Die Schicksalsbücher

 

Alfred Ballabene

alfred.ballabene@gmx.at

gaurisyogaschule@gmx.de

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Vorwort                                                                          

Kapitel 1       Im Krankenbett                                      

Kapitel 2       Felsen und andere Steine                       

Kapitel 3       Die Stadt                                               

Kapitel 4       Auf der Suche                                        

Kapitel 5       Im Haus von Daya                                

Kapitel 6       Wiedersehen mit Berta                           

Kapitel 7       Ein Spaziergang mit Berta                      

Kapitel 8       Der Altar      

Kapitel 9       Die Schicksalsbücher                             

Kapitel 10     Die russische Gräfin                             

Kapitel 11     Gedankenflüsterer                                

Kapitel 12     Seelen wie bunte Blumen                     

Kapitel 13     Zukunftsperspektiven       

Kapitel 14     Abschluss              

 

 

 

Vorwort

 

 

Wir fühlen uns zwar in der irdischen Welt zu Hause, aber genau genommen statten wir dieser Kulisse nur einen Kurzbesuch ab. Unsere wahre Heimat ist in einer anderen Dimension, im Jenseits. Dort warten unsere Angehörigen und Freunde auf uns, unsere Liebsten, mit denen wir schon seit ältesten Zeiten verbunden sind.

Wir gelangen nicht gleich nach unserem irdischen Tod in unsere jenseitige Heimat. Weshalb lässt sich auch leicht erklären: aus unserer irdischen Niederkunft nehmen wir einen mehr oder weniger schweren Ballast an Erinnerungen und Emotionen mit, der zunächst einmal verarbeitet werden muss. Wieder bewegen wir uns durch ein Umfeld, das wir genauso wie die irdische Welt als Kulisse bezeichnen können. Man könnte diese Kulisse auch mit einem Spiegel vergleichen, denn sie entspricht unserer inneren Verfassung. Unser inneres Befinden ist sozusagen nach außen gekehrt, durch eine Umwelt, die mit uns schwingungsmäßig in Resonanz steht und von der wir uns hierdurch angezogen fühlen. Das alles läuft unbewusst ab. Es ist sozusagen unser Unterbewusstsein, welches unser Geschick steuert. Seien wir ehrlich, schon auf Erden hat unser Unterbewusstsein unser Schicksal mehr bestimmt als unser freier Wille.

 

Mag unser freier Wille auch nicht in unseren Entscheidungen das erste Wort haben, aber er kann wesentlich zu unseren Entscheidungen beitragen. Letztendlich ist dieser freie Wille die entscheidende Kraft, welche unser Geschick bestimmt, in dieser irdischen Welt und auch in der jenseitigen Welt.

 

Je mehr wir unser selbst bewusst sind, je weniger wir von unseren Instinkten und Wünschen abhängen, desto freier werden wir in unseren Entscheidungen. Frei in unserer Selbstbestimmung zu werden ist das Ziel unserer Entwicklung. Es ist ein langer und mühsamer Weg. Manche wollen es einfacher haben und glauben den Weg der Selbsterkenntnis nicht gehen zu müssen. Solche Menschen verschreiben sich etwa der Macht und glauben durch Macht frei zu sein. Aber es ist nur eine Illusion, der sie erliegen und spätestens mit dem irdischen Tod kommt das Erwachen und die selbstherrliche Illusion fällt ab wie Staub von einem Reisegewand.

 

Die Schicksale der Menschen sind vielfältig, nicht nur in der irdischen Welt, sondern auch im Jenseits. Wenngleich kein Schicksal dem anderen gleicht, so können wir dennoch aus dem Schicksal eines anderen Menschen lernen. Und je mehr Schicksale wir durch Einfühlungsvermögen nacherleben, umso einsichtiger und verständnisvoller werden wir gegenüber den Turbulenzen und Geschehnissen, die von geheimnisvollen Kräften gelenkt, den Karmakräften, unser und der anderen Leben bestimmen.

 

Möge dieses kurze Büchlein einen Beitrag hierzu leisten.

 

1

 

Im Krankenbett

 

 

 

Albin vor seiner Krankheit

 

Albin war nun schon seit einem Monat krank und bettlägerig. Seine Umgebung nahm er nur getrübt wahr. Er sah besorgte Gesichter die sich zu ihm beugten. Seine Frau sprach beruhigende Worte zu ihm und er merkte an ihrem Tonfall, dass sie in weitaus größerer Sorge war als er selbst. Die Furcht vor seinem Tod klang aus jedem Wort heraus. Sein Tod würde in ihr Leben eine große Lücke reißen. Sie würde einsam sein und seine Nähe vermissen. Er, Albin, dagegen fühlte sich friedlich, wenngleich sehr müde und meist in wirren Träumereien versunken.

Die meiste Zeit schlief er, wachte auf und schlief nach kurzer Zeit wieder ein. Er war zu geschwächt und langes Wachsein und das Sitzen im Bett machte ihn müde.

 

Wieder war er aus tiefem Schlaf erwacht. Es schien diesmal ein besonders erholsamer Schlaf gewesen zu sein. Vielleicht hatte ihm irgend ein Mittel der modernen Medizin dazu verholfen, ein Medikament, das wie manches andere kleine Wunder vollbringen konnte. Ohne Schwierigkeiten, jedoch anscheinend noch etwas benommen, hatte er sein Bett verlassen. Ein Lebensgefühl, das er schon lange nicht mehr hatte. Es erfüllte ihn mit Freude. Sein Bewusstsein klärte sich allmählich und er genoss es in neuer Leichtigkeit durch das Zimmer zu gehen. Es war ein wunderbares Gefühl.

 

Es schien bereits abends zu sein, denn es war dämmrig im Zimmer. Es war unglaublich still. Kein Auto, kein Hundegebell, kein Moped war zu hören. Auch die Dämmerung war gleichmäßig. Keine schaukelnde Straßenlaterne belebte durch einen Wechsel von leicht Heller und Dunkler. Kein Autoscheinwerfer ließ für kurz das Zimmer heller werden. Kein Mond strahlte herein, um sich sogleich neckisch wieder hinter einer Wolke zu verstecken. Kurz schossen Albin diese Gedanken durch den Kopf, um sogleich durch neue Gedanken verdrängt zu werden. Würde der Mond herein scheinen gäbe es im Zimmer Schatten. Aber es gab keine Schatten. Kaum aufgetaucht, verschwand diese seltsame Beobachtung wieder aus Albins Bewusstsein und wechselte zu seiner Entscheidung das Licht aufzudrehen. Entschlossen ging er zum Lichtschalter, um das Tageslicht in das Zimmer zu holen. Doch zu seiner Überraschung funktionierte der Schalter nicht. Wäre er die Zeit vorher gesund gewesen, hätte er den Schalter repariert. So aber schien die Wohnung in manchen ihrer Funktionen ebenfalls abgebaut zu haben wie sein Körper. Wenn er wirklich durch ein neues Medikament wieder gestärkt ins Leben treten würde, so wären diese kleinen Reparaturen als erstes fällig. Noch mit diesen Gedanken befasst wechselte er in das benachbarte Wohnzimmer, in der Hoffnung dort seine geliebte Frau anzutreffen. Sie war dort, so wie erwartet. Sie saß im Lehnstuhl, auf ihrem Schoß ein Buch, das sie abgelegt hatte. Ihre Augen waren geschlossen. Anscheinend war sie eingedöst. Albin sprach sie leise an, um sie nicht zu erschrecken. Da sie nicht reagierte, tupfte er sie sanft an der Schulter an. Sie fühlte seine Berührung, erhob ihren Kopf, öffnete die Augen und sah sich erstaunt um. Zu Albins Erstaunen schien sie ihn nicht zu sehen. Er sprach sie an, doch sie reagierte nicht. So sprach er etwas lauter und eindringlicher. Doch statt einer Antwort und statt sich zu freuen, dass er stark genug war das Bett zu verlassen, griff sie sich verwirrt an die Stirne, erhob sich und ging in die Küche, wo sie sich ein Glas Wasser nahm.

 

Weshalb ignorierte ihn seine Frau? Die Situation war unwirklich seltsam. Albin begann sich zu beunruhigen und die verschiedensten Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Vielleicht träumte er. Oder es waren die Medikamente, welche die Wahrnehmungen mit Halluzinationen überlagerten? Er sprach weiter eindringlich zu seiner Frau, aber sie schien ihn nicht zu bemerken. Tausende Gedanken, im Versuch die Situation zu erklären, schossen ihm durch den Kopf. Doch statt Klarheit zu finden wurde er eher verwirrter. Als er sich selber ein Glas Wasser nehmen wollte, griff seine Hand einfach durch das Glas hindurch. Nun versuchte er dies an anderen Objekten und stellte es ebenfalls fest, inklusive dem Lichtschalter.

 

Verwirrt und beunruhigt kehrte Albin wieder ins Wohnzimmer zurück und ging im Raum auf und ab, eine alte Gewohnheit, wenn er versuchte seine aufgewühlten Gedanken wieder zu ordnen. Da sah er unverhofft seinen lang verstorbenen Großvater vor sich stehen. Er war von einer schwachen Lichtaureole umgeben. Albin starrte die Erscheinung an, die es doch in Wirklichkeit nicht geben konnte. Wieder schossen ihm allerlei Gedanken durch den Kopf. Er musste sich in einer Fieberphantasie befinden, ja, das musste es wohl sein. Er schloss und öffnete einige Male seine Augen, doch die Erscheinung seines Großvaters blieb beharrlich bestehen. Vielleicht war Geduld von Nöten. Wäre es ein Traum, so müsste sich über kurz oder lang die Szene ändern. Albin hatte sich durch viele Jahre eingehend mit Traumgesetzen und Traumsymbolik befasst und wusste: Träume sind von häufigem Szenenwechsel gekennzeichnet. Auch ist in Träumen Logik und Denken reduziert, wenn man von Klarträumen mal absieht. In seiner Selbstanalyse stellte er fest, dass er denken konnte, ja logisch denken konnte. Sofort meldete sich ein neuer Gedanke: in Träumen könnte man den größten Unsinn erleben und den größten Unsinn denken und es wird einem immer logisch erscheinen. Wäre es nicht so, so hätte dies einen Weckeffekt zur Folge und genau das möchte der nach Erholung strebende Körper vermeiden. Schwer die Situation zu bewerten. Vielleicht irrte er sich, doch sein Eindruck war, dass sein Denken, wenngleich aufgewühlt, doch klar und nicht wie in Träumen war. Er ging weiterhin erregt auf und ab. Das Gehen beruhigte ihn. Sein Großvater stand nach wie vor im Raum und blickte aufmerksam zu ihm her. Allmählich gelang es Albin seine überstürzten Gedanken so weit zu kontrollieren, um zu einer mittelmäßigen Ruhe zu kommen. Etwas ruhiger versuchte er zu überlegen. Langsam rückte die Vorstellung in den Vordergrund, dass er vielleicht verstorben sein könnte. Er hatte in früheren Jahren etliche Jenseitsbücher gelesen, wo solche Zustände beschrieben wurden. Ob es das wohl wäre?

