle er
auf etwas lauschen. Anschließend verneigte er sich, erhob sich wieder und
kehrte an seinen Platz in der Gruppe zurück.
Alle schwiegen
gespannt und warteten auf die Botschaft, die er verkünden würde. Durch
vielleicht eine Minute herrschte tiefste Stille. Der Gruppenführer schien
wieder zu sich zurück finden zu müssen oder er war durch den Kontakt mit dem
schwarzen Moses noch derart beeindruckt, dass er nicht sprechen konnte. Dann
erhob er sich und verkündete laut, dass der schwarze Moses erwarte, dass
Hiimori sich vor ihm niederwerfe und ihm die Treue schwöre.
Hiimori, der
nicht am Ritual teilgenommen hatte, war empört. Für ihn war die Inszenierung
ein betrügerisches Unterfangen und so lehnte er es schlichtweg und bestimmt ab
der Forderung nachzukommen. Er war der Khan und hatte sich keinem schwarzen
Moses zu beugen. Zudem lehnte er die neuartigen religiösen Modeströmungen aus
dem Westen ab. Empörung flammte unter den Mitgliedern der Versammlung auf, ob
der Beleidigung ihres hohen transzendenten Führers. Manche gingen zur
Feuerstelle und baten den schwarzen Moses um Vergebung und darum, nicht der
gesamten Gruppe zu zürnen. Sie gelobten ihm sich an seiner statt an dem
Provokateur zu rächen, um solcherart den Frevel zu sühnen. Der schwarze Moses
ließ sich nicht besänftigen. Im Gegenteil, sein voller Zorn zeigte sich
dadurch, dass er das Feuer funkensprühend hoch auflodern ließ, um wütend den
Ort der Anrufung zu verlassen. Der Rauch schien nur noch bloßer Rauch zu sein.
Der Anführer der
rebellischen Gruppe schrie auf. Der Zorn des schwarzen Moses würde das gesamte
Hexenvolk ins Unglück stürzen, wenn nicht sofort alle ihre unbeugsame Loyalität
beweisen würden, indem sie zum Zeichen der Reue und Sühne den Urheber des
Zornes auf der Stelle vernichteten.
Die Mitglieder
des Konvents versuchten sich wütend auf Hiimori zu stürzen. Das Gefolge von
Hiimori zog seine Schwerter und stellte sich schützend vor ihn. Da tauchten
plötzlich aus dem Wald zahlreiche Bewaffnete auf. Nun war es klar, dass Hiimori
und sein Gefolge in der Minderzahl und in einen geplanten Hinterhalt geraten
war. Die Begleiter von Hiimori wurden niedergemetzelt. Hiimori blieb als einziger
über. Tobend vor Zorn traten und schlugen sie auf ihn ein.
Das Leben von
Hiimori wäre schnell zu Ende gewesen, wenn nicht eines der Mitglieder gerufen
hätte: "Tötet ihn nicht, seine Schmerzen wären viel zu kurz, er soll
länger leiden!" Das Argument vermochte die Wut der Hexer umzulenken. Die
Vorstellung, Hiimori in langjährigem Siechtum unter Torturen das Leben langsam
auszulöschen, anstelle eines kurzen und fast schmerzlosen Todes war zu
verführerisch.
Hiimori wurde
gefesselt. Er konnte noch einen kurzen Blick auf sein geliebtes Pferd werfen,
ehe er mit verbundenen Augen auf den harten Boden eines überdachten
Pferdewagens geworfen wurde. In einer langen Reise wurde sein Körper in
unbequemer Lage durchgerüttelt und einem unbekannten Ziel entgegen gebracht.
Der Wagen blieb
stehen, sie waren am Ziel. Hiimori wurde zu einem runden, turmartigen Gebäude
gebracht, dessen kahle Außenwände kaum durch die winzigen, vergitterten Fenster
aufgelockert wurden. Das Gebäude stand verlassen in einer Einöde und war nur
von wenigen Gebäuden umgeben, in denen das Dienstpersonal lebte.
Eine schmucklose
Eisentüre wurde geöffnet und Hiimori hinein geführt. Auf den großen
quadratischen Steinplatten des dämmrigen Ganges, klirrten die Reitstiefel der
Soldatenwächter. Sie gingen in einem Halbrund an groben Holztüren vorbei, bis
zu einer Türe, die geöffnet und durch die er hinein geschoben wurde. Hiimori
stockte der Atem. An den Wänden, mit Eisenketten angeschirrt, saßen
ausgemergelte Gestalten. Es war ein Gefängnis. Nein, es war noch schlechter, es
war ein Kerker, der als Narrenturm getarnt war. In einen solchen Kerker konnte
man missliebige Familienangehörige oder wen auch immer entsorgen, ohne Prozess
und ohne dass eine Straftat vorlag. Wozu auch, ein von Dämonen Besessener kann
sich nicht verteidigen, immer wären es die Dämonen, die aus ihm sprächen, war
das übliche Argument.
Die
Gesetzlosigkeit, die für einen solchen Narrenturm galt, nahm den Inhaftierten
jegliche Hoffnung. Hinzu kam noch ein schreckliches Faktum. Der Narrenturm war
in seiner Alibifunktion eine Einrichtung zur Austreibung der Dämonen, die von
den Besessenen Besitz ergriffen hatten. Deshalb wurde nach damaliger Auffassung
versucht die Besessenheitsgeister durch Quälereien und exorzistische Verhöre
auszutreiben. Zudem war die Nahrung der Gefangenen sehr dürftig und so mancher
verhungerte oder wurde krank. Die meisten überlebten nur wenige Jahre.
Während andere
an diesen Umständen zerbrachen, wurde Hiimori stärker. Er nützte die Zeit der
Verlassenheit im Kerker für seine magischen Übungen. Bald hatte er
herausgefunden, dass er ein wenig den Willen der Kerkeraufseher lenken konnte.
So erwirkte er eine Einzelzelle, in der er nicht angekettet leben musste und in
welcher ihm sogar ein für dortige Verhältnisse komfortables Strohlager gegeben
wurde.
Während sich
andere in den langen Zeiten, in denen sie am Boden saßen Grübeleien und der
Verzweiflung hingaben, vermochte Hiimori mit seiner Seele den Körper zu
verlassen, um auf Seelenreisen zu gehen. Er sah ferne Orte und jenseitige
Reiche und lernte.
Zwischen seinen
Visionen und Seelenreisen gab es für Hiimori viel nachzudenken. Er war erst 40
Jahre. Seine Zeit als Hexenkhan war kurz gewesen. Bei seinem Antritt als Khan
war er jung, unbekannt und hatte ein verfolgtes Volk der geheimen Magie zu
verwalten, das sich immer stärker in zwei Richtungen polarisierte. Für Hiimori
war das Leben als Khan ein ständiger Kampf gewesen, in dem er sich beweisen und
bewähren musste, um durch die Kraft seiner Persönlichkeit Spaltungstendenzen zu
unterbinden. Wie schön im Vergleich war das Leben früherer Khane gewesen, die
als Repräsentanten von Tengri, dem Himmelsgott, galten. Sie wurden vom Volk ob
ihrer Weisheit verehrt, und es galt als großes Glück und Ehre einmal im Leben
ihre Nähe atmen zu dürfen.
Hiimori ging in
sich, dachte nach, ob er Fehler gemacht hatte, ob er ein schwacher Herrscher
gewesen wäre und als solcher den Zerfall des Hexenvolkes beschleunigt hätte.
Hätte er stärker gegen destruktive Kräfte einschreiten sollen?
Derlei Gedanken
belasteten Hiimori. Zweifel und Ratlosigkeit in ihm waren so schwer wie die
drückende Luft des Gefängnisses.
Eines Tages
hatte Hiimori eine Vision. Eine unbekannte Göttin erschien ihm in goldenem
Lichterglanz. Sie lächelte ihn an.
Hiimori blickte
lange zu ihr, sie schien ihm vertraut, obwohl er sie noch nie gesehen hatte.
"Wer bist
Du", fragte Hiimori.
"Seit
urdenklichen Zeiten bin ich Deine Begleiterin, Geliebte und Beschützerin. Für
Dich unsichtbar habe ich mich mit Dir gefreut und mit Dir gelitten!
Jahrhunderte oder länger waren wir in Liebe vereint. Auf Erden, in Himmel und
Hölle waren wir eins, in Glück und Not. Nie werden wir uns trennen!
Hier im
Gefängnis konntest Du durch die Stille und das Alleinsein ungestört deine
inneren Sinne entfalten. Der Hunger half gleich dem Fasten der Mönche. Er
machte Dich durchlässig, belebte Deine inneren Sinne.