 

Verblüfft über die neu aufgekommene Vorstellung, dass er nun vielleicht selber ein Geist wäre, so wie er das in manchen Berichten beschrieben fand, blickte Albin nun mit größerem Interesse zu seinem Großvater. Sein Großvater schien das Abklingen der Verwirrung und den fragenden Blick mit Erleichterung zur Kenntnis zu nehmen und redete ihn jetzt an. Kurz sprach er: "Es stimmt, du hast Deinen irdischen Körper abgelegt." Albin akzeptierte diese Worte als wahr, jedoch führte dies keineswegs zu einer Beruhigung. Im Gegenteil. Eine Flut von Gedanken überstürmte Albin, Gedanken darüber was in der Welt noch unerledigt liegen geblieben sei, wie seine Frau zurecht kommen würde, ob diese oder jene Rechnung bezahlt wäre, ob seine Frau das Passwort für seine Mailbox kennen würde, um seinen Bekanntenkreis zu verständigen und vieles von Wichtigem und Unwichtigem mehr.

Der Großvater wartete geduldig, bis sich die Gedanken Albins allmählich beruhigt hatten und er sich mit seiner Situation abgefunden hatte. Dann sprach er beruhigende Worte und erklärte Albin, dass dieser ein gutes Leben geführt habe und Freunde in der jenseitigen Welt auf ihn warten würden. Er wäre nicht alleine und hätte viele ihn liebende Seelengefährten, denen er bald begegnen würde, sobald er seine dichtere und noch dem Irdischen verhaftete Seelenschwingung abgelegt hätte. Albin nahm die Worte dankbar an. Es war weniger der Inhalt des Gesagten, was für ihn wog, sondern die Tatsache, dass er der Situation nicht hilflos und allein ausgeliefert war und es ein vertrautes Wesen gab, mit dem er sich austauschen konnte.

Großvaters Kraft und Ruhe übertrug sich auf Albin, der allmählich zur Ruhe fand, zu seinem bevorzugten Polsterstuhl ging und sich in diesen setzte. Zusehends legten sich die Emotionen und die gegenwärtige Situation wurde weniger dramatisch. Die Gedanken wurden träger und eine zunehmende Müdigkeit erfasste ihn. Bald schien er in einen erholsamen Schlaf zu versinken.

 

2

 

Felsen  und Steine

 

Albin hatte den Eindruck, als wäre er aus einem langen Schlaf erwacht. Zunächst hielt er seine Augen noch geschlossen. Langsam, wie aus einem Nebel, tauchten seine letzten Erinnerungen auf. Er ließ sich Zeit diese zu ordnen und zu klären. Er war krank und lag Tage oder Wochen im Bett. Das war klar. Das Letzte jedoch woran er sich erinnerte war verwirrend:

Er fühlte sich viel gesünder an, ging durch die Wohnung und seine Frau nahm ihn nicht wahr. Dagegen sah er seinen verstorbenen Großvater, der ihn sogar ansprach. War es möglich, dass er, Albin, in die andere Welt gewechselt hätte? War alles Traum oder Wirklichkeit. Jetzt war der Augenblick gekommen sich darüber Klarheit zu verschaffen. Hierfür war ein günstiger Augenblick gekommen, denn er fühlte sich wach, ohne jegliche Benommenheit und sogar bei Kräften. Noch hatte er seine Augen geschlossen und alles war ruhig. Wenn er sie jetzt langsam öffnen würde, so würde sich sicherlich alles klären. Höchstwahrscheinlich hatte er einen Traum gehabt und würde sich jetzt, gut ausgeschlafen wieder in seinem Bett vorfinden, mit seiner lieben Frau an der Seite.

Aber er hatte Zeit. Deshalb fühlte er noch in seinen Körper hinein. Das Körpergefühl war da, vollkommen wie gewohnt. Er fühlte Arme und Beine. Vorsichtig bewegte er einen Arm. Ja, das war in Ordnung und ebenfalls so wie immer; es war kein Unterschied. Oder doch? Er müsste doch seine Bettdecke fühlen und das war nicht der Fall! Noch etwas erstaunte ihn, als er so seinen Körper beachtete: er lag nicht, sondern saß, mit dem Rücken an eine harte Stütze angelehnt.   

Das war unverhofft. Diese verwirrenden Umstände musste er noch kurz sich setzen lassen, bevor eine genauere Überprüfung statt finden sollte. So ließ er noch kurz die Augen geschlossen. Dann öffnete er langsam die Augen.

Was er sah war unerwartet. Eine völlig veränderte Realität. Er saß auf einem Felsblock, mit dem Rücken an eine Felswand gelehnt. Vor ihm lag eine breite Talsenke mit seitlichen sich verzweigenden Schluchten, die von hohen, steilen Bergwänden eingesäumt waren. Es war eine beeindruckende Landschaft, urtümlich und mächtig.

 

Albin blieb sitzen und wartete ab, bis sich seine Überraschung und die Flut von Gedanken beruhigt hatten. So wie es aussah, war es nicht nötig sich in Aktionen zu stürzen.

Ob Traum oder jenseitige Realität, was immer es sein mochte, er konnte denken und sich kontrollieren. Das war schon einmal ein guter Ausgangspunkt, der versprach die Situation einigermaßen handhaben zu können.

 

Langsam wanderten Albins Augen über die Umgebung. Der Himmel war trüb, wie an Wintertagen, aber es war nicht kalt. Es waren keine Wolken zu sehen. Seine Augen glitten die Felsenwände entlang, suchten das Tal ab nach Wegen, Flüssen oder Anzeichen von Hirten, Unterständen oder Häusern. Es waren keine Anzeichen menschlicher Artefakte zu sehen. Alles war unberührte Natur. Die Bergwände zeigten Vorsprünge und Erker, Spalten und bestanden aus unterschiedlichem Gestein mit zarten bunten Farben. Neben dem Grau gab es gelbe und orangefarbene Gesteinsstreifen, welche die Wände durchzogen. Es gab auch rote Farben und bläuliche Schatten. Die Landschaft hatte eine eigenartige Schönheit.

 

Das Tal vor ihm war breit. Am Übergang zu den Felswänden türmten sich Halden vom Steinschlag. Seitlich einmündend sah er steile Schluchten, jedoch konnte er weder Wasserfälle, noch Bäche sehen. Alles war trocken und schien zudem ruhig und wie ausgestorben. Es musste eine Menschen ferne Gegend sein.

Einige Minuten noch blieb Albin sitzen. Er ließ sich Zeit beim Betrachten der Landschaft. Er fühlte sich körperlich wohl und hatte weder Hunger noch Durst. Nichts drängte ihn zur Eile. Er empfand die Landschaft als sehr schön und zusammen mit seinem sich gesund anfühlenden körperlichen Zustand kam ein Gefühl von Freiheit auf, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. In vollen Zügen genoss er immer wieder neue Details, die seine Augen entdeckten. Durch Monate hatte ihn sein Krankheit in die Enge eines Zimmers verbannt, das keine Abwechslung bot und eintönig wurde. Welch ein Kontrast zu dem, was er jetzt erleben durfte.

 

Dann nach dieser Weile innerer Sammlung und zunehmender Ruhe und Zufriedenheit erhob er sich, um sich auf den Weg zu machen. Noch einmal drehte er sich in alle Richtungen, genoss die Schönheit der Felsen und ging dann auf einen breiten Schotterpfad zu, der durch die Mitte der Talsenke sich um Vertiefungen und Felsen schlängelnd seinen Weg fand. Eine neue Welt war zu erkunden und er ging ihr zuversichtlich entgegen.

 

Albin hatte schon immer Steine geliebt. Von Zeit zu Zeit hob er einen der Steine auf, betrachtete die Maserung, die Färbung, trug ihn betrachtend einige Schritte mit sich, um ihn dann wieder am Rande des Weges abzulegen. Er warf ihn nicht einfach weg den Stein, denn eine Ehrfurcht vor seinem Alter forderte dies von ihm. Solcherart auch ließ ihm der Weg immer wieder neue Schönheiten entdecken und war für ihn schön. Andere Menschen hätten denselben Weg anders empfunden: einsam, karg und abstoßend. Auch daran dachte Albin und er sagte sich, dass nicht die Umgebung schön oder hässlich sei, sondern es vom Menschen abhängen würde, wie er sie bewerte. Man konnte hier glücklich sein oder traurig er war glücklich, wenngleich ihn auch ein wenig die Einsamkeit beschlich. Als er wieder seinen Blick über das Geröll am Weg gleiten ließ, sah er unweit einer knorrigen Staude etwas glitzern. Vielleicht ein Glimmer. Albin dachte an den Spruch der drei Hauptbestandteile von Granit:

"Feldspat, Quarz und Glimmer, die drei vergess' ich nimmer!"  

Neugierig ging er darauf zu und fand einen ovalen Stein, der seltsamerweise glatt geschliffen war. Albin fand das merkwürdig, denn hier in der trockenen Gebirgsgegend gab es keine Bachkiesel. Und was auch sollte sonst die Steine abrunden und schleifen? Der Stein war von grauer Farbe und mit vielen winzigen Kristalleinschlüssen, die, ebenfalls merkwürdig, alle Farben reflektierten. Er wendete den Stein in seinen Händen. Einen solchen Stein hatte er noch nie gesehen und er kannte sich in Mineralien gut aus. Dieser Fund war es Albin Wert mitgenommen zu werden.

 

Albin legte nun zügige Schritte ein und es mochte wohl eine Stunde vergangen sein, als das Tal sich weitete und die seitlichen Felsen in sanfte Hügel über gingen.

Der Weg verzweigte sich. Albin war unschlüssig, welchen der zwei Wege er nun gehen sollte und suchte bei jedem der zwei Wege den Horizont ab. Ratlos blieb er stehen, denn keine Richtung versprach mehr als die andere. Als er gedankenverloren in seine Tasche griff, fühlt er den Stein und da sich dieser warm anfühlte, holte ihn heraus. Es war eine gedankenverlorene Handlung. Zu seinem Erstaunen bemerkte er, dass der Stein auf der einen Seite, die zum linken Weg gewandt war dunkel blieb und auf seiner dem anderen Weg zugeneigten Seite in schwachem Glanz leuchtete. Merkwürdig war das. Albin wendete sich nun bewusst dem einen Weg zu und dann dem anderen. Der Stein wurde in Richtung des einen Weges dunkel und in Richtung des anderen begann er leicht zu scheinen. Das war merkwürdig und er wiederholte einige Male den Versuch, nur um von Neuem zu staunen.

 

Es war klar; im Jenseits und da schien er sich zu befinden, galten andere Gesetze als auf Erden. Er dachte an seinen Großvater. Vielleicht hatte dieser ihm einen magischen Stein geschickt, einen Kompass, der ihm in verschiedenen Situationen eine günstige Richtung zu weisen vermochte? Ohne noch einen weiteren Augenblick zu zögern ging er die Richtung, zu welcher hin der Stein aufgeleuchtet war.