Wenngleich die
äußere Nahrung karg ist, soll es Dir an innerer Nahrung nicht fehlen. Siehe den
Krug, den ich bei mir trage. In ihm ist Amrita, der Nektartrank der Götter, die
Nahrung des goldenen Lichtkörpers. Trink!"
Trink den Nektar aus flüssigem Gold
Hiimori trank.
Ein ekstatisches Glücksgefühl, Wärme, Kraft und Liebe durchfluteten ihn.
Hiimori fühlte sich wie neugeboren.
Dann löste sich
die Erscheinung auf, aber Hiimori verblieb in unbeschreiblichem Glück. Der
Hunger war verschwunden, der Körper fühlte sich gestärkt.
Ab nun erschien
ihm die Göttin täglich und gab ihm von dem Nektar zu trinken. Wenn er die Augen
schloss, sah Hiimori statt des Dämmerlichtes der Kerkerzelle einen goldenen
Lichtschein. Dieser weitete sich als Aureole weit über seinen Körper hinaus.
Die Liebe jener Göttin erfüllte ihn bleibend mit Wärme und Glück und vor allem
mit einer versöhnlichen Liebe. Liebe und Güte verbunden mit der Kraft der
Göttin strahlte aus seinen Augen.
Hiimoris Kraft,
Glück und Zufriedenheit blieb vor den Gefängniswärtern nicht verborgen. Was sie
beobachteten, war ihnen fremd und noch nie in diesen düsteren Mauern gesehen
worden. Die einen entwickelten Scheu vor ihm, andere öffneten sich ihm als wäre
er ihr Vater. Manche holten sich bei ihm Rat oder baten ihn um Heilung und
gaben ihm Zusatznahrung als Entlohnung. Sie alle verhielten sich zuvorkommend
zu Hiimori und ermöglichten ihm innerhalb ihres Rahmens alles, was sie an
Annehmlichkeiten bieten konnten.
Es waren keine
zwei Jahre vergangen, da hatte Hiimori eines Nachts eine Vision. Der Raum
erfüllte sich mit perlmuttartigem Licht. Die Kerkerwände verwandelten sich in
Felsen, aus deren Ritzen Blumen wuchsen. Da stand vor Hiimori der Khan, in
einem langen Mantel mit grünen Blättern als Stoffmuster, die mit von Gold
gestickten
magischen Zeichen durchzogen waren. Der Khan blickte Hiimori mit festem,
liebevollen Blick an und sprach: "Auch dieses Tor wird sich für dich
öffnen". Dann gab er Hiimori seinen Segen und die Erscheinung löste sich
auf.
Am nächsten Tag
hörte Hiimori die Wächter vor seiner Türe diskutieren. Er konnte heraus hören,
dass in der Zwischenzeit niemand nach ihm gefragt hatte und er anscheinend in
Vergessenheit geraten war. In der weiteren Diskussion einigten sich die
Wächter, dass nichts dagegen sprach ihn an einen Soldateneintreiber zu
verkaufen. Es wäre zwar nicht viel Geld aber doch eine Aufbesserung für sie.
Sollte sich später jemand wider Erwarten nach dem Gefangenen erkundigen, so
konnte man sagen, dass dieser an Auszehrung gestorben sei.
Und so geschah
es auch. Am nächsten Tag wurde Hiimori einem Soldateneintreiber übergeben. Es
kamen noch zwei weitere Gefangene dazu, die noch ausreichend gesund waren, um
für den Soldateneintreiber interessant zu sein.
Letztendlich
hatte Hiimori das Schicksal, das ihm in seiner Jugend bestimmt gewesen war,
doch eingeholt. Er wurde gezwungen Soldat zu sein. Der Unterschied zu einem
Soldatenleben, wie es ihn in seiner Jugend erwartet hätte, war allerdings groß.
Jetzt war es Hiimori gleichgültig, wo er lebte und was er zu tun hatte. Immer
war er in der Liebe der Göttin eingehüllt und das war sein eigentliches
Zuhause. Die Welt hier war für ihn nur eine Durchgangstation, eine
vorübergehende Reise, die er wie ein Tourist beschaute. Er war weit davon
entfernt, sich noch mit den Geschehnissen zu identifizieren.