 

Das Land wurde flacher und der nun breiter gewordene Weg begann leicht bergab zu führen. Die Vegetation war nach wie vor karg und bestand aus blattlosem Dornengestrüpp. Nach einer Wegbiegung um einen Hügel stand Albin unversehens vor einem weiten Talkessel. Ein breiter Weg führte hinab, verzweigte sich weiter unten, um sich dann in vielen kleinen Wegen zu verlieren. Zwischen den Wegen sah man schwarzen Morast. Beides, Wege und Morast schienen in weiterer Entfernung miteinander zu verschmelzen. Dunkelgraue Nebelschwaden überdeckten teilweise das Gelände. Zu beiden Seiten dieser Talsohle schien eine Hochebene zu verlaufen, die sich in weiter Ferne verlor und deren Ränder zum Talkessel hin zunehmend steil abfielen. Diesmal gezielt griff Albin in die Tasche und holte den Stein hervor. "Möge der Stein nun seine magische Kraft beweisen“, dachte Albin. Er hielt den Stein in Richtung des Talkessels. Der Stein blieb dunkel. Überraschenderweise erfüllte ihn eine innere Gewissheit, dass er nach rechts gehen und dort seinen Weg fortsetzen sollte. Als er den Stein nach rechts hielt, hellte sich dieser auf. Zur linken Seite hin gehalten, wurde der Stein nicht so dunkel wie in Richtung Tal, jedoch auch nicht so hell wie in der rechten Richtung. Albin war über beides hoch erfreut, über sein scheinbar richtiges Empfinden und die abermalige Hilfe durch den Stein. "Ein gutes Gespür ist viel wert und gibt Sicherheit“, dachte er.

 

Der Weg, den er nun ging, war ein schmaler, ausgetretener Pfad. Immer häufiger wurde das Gestrüpp von winterlich aussehenden Bäumen überragt. Etwas knorrig und krumm gewachsen waren sie, aber das gab ihnen sozusagen Charakter. Sie glichen harten Kämpfern, die sich unter widrigen Umständen behauptet hatten, Sturm und Wetter trotzend.

 

Kurvig wandte sich der Weg durch das blattlose Gehölz und schlängelte sich unverändert weiter. Es gab keine Abzweigung, sondern lediglich ein Vorwärts oder ein Zurück. Die Zeit verging und das Gehen wurde monoton. Da sich weder Abwechslung zeigte, begann Albin mehr und mehr seinen Gedanken nach zu hängen. Die letzten Jahre seines Lebens zogen an ihm vorbei, sprunghaft einmal dieses und jenes Ereignis und zwischendurch immer wieder ein Stück der Kindheit. Bilder ohne scheinbaren Zusammenhang.

Noch in Erinnerungen versunken, stand er jählings vor einer Lichtung, mit einer Hausruine am gegenüberliegenden Rand. Das Dach war noch zur Hälfte vorhanden und endete in dunklen Latten, die waagrecht in die Luft vorstießen. Das verbliebene, restliche halbe Haus hatte keine Eingangstüre mehr. Dort wo einst die zweite Hälfte des Hauses stand, war ein Schuttkegel aus Ziegel, Mauerwerk, Dachziegeln und Dachsparren. Zwischen dem Schuttkegel und dem verbliebenen Hausteil war eine natürliche Passage, durch die man hinein klettern konnte.

 

 

Das Dach war noch zur Hälfte vorhanden

 

Albin wurde neugierig. Das Haus war ja das erste Zeichen einer menschlichen Präsenz auf seinem bisherigen Weg. Der Anblick der Hausruine ließ seine Einsamkeit verstärkt in Erscheinung treten und er begann sich nach Gesellschaft zu sehnen. Er entschloss sich in die Hausruine hinein zu klettern, einfach weil ihm durch den Anblick von Möbeln, Scherben oder was immer dergleichen da sein mochte, wenigstens für einige Augenblicke die menschliche Zivilisation wieder nahe war.

 

Das Innere des Hauses war dunkel, der Boden eben und ohne Schutt. Es schien hier trocken und weniger kühl als draußen zu sein. Zu sehen war nichts. Albin entschloss sich zu einer kurze Rast, obwohl er eigentlich nicht müde war. Er setzte sich nicht weit vom Einstieg auf den Boden und lehnte sich an die Wand.

Wie er so in das Dunkel des Inneren blickte, hatte er den Eindruck, dass in der rückwärtigen Ecke noch jemanden zu sitzen schien. Ganz sicher war er sich nicht, weil sich jener dunkle Fleck nicht bewegte. Aufmerksam beobachtete Albin weiter und versuchte mit allen seinen Sinnen die Stelle auszuloten. Und tatsächlich, nach kurzer Zeit war er sich dessen gewiss, saß dort jemand und schien zu schlafen oder zu dösen.

Albin sah davon ab an die dunkle Stelle heran zu gehen. Er wusste nicht ob jener Mensch freundlich reagieren würde. Als ihm die Zeit doch zu lange wurde, räusperte er sich. Der dunkle Fleck belebte sich und es erweckte den Eindruck, als ob jener Mensch den Kopf heben würde. Albin verhielt sich wieder still. Er wollte nichts überstürzen dadurch, dass er aufstand oder mit lauter Stimme sprach.

So herrschte wieder durch kurze Zeit Stille. Dann begann er in einer Art Selbstgespräch vor sich herzusagen, dass er lange Zeit gewandert sei, ohne etwas anderes als blattlose Bäume und Felsen angetroffen zu haben. Und er fügte voll Selbstbedauern hinzu, dass er die ganze Zeit einsam war und jetzt, wo er einen Menschen gefunden habe, dieser ihn in keiner Weise beachte.

Die Taktik schien erfolgreich zu sein, denn sein Gegenüber ließ endlich mit leiser Stimme hören, dass es auch ihm nicht sonderlich gut gegangen sei, und dass er den Klagen, die er hörte beipflichten könne.

Albin bemühte sich durch Zwischenfragen und Kommentare das Gespräch in Gang zu halten und war letztlich über seinen Erfolg zufrieden. Auch erzählte er seinerseits über seine Eindrücke, die er in letzter Zeit erlebt hatte. Die Felsen der Schluchten wurden in seiner Schilderung höher, dunkler und bedrohlicher. Dass er sie schön fand, vermied er zu erwähnen. Ebenfalls schilderte er die morastige Senke, die er gemieden hatte.

Sein Gesprächspartner schien aus einer anderen Richtung gekommen zu sein, denn Albins Landschaftsschilderungen waren ihm fremd. Wie sich zeigte schien er die Umgebung nach anderen Gesichtspunkten bemessen zu haben. Er war auf der Flucht und hoffte in den Wäldern hier Versteck und Zuflucht zu finden. In der Hütte fühlte er sich erstmals geborgen. Also war er hier geblieben. Ganz glücklich war er über diese Situation bei weitem nicht. Es war für das Erste eine Möglichkeit um zur Ruhe zu finden. Er war hier schon geraume Zeit, wie lange konnte er nicht sagen. Tag und Nacht gab es nicht, es blieb immer gleichmäßig trüb, etwa wie an Wintertagen. Allmählich jedoch begann sich bei ihm ein Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit zu melden, doch schob er es auf den Weg weiter zu gehen, mit dem Risiko Gefahren ausgesetzt zu sein.

 

Albin fragte, ob es ihm gestattet sei, sich in seine Nähe zu setzen, um das Gespräch in gemütlicherem Rahmen fortzuführen. Sein Gegenüber war einverstanden.

Er setzte sich zu ihm hin und sah ihn genauer an. Der Mann neben ihm war zirka 40-jährig und von südländischem Aussehen. Er schien von lateinamerikanischer Herkunft zu sein.

Albin stellte sich vor. Er schilderte in kurzen Zügen sein irdisches Leben und mal dieses und mal jenes Ereignis.

Das Gespräch wurde lebhafter.

Albins Gegenüber stellte sich als Antonio vors, und begann seinerseits über sein Leben zu berichten. Es war weniger schön als das von Albin und hatte viele Schattenseiten. Ja, sein Leben war so hart, dass es kaum Erfreuliches zu bieten hatte.

 

Antonio

 

Er wuchs in Armut im Slum auf. Später hielt er sich über Wasser, indem er sich der Gang seines Stadtteiles anschloss. Diese hatte außer Schutzgeld und dergleichen eine zusätzliche Einkommensquelle - auf Anleitung eines Mittelsmannes wurden gegen Entgelt regimefeindliche Elemente terrorisiert, ausgeplündert und bisweilen auch "eliminiert“, wenn die Anweisungen so lauteten. Sonstige Raubüberfälle, die als eine Art Gegengeschäft galten, wurden von der Polizei nur halbherzig geahndet. Von oberer Stelle waren solche Aktionen zur Verschleierung der Aufträge gerne gesehen. Sicherlich gab es bisweilen Polizeirazzien, auch wenn diese um die Tabus wusste. Es gehörte einfach zum Spiel, musste so sein, damit die Bevölkerung ihr Vertrauen zur Polizei nicht gänzlich verlor. Hierbei wurde auch der eine oder andere festgenommen, aber dies war nicht tragisch. In diesem Falle wurden die Gang-Mitglieder nach meist kurzer Zeit "verlegt“, das heißt frei gesetzt. Es wurden auch immer wieder Mitglieder erschossen, jedoch seltener von der Polizei, sondern meist von anderen Gangs bei Überschneidungen von Geschäft oder Revier. Es gehörte zum Leben und man konnte dadurch, wenn man durch kam, in der Hierarchie aufsteigen. Zuletzt leitete Antonio eine Gruppe von zehn Mitgliedern. Sie besaßen ein kleines Lastauto für blitzschnelle nächtliche Überfälle.

 

Irgendwann, erzählte Antonio weiter, sei er bei einer Plünderungsaktion aus dem Hinterhalt erschossen worden. Zu seinem Erstaunen ging das Leben weiter. Es dauerte einige Zeit, bis Antonio heraus fand, dass er sich hierbei in einer jenseitigen Ebene befand. Im Wesentlichen unterschied es sich nicht von seinem irdischen Leben. Er gelangte dann nach etlichen schrecklichen Zwischenperioden in die jetzige Umgebung. Die Hütte hier war sein erster Unterschlupf, in welchem er Ruhe gefunden hatte. Es war so: in einer Stadt, irgendwo in der Ferne wurde er von einer Bande angeheuert. Da in der Stadt Anarchie herrschte, war die Bande ein scheinbarer  Schutz vor Willkür. Bald aber stellte sich heraus, dass die Bande die Zeit mit sinnlosen Quälereien verbrachte, welche weder für den Lebensunterhalt nötig waren noch sonst einen Sinn erfüllten. Es gab ja auch keine Lebenszwänge mit Hunger oder Durst aus den Bedürfnissen eines irdischen Körpers heraus.

Nach kurzer Zeit schon hatte sich Antonio geweigert an dem sinnlosen Randalieren, Raufen und den derben Späßen teil zu nehmen. Es hatte ihn zunehmend angeekelt. Diese Weigerung wurde als ein Aufbegehren gegen den Chef der Bande empfunden, was zur Folge hatte, dass er nun seinerseits zum Opfer wurde. Man achtete sehr darauf, dass er nicht entfliehen konnte und ergötzte sich an seiner Hilflosigkeit.

Letztendlich gelang es ihm doch zu entfliehen. Er verließ schleunigst die Stadt und gelangte in diese Hochebene. Unter den knorpeligen Bäumen und dem Gestrüpp, hoffte er Deckung vor seinen Verfolgern zu finden. Die hatten es aber anscheinend bald aufgegeben ihn zu suchen. Dennoch, Antonio blieb lieber auf der sicheren Seite.

Wenngleich das Gebiet, das er nun durchstreifte nicht schön war, so  fühlte er sich doch endlich nach langer Zeit frei, ohne in ein System gezwängt zu sein und Befehlen gehorchen zu müssen. Es war das erste Mal, selbst wenn man sein vergangenes irdisches Leben dazuzählte, wie er sich zugestand. Er genoss es seinen Weg selbst bestimmen zu können. So ist er dann über die Hochebene gewandert, bis er diese halb verfallene Hütte fand. Hier wollte er einige Zeit ruhen und die Vergangenheit mit ihren unguten Erinnerungen verarbeiten und abgleiten zu lassen.

 

Es gab viel worüber er nachdachte. Es war eine unbestimmt lange Zeit gewesen, da er sich hier aufhielt. Zur Abwechslung machte er immer wieder kleine Wanderungen in der Umgebung. So manche unschöne Erinnerung wurde in dieser Einsamkeit lebendig: Menschen, deren Existenz er zerstört hatte, tauchten vor seinem inneren Auge auf und ihre Verzweiflung durchdrang ihn bis ins Mark. Die Gefühle jener Menschen, die er zu Lebzeiten nicht wahrnahm, für die er nicht einmal Zeit hatte sie wahrzunehmen, diese Gefühle nun schlugen ihm jetzt in dieser Stille hart entgegen. Jetzt tat ihm seine frühere Handlungsweise leid. Aber, fügte er seufzend seinem Bericht hinzu, sei es jetzt nicht mehr möglich seine Handlungsweisen ungeschehen zu machen. Was blieb, war Resignation und eine gehöriges Maß an Selbstverachtung. Aus dieser Sicht heraus, wissend, dass es kein Ansehen gab, das er verlieren könne, bereite es ihm auch keine Schwierigkeiten ungeschminkt über sein Leben zu erzählen.

 

Es trat eine Pause ein. Albin nickte Antonio zu und fügte halb im Selbstgespräch und halb zu Antonio gewandt hinzu, dass bei ihm auch nicht alles zum Besten gelaufen sei. Er hatte wohl ein schönes Leben, hatte ein eigenes Haus, Familie und kaum Lebensprobleme. Allerdings habe ihn dies auch irgendwie blind gemacht. Er lebte gedankenlos für den Augenblick, so als würde sein Leben ewig dauern. Alle seine Vorsätze und Pläne der Jugend waren vergessen, schliefen in einer gewissen Monotonie des Lebens ein. Dann auf einmal war er alt und das Leben war vorbei. Er machte sich Vorwürfe wegen der verlorenen Chancen. Ein inneres Wissen jedoch versichere ihm, dass man Fehler zwar nicht mehr rückgängig machen könne, aber es wäre möglich, bei gutem Willen, in der Zukunft eine Art Ausgleich zu schaffen. In Resignation zu verfallen sei schlecht; besser sei es noch sich zu bemühen Gutes zu tun. Selbst die Versuche dazu wären schon eine Menge wert und würden zumindest ein kleines Maß an Selbstachtung wiederherstellen.

 

Antonio stimmte Albin nach langer Nachdenkpause zögernd zu. Die Worte schienen ihm einzuleuchten. Wenngleich er sich allein nie zu den hierfür nötigen Taten würde aufraffen können. Er wüsste auch nicht was er hierfür tun solle. Mit Albin zusammen als Gefährten schien das jedoch manche Chance in greifbarere Nähe zu rücken, meinte er. Außerdem, betonte er, sei ihm Albin sympathisch und seine Nähe versprach die hiesige Einsamkeit und Trostlosigkeit gegen eine gute Kameradschaft einzutauschen. Er bat Albin ihn begleiten zu dürfen und betonte immer wieder in kurzen Bemerkungen seine Freude einen Weggefährten gefunden zu haben in dessen Nähe er sich wohl fühle.

 

Beide erhoben sich und gaben sich wortlos die Hand. Dann konnten sie beide dem Bedürfnis nicht widerstehen und sie umarmten einander. Sie hatten das Gefühl, als wären sie innigste Freunde, die sich nach Jahren der Trennung wieder gefunden hätten.

 

Sie machten sich auf den Weg und gemeinsam den verschlungenen Pfad weiter verfolgend. Unterwegs plauderten sie angeregt, denn es gab vieles zu erzählen und zu klären. Antonio schien ein schier unerschöpfliches Reservoir an Erinnerungen zu haben und er konnte diese in fantastisch lebendigen Bildern vermitteln. Durch die Erzählungen fühlte sich Albin in die Tropen versetzt, sah Affen, bunte Vögel, Käfer und allerlei Insekten und dazwischen das Aufleuchten von Blüten in seltener Schönheit. Was das Leben von Antonio selbst betraf, so war dieses nicht gerade edel, aber ebenfalls auf seine Weise ereignisreich. Fasziniert lauschte Albin über die Städte und Banden und die andersartige Lebensart jenes fernen Landes. Wie war dieses Leben doch völlig anders als die Routine des ewigen Tagein und Tagaus seines eigenen vergangenen Lebens. Er bewunderte auch den Mut und die Bereitschaft Antonios jederzeit das Leben aufs Spiel zu setzen. Umgekehrt wunderte sich Antonio, über die zivilisierte Monotonie in Albins Leben.

 

Für jeden von ihnen waren die Erzählungen des anderen spannend. Fehler und Schuld verloren immer mehr an Bedeutung und wurden zu Elementen eines dynamischen Lebensdramas. Antonio gewann zusehends den Eindruck, dass er keineswegs aus purer Schlechtigkeit ein solches Leben geführt hatte, sondern durch ungünstige Umstände in jene Situationen hinein geschlittert war. Als Straßenkind und ohne Eltern suchte er Zuflucht, wollte er überleben. Jeder Tag seiner Existenz musste erkämpft werden und für moralisches Denken war hier kein Platz.

Albin seinerseits erkannte für sich, je mehr er sich in Antonios Leben vertiefte, dass jeglicher Moralismus unangebracht wäre und er an Antonios Stelle nicht anders gehandelt hätte. Über Moralismen lässt sich gut an einer Ofenbank diskutieren, im Leben ist aber vieles anders.

 

In Gesprächen vertieft übersahen die zwei Freunde, dass sich die Gegend allmählich verändert hatte. Die Hecken und Bäume waren allmählich weniger geworden. Das Gelände war freier. Sie hielten an und besahen sich die Umgebung genauer. Einerseits war die vor ihnen liegende Ebene freier, bot aber andererseits auch weniger Schutz.

 

Der Weg wurde breiter, und es dauerte nicht lange, da erblickten sie in der Ferne einige Baracken. Die erste Ansiedlung, an welche beide gelangt waren. Während Albin sich freute hatte Antonio eher gemischte Gefühle. Näher kommend erkannten sie, dass die Baracken zusammengeflickte Bretterbuden waren. Dazwischen lag Gerümpel. Es sah sehr verwahrlost aus.

 

Als die beiden Freunde bei der ersten Bretterbuden angekommen waren, versperrte ihnen ein verwahrloster, breitschultriger Mann den Weg.

"Sieh mal an, Besuch“, grinste er breit. "Ihr kommt wohl, um hier etwas Abwechslung zu finden oder uns zu verschaffen“, fügte er hinzu. "Wer sich uns nicht anschließt ist unser Feind.“

Als er merkte, dass er weder mit seiner Erscheinung noch mit seinen Worten den gewünschten Eindruck erweckte, pfiff er sein Gefolge herbei. Sofort kamen wenig vertrauensvolle Gestalten aus den Baracken herbei geeilt und umringten die beiden Freunde. Doch weder Albin noch Antonio hatten Lust sich zu unterwerfen. Der Boss der Gruppe deutete das Zögern richtig und riss eine Latte aus der Baracke, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Er ging auf Antonio zu und holte aus. Zu seiner Überraschung  wehrte Antonio den Schlag mit seiner Hand mühelos ab. Ein kleiner Kampf war nichts, was Antonio beeindruckte, gab es doch in seinem vergangenen Leben mehr als genug davon.

Bezüglich Antonio verunsichert, versuchte es der Typ jetzt bei Albin. Albin seinerseits liß sich ebenfalls ungern einen fremden Willen aufzwingen. Er wehrte genau so ab wie Antonio. Hierbei spürte er, dass sich um seinen Arm, mit dem er die Latte abfing, so etwas wie ein Kraftfeld aufbaute, das den Schlag abbremste, so dass die Latte nicht einmal seinen Arm zu berühren vermochte. Noch einmal versuchte es der Bandenführer und holte noch weiter aus. Jedoch die Latte glitt neben Albin vorbei. Albin war kaum ein wenig zur Seite getreten, hatte nichts weiter getan. Allein die innere Zuversicht und Bereitschaft wirkte als wäre ein unsichtbares Schutzfeld um ihn. Es war schwer zu sagen, wen dies mehr erstaunte, Albin oder den Bandenchef. Der Kerl versuchte es mit noch wilderen Schlägen, doch vergeblich.

Hämisch grinsend verfolgten die Bandenmitglieder das Geschehen. Es hatte den Anschein, als ob sie dem Boss wohl gehorchten, aber diesen keineswegs liebten und ihnen dessen Niederlage Freude machte.

Der Boss merkte dies und bevor er sich in einen aussichtslosen Kampf mit diesen beiden Magiern einließ, und für solche hielt er sie nunmehr, und sein Gesicht verlieren würde, schlug er brüllend auf seine Bandenuntertanen ein, um seine geschwächte Position wieder zu stärken.

 

Albin und Antonio gingen unbeachtet weg, ohne sich weiter um das Gebrülle und den Tumult zu kümmern. Sie hatten gehofft Gleichgesinnte anzutreffen und sich auf ein wenig Gesellschaft gefreut. Nun waren sie enttäuscht.

Die beiden waren noch nicht weit gegangen, da kam ihnen ein Mann nachgeeilt, dem Aussehen nach im Alter von etwa fünfzig Jahren. Er bat die zwei sich ihnen anschließen zu dürfen. Schnell noch stellte er sich als Valentin vor, um durch diesen Höflichkeitsakt eine bessere Akzeptanz zu erlangen.