Gegenüber den
Bauernsöhnen hatte sein jetziger Dienst auch Vorteile. Verpflichtete und ältere
Soldaten konnten sich im Laufe relativ kurzer Zeit bessere Positionen oder
Bedingungen verschaffen als die Bauernsöhne. Sie bildeten eine eigene Gruppe
innerhalb der Soldaten, die zusammen hielt und sich die günstigsten Dienste
zuzuschieben wusste. Der Küchenchef bat den Kommandanten, ihm Hiimori als
Gehilfen beim Küchendienst zuzuweisen, da dieser über exzellente
Kräuterkenntnisse und Kochkünste verfüge. Das waren Argumente, denen sich der
Kommandant nicht verschließen konnte, vor allem in Hinblick darauf, dass er
sich das Essen extra kochen ließ und gutes Essen liebte. Für Hiimori war das
nicht nur eine angenehme Tätigkeit, sondern er hatte zudem oft Ausgang, um für
den Kommandanten Zutaten und Wein zu besorgen. Das waren Gelegenheiten, in
welchen Hiimori Informationen sammelte und so manchen Kontakt knüpfte.
Hiimoris
Garnison wurde kreuz und quer durch das Land geschickt. Gelegentlich kamen sie
in größere Städte wie Nowgorod oder Kiew. Wann immer sich die Möglichkeit bot,
suchte er in den Städten Buchhändler auf und stöberte in deren Läden nach
seltenen Werken religiöser oder spiritueller Weisheiten, egal ob jüdischen oder
buddhistischen Ursprungs oder woher auch immer sie stammen mochten. Manch
wertvollen Schatz trug er in sein Soldatenlager heim.
Gelegentlich
traf Hiimori alte Vertraute aus dem ehemaligem Hexenreich. Sie berichteten ihm,
dass nach seinem Sturz die Gegensätze zwischen dem östlichen und westlichen
Teil unüberbrückbar geworden waren. Es war ihm kein Khan mehr nach gefolgt und
das westliche Hexenreich war in viele kleine Splitterteile zerfallen. Der Osten
dagegen blieb relativ heil, schon deshalb, weil Tschöd-Angehörige eng mit
buddhistischen Klöstern verbunden waren, dort spezielle Funktionen ausübten und
sich nicht verbergen mussten.
Nach einigen
wenigen Jahren entstand für Hiimori eine neue Situation, als seine Kompanie in
den Osten des Landes verlegt wurde. Es war ein vom militärischen Standpunkt aus
friedliches Gebiet. Die Soldaten hatten lediglich die Aufgabe, durch ihre
Präsenz die Stärke der russischen Nation zu zeigen und durch ihre Gegenwart vor
etwaigen Übergriffen abzuschrecken.
Für Hiimori
brach ein ruhiges Leben an. Er hatte viel Zeit zum Nachdenken, zum Schreiben
und zum Lesen. Auch begegnete er hin und wieder Schamanen, Lamas und
gelegentlich auch Rabbis, mit denen er Erfahrungsaustausch pflegen konnte und
viel Neues dazu lernte.
Hiimori begann
über seinen früheren Lebensabschnitt als Hexer nachzudenken. Wie schnell kann
doch ein Leben zu Ende sein, dachte er. Zu oft hatte er kräftige, vitale
Kameraden um sich gesehen, die unverhofft in einem Gefecht oder durch eine
Krankheit ihr Lebensende fanden. Der Tod war allen ein ständiger Begleiter und
er zeigte jedem, wie kurz und hinfällig ein menschliches Leben sein konnte,
wenngleich es nur die wenigsten begreifen wollten. Unter dieser Perspektive
schien eine Gebrauchsmagie, wie sie unter Hexen vorherrschte, an Bedeutung zu
verlieren. Es lohnte sich kaum Lebensbedingungen durch Magie zu verbessern. Der
Aufwand hierfür war viel zu groß. Ein guter Geschäftsmann konnte mit weniger
Aufwand sein Schicksal wesentlich erfolgreicher aufbessern und einfacher zu
behaglichem Wohlstand gelangen.