 

 

Valentin

 

Albin und Antonio blieben stehen und sahen ihn schweigend an. Noch waren sie unschlüssig und wussten nicht, ob man sie tricksen wollte. In der Furcht abgewiesen zu werden und um glaubhafter zu erscheinen, erzählte Valentin in großen Zügen seine Geschichte. Er war vor einiger Zeit hier vorbeigewandert. Da hatten sie ihn gezwungen sich ihrer Bande anzuschließen. Bald schon sah er von welchem Niveau der Zeitvertreib dieser Menschen war und er weigerte sich mitzumachen. Zur Bestrafung wurde er gedemütigt und nun seinerseits ein Opfer, an dem man sich erheiterte und das man als Gefangenen fest hielt.

Das Auftauchen der zwei Freunde war für ihn nun die Chance gewesen zu entkommen. Als er erkannte, dass man während des Tumultes auf ihn nicht aufpasste, machte er sich augenblicklich aus dem Staub. In sicherer Entfernung der Baracken sah er dann die zwei Freunde auf ihrem weiteren Weg und war ihnen gefolgt. Ihr Verhalten beeindruckte ihn und er versprach sich in ihrem Beisein Schutz vor Verfolgung. Er bat die zwei Freunde noch einmal inständig ihn in ihrer Gesellschaft aufzunehmen,

 

Nachdem Albin und Antonio Valentin eingehender gemustert hatten, sagten sie zu.

Schweigend schritten sie ihre Wanderung in der nun weglosen Landschaft fort. Valentin wollte sich nicht aufdrängen und begann seinerseits kein Gespräch. Die zwei Freunde schwiegen und gingen zügig weiter. Allmählich hatten sie eine große Strecke zurückgelegt.

Der Bandenboss war für Albin schon längst uninteressant geworden, aber jenes eigentümliche Kraftfeld, das er bei den Attacken erspürt hatte, beschäftigte ihn. Er grübelte nach und endlich sprach er es Antonio gegenüber aus. Kurz diskutierten sie darüber, fanden jedoch keine Erklärung.

 

 

3

 

Die Stadt

 

Endlos weit schon gingen die drei durch eine gleichbleibende Landschaft. Die Tatsache, dass es keine Nächte gab, sondern eine unveränderte Diesigkeit, ließ die Wanderung noch monotoner erscheinen. Der graue, dunstige Himmel führte ähnlich wie an düsteren Wintertagen, auch hier zu einer Antriebslosigkeit. Der Stein, den Albin hin und wieder verstohlen hervor holte, zeigte kein Leuchten. Es war, als ob nie und nimmer eine magische Eigenschaft in ihm gewesen wäre. Antonio rettete die Stimmung durch immer neue Erzählungen. Er schien eine unerschöpfliche Quelle von Anekdoten und Mythen zu sein. Er konnte diese in farbiger Weise bringen, schmückte die Details phantasievoll aus und in der Phantasie der Freunde entwickelte sich eine unbekannte, tropische Welt. Antonios großartige Begabung des Erzählens verhalf allen das Umfeld zu übersehen und in ein  stimmungsvolles Miterleben einzutauchen.

 

Doch allmählich, während sie das weglose Ödland durchquerten, begann sich, kaum merkbar, die Landschaft zu ändern. Die Hecken wurden weniger, die Bäume größer, wenngleich nach wie vor blattlos. Es gab Senken und Hügel, die wie große Wellen wirkten und einzelne Felsen gleichsam darauf schwimmen ließen.

Den drei Freunden fiel diese wohltuende Veränderung kaum auf. Als sie wieder einen flachen Hügel erklommen hatten, standen sie völlig unverhofft vor einem sanften Hang. Unten sah man eine Stadt mit Häusern dicht an dicht, Türmen, Parks, schmalen und breiten Straßen. Das städtische Panorama war aufgelockert durch flache Hügel, einem Fluss, Bäche, Brücken, einer Stadtmauer und Türmen.

Die drei Freunde setzten sich an den Rand des Hanges und betrachteten die Stadt unter sich. Die Erwartung vielfältiger Eindrücke belebte die Phantasie und bald war ihre Unternehmungslust nicht mehr zu zügeln. Es drängte sie die Gebäude, Brücken, die engen Straßen des Zentrums und die aufgegliederten Außenbezirke zu sehen. Schon waren sie aufgesprungen, beschleunigten ihre Schritte und hatten den Hügel hinter sich gelassen. Sie eilten an einzelnen Landhäusern im Vorfeld der Stadt vorbei und bald waren sie in ein Gebiet dichterer Besiedelung gelangt. Schon hatten sie die ersten Straßenfluchten hinter sich gelassen und zogen wahllos durch enge Gassen und breite Straßen und genossen die Überfülle an Eindrücken, die sich ihnen bot.

 

Allmählich wuchs in den drei Wanderern das Interesse für das Detail und die Schritte wurden langsamer. Persönliche Vorlieben machten sich bemerkbar. Albin erkannte die unterschiedlichen Bewertungen seiner Freunde, die andere Interessensschwerpunkte hatten als er.

 

Antonio und Valentin fühlten sich von bunten Lichtern, Gewimmel und Unterhaltung angezogen, und mit Albin im Schlepptau, steuerten sie dem Zentrum der Stadt zu.

Auch Albin gefiel der Trubel, musste er sich eingestehen. Es war eine Folge der langen Wanderung durch einsame Gegenden. Er stellte fest, dass hier in erster Linie Lokale waren und keine Geschäfte. Es war logisch, denn Konsumobjekte hatten in dieser Welt der Illusionen keine Bedeutung. Alles war letztlich Geist erschaffen. Nicht materielle Werte sondern Unterhaltung zählte hier offenbar und so öffneten die Lokale ihre Pforten in erster Linie jenen, die Geselligkeit suchten. Es waren hauptsächlich Wein- und Bierstuben. Es gab auch Bretterpodeste mit allerlei Darbietungen und Rednern die für magische Zirkeln oder Sekten warben. In der Regel gab es keine Bedienung oder Service. Man nahm sich einfach was man wollte und allen war das recht.

 

Die drei Freunde blieben immer wieder stehen, speziell vor den Kleinbühnen auf offener Straße. Hier wurde musiziert, die Leute tanzten, klatschten, sangen mit oder riefen einfach dazwischen. Die offenen Bühnen schienen sich gleichsam auf der Straße fort zu setzen, wo sich Menschenknäuel um Raufereien oder um einzelne Redner bildeten, die Schwänke brachten oder predigten.

 

Nirgends wurde Eintrittsgeld verlangt, alles war erlaubt und zwischen Publikum und Akteuren war kaum ein Unterschied. Man konnte schreien und sich austoben oder auch still zuschauen. Manche sprangen einfach auf eine Bühne, um dort mitzumachen. Sicherlich war dadurch auch das Niveau des Gebotenen sehr gedämpft, dafür aber im wahrsten Sinne des Wortes volksnahe. Allen schien es Freude zu machen. Vor den Freunden schien sich ein Paradies des Vergnügens zu öffnen, in dem jede Person frei von Moralismen und Zwängen verstohlene und geheime Wünsche ausleben konnte. Es waren hauptsächlich im irdischen Leben unterdrückte Wünsche und diese waren meist nicht von sauberer Art. Wie immer, es schien allen gut zu tun, frei und ungebunden zu sein.

 

Während Albin und Antonio vom Geschehen absorbiert waren, war Valentin auf einmal von den zwei Freunden unbemerkt verschwunden. Die zwei Verbliebenen entdeckten erst nach geraumer Zeit das Fehlen ihres Freundes. Das war nicht verwunderlich, denn es kam immer wieder vor, dass der eine oder andere von ihnen von der Menge abgedrängt etwas zurück blieb oder etwas Interessantes entdeckt hatte und dort länger verweilte. Nun aber war es klar, sie hatten Valentin verloren, er war nirgends in nächster Nähe zu sehen. Albin machte sich Vorwürfe ob seiner Unachtsamkeit. Auch Antonio schien sehr betroffen zu sein.

Zunächst nahmen sie an, Valentin im Trubel verloren zu haben und gingen ein großes Stück des Weges wieder zurück. Valentin jedoch war nirgends zu sehen. Dann blickten sie in einzelne Lokale, schreckten aber bald davor zurück, die einzelnen Räume zu durchsuchen, denn zu schnell betrachtete man sie ob ihres Verhaltens als Spielverderber und pöbelte sie an.

 

Valentin hatte in der Zwischenzeit ein Weinlokal aufgesucht. Jetzt in dieser fröhlichen Umgebung wuchs das Empfinden, schon lange eine gelöste Atmosphäre entbehrt zu haben. Nach all den vergangenen, unerfreulichen Zeiten meinte er wohl einen guten Tropfen verdient zu haben, meinte er. Die Menschen hier waren gelöst, es gab Gesang und Gelächter, eine heimelige Atmosphäre. Valentin genoss es, wieder einmal in alt gewohnter Weise leben zu können. Nun ja, in seinem früheren Leben war er dem Alkohol sehr zugetan.

Er hatte schon etliche Flaschen Wein getrunken, eine Menge, die ihn in seinem vergangenen Leben sicher flach gelegt hätte, und er hatte viel vertragen damals. Hier aber schien der Wein keine Wirkung zu haben. Er wusste nicht, dass ein Astralkörper keine chemischen Wechselwirkungen kannte. So vertiefte sich nach einer Reihe ausgetrunkener Gläser das Empfinden, dass der Wein schal und bar jeden Aromas wäre. So war denn Valentin froh, als man ihm aus einem Nebenraum zuwinkte, wo sich eine fröhliche Tischrunde versammelt hatte. Mit weit ausholender Geste luden ihn zwei aus der dortigen Runde ein, sich an den Tisch zu setzen. Valentin ließ sich nicht zweimal bitten, schritt die paar Stufen in den Nebenraum hinunter und gesellte sich der Gesellschaft bei.

Die Gruppe am Tisch war gemischt. Die Runde wurde von einem gut gekleideten Herrn geführt, der erklärte, dass der heutige Tag für ihn ein Feiertag sei und er deshalb alle auf seine Kosten einlade. Sie mögen sich ohne Zurückhaltung jeden Wunsch erfüllen. Es wurden grobe Scherze gemacht, aber nicht auf Kosten der Teilnehmer, was Valentin als wohltuend und rücksichtsvoll empfand.

Nach einiger Zeit bemerkte Valentin, dass an der Ecke des Raumes ein heimeliges, von schwachem Kerzenlicht beleuchtetes Stübchen war. Von seinem Sitzplatz aus konnte es Valentin gerade noch sehen. Eine Dame dort lächelte ihm zu und winkte ihn zu sich. Valentin zögerte. Als hätte es der Lokalinhaber bemerkt, kam er zu Valentin und beugte sich zu ihm. "Unser Extrastübchen. Für erlesene Gäste. Sie kommen sicher von sehr weit, darf ich Sie einführen?“

Der Lokalinhaber fasste Valentin am Oberarm und führte ihn sanft und dezent in das  Extrastübchen.

"Helga“, bemerkte er, "eine stadtbekannte Schönheit. Es ist ungewöhnlich, dass Sie ihr Interesse gefunden haben.“

Valentin setzte sich zu der Dame und diese rückte ganz nahe an ihn heran und eröffnete ihm, dass sie sich freue, endlich eine Persönlichkeit gefunden zu haben, der man es ansehe, dass sie durch Feuer und Eis geschritten sei. Er sei ihr aufgefallen, da er sich vom schalen Massenpublikum deutlich abhebe. Ihre Menschenkenntnis sage ihr, dass er über all jene herausrage, die sich hier herumtreiben. Diese Worte taten Valentin ungemein gut. Endlich war hier ein Mensch, der in ihm den tieferen Kern seiner Persönlichkeit erkannte.

Die beiden befreundeten sich sehr schnell und letztlich, nachdem Helga offenbar Vertrauen gefunden hatte, lud sie Valentin ein, ihr Privatetablissement aufzusuchen.

Eingehängt, und Helga an Valentin geschmiegt, gingen sie einige Gänge entlang und gelangten zu einer mit Eisenrosetten beschlagenen Eichentüre. Zwei große, muskulöse Türsteher standen wie zufällig davor. Helga hängte sich von Valentin aus, öffnete die Türe und deutete Valentin mit einer Geste an, einzutreten. Hinter der Türe war ein roter Samtvorhang. Valentin ging darauf zu und als er gerade dabei war den Vorhang zur Seite zu schieben, bekam er einen kräftigen Tritt, der ihn schneller als erwartet durch den Vorhangschlitz beförderte. Er stolperte vor, trat aber ins Leere. Eine lange Stufenreihe tat sich vor ihm auf und er kollerte gute zehn Meter die Steinstufen hinab, wo er unten in einem düsteren Kellergang, mit rohen Erdwänden, liegen blieb.

 

Kurz blieb Valentin liegen, fassungslos über diese unerwartete Wende. Als er sich schließlich wieder sammeln konnte, erfüllte ihn maßloser Hass und Ärger, aber er wagte nicht, die Stufen hinaufzugehen, um sich dort mit den kräftigen Türstehern anzulegen. Außerdem wäre die Türe sicherlich verriegelt, sagte er sich, und so entschloss er sich den feuchten, finsteren Gang entlang zu gehen.

 

Allmählich fand sich Valentin in der Dunkelheit zurecht, er passte sich an und er konnte nunmehr die Umrisse mancher Details erkennen. Die Wände waren feucht, der Verputz abgefallen, Ziegel und Steine kamen zum Vorschein. Der Gang verzweigte sich immer wieder, endlos. Schutt und Gerümpel machten den Weg beschwerlich. Nischen und Schmutz luden dazu ein, sich einfach hinzuwerfen und aufzugeben. Manches Lumpenbündel, das er auf seinem Weg vorfand, war ein Mensch, in sich verkrochen und scheinbar leblos am Boden liegend. Schattenartige Wesen huschten quer über die Gänge. Auf manchen hier herumliegenden Gestalten tummelten sie sich.

 

 

Schattenartige Wesen huschten über so manchen erschöpft daliegenden Körper

 

Bald merkte Valentin, dass jene schattenartigen Wesen, welche gleich Ratten herum huschten auch ihn anfielen und versuchten ihm Kraft abzusaugen. Sie ließen sich keineswegs verscheuchen. Als er auf eines dieser ovalen Wesen trat, war dies ohne Wirkung, denn es lief oder schwebte gleich darauf weiter als wäre nichts geschehen. Er konnte sich immer weniger gegen diese unbekannten Sauger wehren und wurde zusehends schlaff. Irgendwann ließ er sich fallen und blieb liegen.

 

Albin und Antonio waren in der Zwischenzeit emsig auf der Suche, jedoch ohne Erfolg. Als Antonio die Sinnlosigkeit eines jeden weiteren Versuches betonte und aufgeben wollte, dachte Albin an den Kiesel in seiner Tasche. Albin hatte ihn schon fast vergessen, aber jetzt, in Anbetracht der vergeblichen Suche, erinnerte er sich wieder. Wahrscheinlich, so vermutete er, könnten sie nur noch durch seine Hilfe Valentin wieder finden.

Der Stein war Albins letzte Hoffnung. Er umfasste ihn in seiner Tasche, und projizierte den innigen Wunsch hinein Valentin zu finden. Er lud den Stein gleichsam mit seinem Wunschgedanken auf. Dann holte er den Kiesel aus seiner Tasche, drehte die Handfläche nach oben, hielt den ovalen Kiesel vor sich und begann sich zu drehen. Tatsächlich, bei einer Richtung leuchtete der Kiesel schwach auf. Es war ein unauffälliges sich Aufhellen, das von Außenstehenden sicher kaum bemerkt worden wäre. Nur wer um das Geheimnis wusste und auf die sich verändernden Schattierungen achtete, der konnte jene Zauberkraft des Kiesels erkennen.

Antonio war fasziniert. Ein solch magischer Kompass war das Letzte was er bei Albin vermutet hätte. Schon wollte er sich vorbeugen, um den Stein näher zu betrachten, als Albin den Stein schnell in seiner Faust verschloss und ihn anwies sich nicht so auffällig zu verhalten. Er wisperte Antonio zu, dass es ein unwiederbringlicher Verlust wäre, den Stein durch habgierige Passanten zu verlieren. Einer größeren Meute, die sich schnell bilden könnte, wären sie beide nicht gewachsen.

 

Vom Stein geleitet schlug Albin zum Erstaunen Antonios zielsicher eine Richtung ein. Selbst durch verwinkelte Gassen führte sie der Stein unbeirrt. Bald schon erreichten sie das Lokal, das auf Valentin eine so große Anziehungskraft hatte und welches Valentin erste Freuden, nach langer Zeit der Entbehrung, versprochen hatte.

Die Gäste blickten beim Kommen der zwei neuen Gäste auf. Sie schienen so gar nicht zum üblichen Publikum zu passen. Allein ihr suchender Blick verriet dies. Der Wirt nahm einen missbilligenden Gesichtsausdruck an, als Albin und Antonio den Raum durchquerten. Offenbar wollte der Wirt nicht durch Missstimmung die gute Laune der Gäste verderben, denn er ließ die beiden gewähren und beachtete sie nach dem ersten Argwohn nicht weiter.

Zum Glück waren die Räume in einer Reihe angeordnet und es war nicht nötig den Stein zu befragen. Albin durchquerte die Räume und Antonio folgte ihm. Sie gelangten zu der Eichentüre. Von Türstehern war nichts zu sehen. Die Türe war verschlossen. Als ein Öffnen vergeblich erschien, traten beide gleichzeitig auf die Türe ein. Splitternd fiel die Türe aus den Angeln, als wäre sie aus morschem Holz gefertigt.

Die zwei Freunde gingen die Stufen hinab und eilten durch dunkle Gänge voller Schmutzlöcher. Antonio war es mulmig und unheimlich. Am liebsten wäre er wieder zurück gelaufen. Bald aber schon wäre dazu keine Gelegenheit mehr gewesen, denn schon nach kurzer Zeit hatte er in den verwinkelten Gängen jegliche Orientierung verloren. Somit gab es ohne Hilfe kaum ein Entfliehen aus dem Labyrinth. Allein, ohne dem Stein Albins, wäre er auf jeden Fall verloren gewesen. Als sie die rattenartigen Schatten sahen, konzentrierten sie sich auf ein, sie beide umgebendes, Kraftfeld. Es half und sie blieben von jenen dunklen, ovalen Wesen verschont.

 

Sie hatten schon eine größere Strecke von Gängen und Abzweigungen hinter sich, immer wieder vom Stein geleitet, als sie vor Valentin standen. Wäre nicht der Stein gewesen, so hätten sie ihn nicht wieder erkannt und wären vorbei gelaufen. Er war wie ein Bündel aus Lumpen und dunkel wie der Boden selbst. Halb im Schmutz eingebettet, unterschied er sich kaum von all dem Unrat und Schlamm. Valentin war zu schwach, um aufzustehen. Er zeigte kaum Reaktionen auf seine zwei Freunde. Albin blieb nichts anderes über, als Valentin zu schultern. Nach wenigen Biegungen gelangten sie durch die Führung des Steines an eine verborgene Treppe und bald waren sie wieder oben auf der Straße.

 

Albin setzte Valentin ab und lehnte ihn an eine Hausmauer. Valentin machte mit herabhängendem Kopf und schlaffen Armen den Eindruck einer schmutzigen Stoffpuppe. Doch relativ bald erholte er sich in der freundlicheren Atmosphäre hier oben. Sein Gesichtsausdruck wurde wieder angespannt und bald war Valentin wie das Leben selbst und so wie sie ihn vorher kannten. Es war der Zorn, von der Frau betrogen und verraten worden zu sein, der ihn so schnell belebte. Er konnte es nicht fassen, dass er sich derart habe reinlegen lassen. Er wetterte in den unflätigsten Worten. Dieser Betrug und Verrat an ihm, traf ihn umso stärker, als ihm zuvor geschmeichelt worden war, er sich gehoben gefühlt und daran geglaubt hatte, um letztlich wie ein Stück Fetzen in den Keller geworfen zu werden. Die Kränkung war für ihn nicht verkraftbar und ließ nicht einmal Freude über seine Rettung aufkommen.

Antonio forderte Valentin auf endlich zu schweigen und zuzuhören:

"Du kannst es auch anders sehen und zwar nicht nur aus deinem eigenen Blickwinkel. Ich könnte mir gut vorstellen, dass jene Frau in ihrem irdischen Leben von Männern sexuell ausgebeutet, unterdrückt und herumgestoßen wurde. Jetzt in dieser jenseitigen Welt sei für sie der Augenblick gekommen, um an Männern Rache zu nehmen. In dieser kaum erfüllbaren Rachelust, sei ihr ein jeder Mann als Opfer willkommen, unbeschaut wie er denken und fühlen möge, unabhängig ob er ein guter oder schlechter Mensch sein mochte.“

Für Valentin klangen diese Worte zunächst keineswegs überzeugend, dazu war er noch zu sehr erzürnt. Allmählich jedoch griff das Argument, weil es das Gefühl seiner Abwertung heilte. Er akzeptierte, dass es kein persönlicher Affront gewesen sein könnte, sondern ein allgemeines Verhalten jener Frau. Allmählich beruhigte er sich. Da es bei dem Vorfall um einen ungezielten Racheakt der Frau gegangen war, fühlte er sich in seiner Person weniger getroffen. Mit dieser Vorstellung gelang es ihm zunehmend sein Selbstbewusstsein wieder herzustellen.