Unter den vielen
Tschöd-Hexenpraktiken und Fähigkeiten gab es jedoch auch solche, deren Wert
durch alle Schätze der Welt nicht aufzuwiegen war. Fähigkeiten, die er nie und
nimmer vermissen wollte. Dazu gehörte das Seelenreisen und die Fähigkeit, tief
in die Seelen der Menschen eintauchen zu können. Dieses Hellsehen erschloss ihm
Wissen vom gegenwärtigen Sein jener Menschen bis in deren Zukunft und bisweilen
sogar zurück in die Zeiten ihrer vorheriger Leben. Ja, dass es Vorleben gab,
hatte er erschauen gelernt. Er wusste, dass es so etwas gab, auch wenn viele im
Westen dies anzweifelten. Jedenfalls bekam das Schicksal durch die Möglichkeit
der Vorgeburten eine andere Logik und einen anderen Stellenwert. Es zeigte sich
nicht mehr in der oberflächlichen Sichtweise. Die Schicksale, welche durch die
Zeiten erlebt wurden, zeigten sich als Schule, als ein Weg des Lernens. Das
Ziel war es zum Ebenbild Gottes zu werden, jedoch nicht im Sinne Luzifers, der
mächtig wie Gott werden wollte, sondern im Sinne der All-Liebe, jener Kraft,
der die Schöpfung ihr Entstehen verdankte.
Wenngleich
Hiimori aus Angst vor Unverständnis niemandem über die tiefsten mystischen
Erkenntnisse etwas erzählte, so war er dennoch unter den Soldaten geehrt und ob
seiner inneren Würde und Lebensweisheit geschätzt. Niemand wusste seine
Herkunft oder seinen Namen. Im Grunde genommen war er für alle ein vom
Geheimnis umwitterter Mensch, der immer bereit war mit Rat zu helfen, oder so
manche Krankheit durch Kräuter oder sonst wunderbare Art zu heilen.
Es war knapp ein
Jahr in diesem abgelegenen Soldatenlager vergangen, als ein mongolischer Reiter
auftauchte und sich im Lager nach Hiimori erkundigte. Er hatte ein langes
Gespräch mit Hiimori, das niemand verstand, weil es in mongolischer Sprache
erfolgte.
Am nächsten Tag
wurde Hiimori beim Lagerkommandanten vorstellig. Er bat um seine
Dienstentlassung. Der Kommandant lehnte ab.
"Ich kann
meinen rechten Arm kaum bewegen und bin praktisch unfähig meinem Dienst
nachzukommen". Mit diesen Worten schob Hiimori dem Kommandanten drei große
Goldstücke hin.
Der Kommandant
blickte mit großen Augen auf die Goldstücke: "Bei einer schwerwiegenden
Krankheit ist ein weiterer Dienst unmöglich", pflichtete er nun dem
Ansuchen bei. Er rief seinen Sekretär
und diktierte ihm ein Entlassungsschreiben. Dann ließ er einen Adjudanten rufen
und gab die nötigen Anweisungen.
Hiimori nahm nur
seine Bücher und Notizen mit sich. Alles andere verschenkte er. Durch das große
Holztor verließ er das Lager. Draußen wartete ein mongolischer Reiter mit einem
zweiten Pferd. Sie ritten weg. In einiger Entfernung gesellten sich neun
weitere Reiter dazu. Sie waren wie Lamas gekleidet, allerdings mit seltsamen
Mützen und mit Gewehren bewaffnet, welch Letzteres für Lamas undenkbar war.
Sie ritten gegen
Osten ab. Der aufgehenden Sonne entgegen. In endlosem Ritt durchquerten sie die
weiten Steppen, dem Altaigebirge entgegen, wo sich ihre Spur verlor.
dem Altai entgegen
Bis in die
heutige Zeit erzählt man sich von einem geheimnisvollen Kloster, das
unauffindbar in den felsigen Bergen versteckt sei. Die Phantasie der Menschen
schuf um dieses Gerüchte und geheimnisvolle Geschichten; Schätze wären dort und
geheimnisvolles Wissen. Dort residiere ein schwarzer Khan, tief an Wissen, Kraft,
Liebe und Vollkommenheit. Nur wenige wussten die verschlungenen Wege zu diesem
Kloster, das verborgen hinter felsigen Höhen und entlegenen Tälern lag. Es gäbe
eine geheime Gefolgschaft bis weit nach Russland. Die Mitglieder gäben sich
nicht zu erkennen. Niemand weiß, ob es viele oder wenige sind.
Erstausgabe Wien, 2012, überarbeitet 2017
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Alfred Ballabene