Als Antonio bemerkte, dass Valentin sich etwas beruhigt hatte, streckte er ihm die Hand hin und forderte ihn auf aufzustehen. "Ich bring ihn lieber schnell auf die Beine und sorge für Abwechslung, bevor er wieder zum Grübeln anfängt und neuerlich ausflippt“, dachte er sich.

Mit einer Bemerkung wie "schuftig, seine Freunde so sang- und klanglos zu verlassen“, zog er Valentin herauf, klopfte ihm auf die Schulter und beendete die Situation indem er die Frage in den Raum warf, was sie als nächstes unternehmen sollten.

Man beschloss Richtung Stadtrand zu gehen. Als sie die niedere Mauer eines verlassenen Vorgartens gefunden hatten, setzten sie sich zu einer Lagebesprechung nieder. Es klingt kurios, aber durch den Besitz jenes seltsamen Steines hatte Albin sehr an Prestige gewonnen. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, war Albin für seine zwei Freunde zum Wegführer geworden.

Was die Stadt anbelangt, so waren alle drei durch die Vorfälle um Valentin sehr ernüchtert. Sie war keinesfalls ein Ort, an dem sie für immer bleiben wollten. Deshalb stellte sich die Frage: wie sollte es weiter gehen? Valentin und Antonio blickten Albin erwartungsvoll an. Doch der Stein zeigte keine Richtung an. Das war enttäuschend. Nach einer kurzen Besprechung beschlossen sie weiter zu suchen und eventuell, wieder die Stadt zu verlassen.

 

4

 

Auf der Suche

 

Die drei Freunde wanderten nun aufmerksam durch die Straßen. Jetzt jedoch nicht um Geselligkeit und Vergnügen zu finden, sondern auf der Suche nach Information und Hinweisen. Sie wanderten an Häuser in allen Baustilen vorbei, an Kiosken, Denkmälern mit bizarren Gestalten, Durchgängen und versteckten Plätzen.

Sie erreichten ein altes Stadtviertel. Es hatte enge Gassen und aneinandergeschmiegte Fachwerkbauten. Die Gassen bestanden aus Kopfsteinpflaster und hatten eine flache Rinne in der Mitte. Sie waren sauber und wenig bevölkert. Dieses Stadtviertel war anders als die vorhergehenden und anscheinend jüngeren Stadtviertel, wenn man von dem kneipenreichen Stadtzentrum absah, in dem ebenfalls Altbauten zu finden waren.

Die Pflasterstraße, welche die drei Freunde nun entlang gingen, führte leicht bergab und endete abrupt an einem Metallgeländer, das den Zugang einer schmalen Stiege umsäumte. Die Stiege sah etwas verfallen aus und bestand aus alten Steinquadern mit verwitterten Fugen. Sie führte in einen tiefer gelegenen Stadtteil, über den man von oben, wo sie gerade standen, einen guten Ausblick hatte. Es war eine bunte Zusammenwürfelung von einfachen, ebenerdigen Häusern aus rohen Natursteinen denen benachbart sich oft prächtige Häuser angliederten, mit mittelalterlichen Fassadenmalereien, mit Erkern und Giebelchen. Hin und wieder sah man dazwischen prachtvolle Gebäude voll Verzierungen und Stein- und Bronzefiguren.

 

 

Die Stiege führte in einen tiefer gelegenen Stadtteil

 

Als sie den unteren Stadtteil betraten hatten, sahen sie vor sich Gebäude von Baustilen aus zumeist vergangenen Jahrhunderten. Die Straßen waren eng und mündeten oft in kleine oder auch freizügige Plätze. Allerlei Volk tummelte sich da herum. Auch die Menschen waren in Trachten aus verschiedenen Epochen gekleidet. Es war eine belebte Gegend, teilweise schön anzusehen. Dennoch wirkte dieses Viertel wenig einladend auf die Freunde, wobei sie ihre innere Ablehnung nicht begründen konnten. Es war dort nicht so hell wie oben, sondern leicht dämmrig. Vielleicht war es das, was zur Vorsicht mahnte.

 

Schon wollten die drei Freunde umkehren, als Valentin auf eine hohe, steinerne Kirchenfassade zeigte. Von der Kirche war nur die Fassade und das mächtige Steildach des Kirchenschiffs, zwischen Häusern eingeklemmt, zu sehen. Diese Kirche war keine hundert Meter von der Stiege entfernt und wegen ihrer schlichten Front leicht zu übersehen.

 

Es war die erste Kirche, die sie bislang gesehen hatten. Albin wurde aufgeregt. Vielleicht bot diese Kirche Zugang oder Hinweise zu einer höheren Sphäre?

Gleich darauf gingen die drei Gefährten die Stufen hinunter, hin zur Kirche. Es schien die Rückfront einer gotischen Kathedrale zu sein. In der Mitte der Mauer, dort wo man ein Tor vermuten könnte, waren hellere Steine. Es war unschwer zu erkennen, dass hier einmal ein Tor gewesen war, das zugemauert worden war. In diesem neuen, helleren Mauerwerk gab es eine kleine Holztüre mit breitem Eisenbeschlag an Angeln und Schloss.

Nach wenigen Schritten standen die drei erwartungsvoll vor der Holztüre. Dort jedoch empfanden sie eindeutig eine starke und bedrohliche Ausstrahlung. Aber jetzt waren sie nun mal schon hier und hatten keine Lust ihre Entdeckung aufzugeben.

 

Albin öffnete die Tür und ging hinein, seine zwei Freunde ihm nach. Sie befanden sich nun in einem geräumigen Vorraum. Vor ihnen war eine breite Stufenflucht, hinab zu einer Krypta. Der Eingang zur Krypta war wie ein großer Torbogen. Links und rechts vom Zugang zur Krypta führte jeweils eine breite Treppe empor. Sie stiegen die linke Treppe hinauf und standen in einer Dom-Ruine. Das Dach fehlte. In der Mitte war ein Schuttkegel, umsäumt von mächtigen steinernen Säulen, die einst ein hohes Gewölbe getragen hatten.

 

 

In der Mitte war ein Schuttkegel

 

Die drei Freunde waren fasziniert von den noch immer schönen Resten der Kirche und erkletterten den Schutthaufen. Schon beim Aufstieg gewahrten sie, dass der Schuttberg zum größten Teil aus zerbrochenen Marmorstatuen bestand. Es waren keine Heiligenstatuen, sondern sie sahen wie versteinerte Menschen aus, mit emotionslosem oder mit schmerzhaftem Antlitz. Als sie dessen gewahr wurden, kroch den dreien ein Schauer den Rücken empor. Es war ihnen unheimlich, sie fühlten sich wie auf einem versteinerten Leichenhaufen. Schon wollten sie sich schleunigst auf den Rückweg machen, als sie von dort, von wo sie gekommen waren, ein dämonisches Wesen erfühlten und auch bald sahen. Es hatte einen menschlichen Körper von vielleicht drei Meter hoher Statur. Zudem war es mit einem Schuppenpanzer bekleidet und hatte Hahnenfüße. Es war keine Zeit, um sich über dieses dämonische Aussehen Gedanken zu machen, denn jenes Wesen stürzte, aus der Krypta kommend, auf sie zu. Es hatte eine übermächtige Ausstrahlung, voll Wut und Kraft. Dem gegenüber fühlten sich die drei Freunde hilflos und schwach. Flucht war die einzige Möglichkeit. Zu ihrem Glück war in nächster Nähe eine Seitenkapelle mit zum Teil eingefallener Außenwand. Schon waren sie dort und sprangen auf die Straße. Ohne sich umzudrehen liefen sie so schnell sie konnten weiter. Das Wesen verfolgte sie anscheinend nicht, so als wäre es in die Kirche gebannt. Dennoch rannten alle drei noch einige hundert Meter die Straßen entlang. Der Schreck saß ihnen tief in den Knochen.

 

Sie gelangten auf einen Marktplatz, wo sie wieder zueinander fanden. Es herrschte dort ein emsiges Menschengetümmel. Erst als die drei mitten im Gedränge waren, fühlten sie sich vor Verfolgung sicher. Noch immer saß ihnen der Schreck in den Gliedern. Sie waren mitten in einer schaulustigen Menge, die vor einem Knäuel sich prügelnder Leute standen und diese mit Gejohle anfeuerten. Manche konnten sich vor Begeisterung nicht halten und stürzten sich auf den Haufen von Raufbolden. Es sah aus wie in einem schlechten Wild-West-Film. Albin hatte sich auf Erden immer gewundert, dass es Leute gibt, die sich an dergleichen belustigen konnten. Es war ihm immer unverständlich gewesen. Aber anscheinend gab es solche Mentalitäten zur Genüge, wie man hier sehen konnte.

 

Die drei Freunde bemühten sich, möglichst schnell wieder von hier wegzukommen, aber sie fanden die Straße zur Stiege nicht. Sie hatten in den engen Gassen die Orientierung verloren. Statt an der Stiege standen sie bald darauf neuerlich vor einem Platz. Dieser hatte vier leere Galgen in der Mitte. Davor war eine Ansammlung von meist altertümlich gekleideten Leuten. Sie standen herum, als wollten sie auf eine Vorführung warten, die nicht zustande kam. Da zeigte einer auf die drei Freunde und schrie etwas. Als die Menge ihnen die Gesichter zuwandte, ahnten die drei Freunde Böses, machten eiligst kehrt und liefen so schnell sie konnten, in die nächste Gasse. Zum Glück war es eine gute Richtung, denn bald darauf sahen sie die Stiege. Sie eilten schnell hinauf und stellten zur Erleichterung fest, dass ihnen niemand die Stiege hinauf gefolgt war. Von der unteren Stadt hatten sie genug. Auf derlei konnten sie verzichten. Schnellen Schrittes gingen sie den alten Weg zurück, erleichtert alles überstanden und einander nicht verloren zu haben.

 

Als sie in eine verlotterte, jedoch ruhige Vorstadt mit zahlreichen leer stehenden Fabrikgebäuden gelangt waren, begrüßten alle drei die scheinbar friedliche Umgebung. Auch aus den Gebäuden schien keine Gefahr zu drohen. Alle drei hatten mittlerweile gelernt, Gebäude und Umgebung nach ihrer Ausstrahlung zu sondieren. Zufrieden schlenderten sie die Straße entlang. Vorbei an einer Reihe von Ziegelbauten ohne Verputz, Werkshallen und ebenerdigen Häusern machte die Straße eine Biegung und schmiegte sich einem zirka zehn Meter breiten Fluss an. Wenngleich das Wasser trüb und träge dahin floss, bot es doch einen ungemein faszinierenden Anblick. Zunächst konnten sich die drei Freunde nicht erklären, weshalb sie vom Fluss so angetan waren, bis Antonio auf einmal rief: "Das Wasser ist es! Bislang war alles trocken! Deshalb finden wir den Fluss so einmalig! Endlich Wasser, das Element des Lebens, nach so langer Zeit des Wanderns!“ Es stimmte, bis jetzt hatten sie ja nicht einmal Pfützen gesehen, wenn man vom Kellerlabyrinth absah, in dem sich Valentin verloren hatte.

 

Beschwingt gingen die drei Freunde den Fluss entlang weiter. Nach einer kurzen Strecke gelangten sie zu einem Pavillon mit einem Tisch einer Bank und zwei Stühlen. Alle drei verspürten Lust sich hier auf eine kleine Rast nieder zu lassen. Es war nicht Müdigkeit, sondern mehr das Bedürfnis, die vielen Eindrücke der letzten Zeit zu verarbeiten und sich in angenehmer Ruhe wieder zu fassen.

 

Das Pavillon war ein idealer Platz, um all das in letzter Zeit Erlebte zu besprechen und zu verarbeiten. Am meisten beschäftigte sie das Ereignis in der Kirche. Es stellte sich die Frage, gibt es hier nicht-menschliche Wesen, etwa Dämonen, mit unbekannten Fähigkeiten und Kräften, denen man nichts entgegenzusetzen hätte? Wie sollte man sich am besten hierbei verhalten. Wie könnte man vermeiden ihnen zu begegnen? Das waren alles neu ins Blickfeld aufgetauchte und akute Fragen.

Lange wurde über dieses zentrale Thema diskutiert. Allmählich, unter Heranziehung diverser Details und Empfindungen. schien sich das Bild zu klären. Eine Menge Intuition oder Phantasie spielte sicher mit, aber das war immer noch besser als vor einem völlig ungelösten Rätsel zu stehen. So einigten sie sich auf folgende Erklärung:

Jenes große Wesen mit dämonischem Aussehen war aller Wahrscheinlichkeit nach einmal ein großer Kirchenfürst. Deshalb lebte es seinem Status gemäß in einem Dom. In seinem irdischen Leben, vermuteten sie, brach der Kirchenfürst seine ethischen Gelübde, missbrauchte seine religiöse Stellung und Macht. Er war womöglich ein Inquisitor. Je mehr er morden ließ, desto mehr wurde er gefürchtet und zugleich vermehrten sich  ihm Macht und Reichtum. Durch seine Gier und Handlungsweise wendeten sich zahllose Menschen von Religion und Gottesglauben ab. Ohne religiösen Halt wurde ihr Leben orientierungslos. Entsprechend dem zerstörten Glauben und der verlorenen Hoffnung der Verzweifelten, bildete der Dom ein symbolisches Abbild für die seelische Verwüstung, die der Kirchenfürst angerichtet hatte. Flüche, Rachegedanken und eigene Schuldgefühle bannten ihn in die Kirchenruine, in deren gestürzten Figuren er zugleich die steinernen Abbilder gebrochener Menschen stets vor Augen hatte. Solcherart war er unerbittlich mit den Folgen seines Handelns konfrontiert. Dieses Stigma und sein verstümmeltes SeHelenaussehen wollte er am liebsten in seiner Erinnerung unterdrücken, weshalb er in der Finsternis der Krypta lebte. Nur in der Finsternis der Krypta konnte er diesem Anblick entfliehen. Statt in Glorie lebte er nun in Elend. Hass auf die Welt und Gott erfüllten ihn.  Niemand sollte diese ihn überkommene Schande sehen, weshalb er alle verfolgte, die es wagten die Domruine zu betreten. So stürzte er sich auch ihnen entgegen mit an Wahnsinn grenzender Wut und Aggression.

 

Nach den Diskussion und einzelne Geschehnissen in der Rückschau ihres gemeinsamen Weges legten sich Valentin und Antonio auf den Holzboden des Pavillons und bald waren sie eingeschlafen. Albin blieb auf den Tisch gestützt sitzen und gab sich weiterhin seinen Gedanken hin.

 

Nach geraumer Zeit erwachte Antonio. Während Valentin noch weiterschlief, vertrieben sich Albin und Antonio mit Gesprächen die Zeit. Als auch Valentin wieder munter war, fühlten sich alle drei wieder unternehmungslustig. Mit zuversichtlicher Stimmung machten sie sich erneut auf den Weg. Allen hatte die Ruhe gut getan.

Der Randbezirk der Stadt war nach wie vor ruhig. Für die drei Freunde war es ein Spaziergang, den sie zu genießen begannen. Die Häuser und Straßen nahmen mehr und mehr Vorstadtcharakter an. Auf der rechten Seite erhob sich hinter der Häuserreihe die Steilflanke eines Hügelrückens. Felsig und unzugänglich, verlieh der Hügelkamm der Gegend, zusammen mit dem Flüsschen, einen anmutigen Charakter. In den Straßen befanden sich kaum Menschen. Die Häuser waren nieder und hatten in der Regel nur ein Stockwerk, oftmals aufgegliedert mit Erkern und Türmchen. Sie waren anmutig, wenngleich häufig ärmlich aussehend.

 

Während die drei so gemächlich dahinwanderten, blieb Albin plötzlich stehen. Er blickte erstaunt auf eine Ackerdistel, die aus einer Spalte an der Ecke einer Gartenmauer hervor wuchs. Er starrte geradezu auf die violette Blüte, die umgeben von grünen Blättern, sich tapfer aus dem Stein empor gekämpft hatte. Die zwei anderen blieben ebenfalls stehen. Sie begriffen nicht ganz, was Albin an jenem Kraut derart faszinierte. Antonio fragte Albin, ob er vielleicht einmal ein Pflanzenliebhaber gewesen wäre und deshalb in jenem Kraut etwas Besonderes sehe. Noch während der Frage traf Antonio wie der Blitz die Erkenntnis, dass dies die erste Blume war, der er nach dem Verlassen der irdischen Welt begegnet war. Aufgeregt wies er Valentin darauf hin, der bereits Anstalten machte, weiterzugehen.

 

"Ich glaube nicht, dass es hier Zufälle gibt. Die Welt hier scheint vieles an Qualitäten und Symbolen aufzuweisen, wie wir sie zu Lebzeiten aus den Träumen gekannt haben“, sagte Albin. "Diese Blume hebt sich von den bisherigen Eindrücken hervor. Sie hat Farbe und Anmut und ist ein Ausdruck des Lebens. Ich habe das Empfinden, dass sie ein Zeichen oder eine Wegmarke ist. Ich sehe in ihr Hoffnung und sehe sie als Bote einer schöneren Welt.“

Noch während Albin dies sagte, ging er suchend und langsamen Schrittes die nähere Umgebung ab. Da fand er am Ende der Gartenmauer und vor einem anschließenden Holz-Zaun einen schmaler Pfad. Er führte scheinbar zu einem rückwärtig gelegenen Gartenteil. Der Pfad war eng, auf einer Seite von der Mauer und auf der anderen Seite von einem verwitterten Lattenzaun begrenzt. Albin betrat den Pfad und folgte ihm mit verschärfter Aufmerksamkeit. Der Pfad schlängelte sich hinter die Häuserreihe und verlor sich hinter Felsen und blattlosem Strauchwerk. Sie gingen um die Biegung und gelangten zu einer Stufenreihe, die zum Hügelkamm empor führte und sich dort nach einer Biegung verlor.

 

Eine schier endlos lange Stufenreihe führte zum Hügelkamm empor

 

Als Albin Anstalten begann die Stufen empor zu gehen protestierte Valentin, denn Stufensteigen hatte er nie in seinem Leben gemocht. Zudem fand er bereits nach den ersten Stufen das Hochsteigen sehr mühsam. Auch die anderen hatten das Empfinden, als wären ihre Körper schwerer geworden. Dennoch setzten sie den Weg fort. Je höher sie kamen, desto mühevoller wurde es. Auch Antonio wurden die Stufen jetzt beschwerlich und er wäre am liebsten umgekehrt. Nur unter Zureden und der Drohung Albins, dass er sie alleine lassen würde, schleppten sie sich Schritt für Schritt weiter. Bald musste Albin seinen Freund Valentin stützen und immer öfter legten sie kurze Pausen ein.

 

Allmählich wurde die Luft klarer und bald sahen sie die Stadt unter ihnen liegen. Teilweise war sie von einem dünnem schmutzig-graubraunem Nebel überschichtet. Sie sahen auch jenen Stadtteil mit der Domruine. Dort allerdings konnten sie keine Details mehr erkennen, denn von diesem Stadtteil waren kaum die Häuser zu erkennen, so rauchig schien die Luft dort zu sein.

Langsam, Stufe um Stufe, stiegen sie weiter. Am Rand der Stiege und auch zwischen den Steintreppen sah man immer öfters grüne Pflänzchen und manchmal auch kleine Blüten. Dies war ein gutes Zeichen und ermutigte zumindest Albin weiter zu gehen. Die anderen zwei waren zu erschöpft, um überhaupt etwas beachten zu können.

Die letzten Stufen schaffte Antonio nur noch kriechend. Dass er weiter machte geschah eher aus Angst die weite Stiege wieder zurück zu müssen. Auch wollte er unter allen Umständen bei seinen Freunden bleiben. Valentin wurde die letzte Strecke von Albin Stufe um Stufe mühsam hoch geschleppt. Endlich hatten sie es alle drei geschafft. Oben endete die Stiege an einem kleinen Rasenstück am Rand einer Straße. Dort ließen sie sich ermattet auf den Boden fallen.

 

Nach der Erschöpfungspause setzte sich Albin auf und lehnte sich an einen Geländerpfeiler. Jetzt erst schenkte er der Umgebung Aufmerksamkeit. Am gegenüberliegenden Straßenrand sah er die Häuser eine Siedlung. Die Häuser waren klein und anmutig. In den Vorgärten, gediehen üppig Sträucher und Blumen. Manches Haus wurde liebkosend von blühenden Kletterpflanzen und Rosen umrahmt.

 

Bald hatten sich auch Antonio in der frisch-würzigen Luft erholt und fühlten sich stark genug den Weg fortzusetzen. Nur Valentin fühlte sich noch müde, war aber in der Lage, gestützt seinen beiden Freunden zu folgen.

 

Langsam gingen sie die lieblichen Häuser entlang und verspürten zusehends den Wunsch in einem Garten zu sitzen, zu entspannen und von nichts getrieben und von nichts geplagt zu sein. Sie schwiegen und gaben sich derlei Gedanken und Wünschen hin.

Eine junge, freundlich wirkende Frau kam ihnen entgegen. Albin schien sie irgendwie vertraut zu sein, dennoch konnte er sie nirgends einordnen.

Die Frau kam die Straße daher, blieb stehen und begrüßte die drei Freunde: "Ich sehe, dass Ihr müde wirkt. Kommt in meinen Garten und erholt Euch!"

Die drei Freunde willigten gerne ein.

 

 

Daya

 

Die drei Freunde begleiteten die Frau zu ihrem Häuschen und machten es sich im Garten gemütlich. Bald schon hatten sie Kuchen vor sich und atmeten das köstliche Aroma warmen Kaffees ein. Antonio und Valentin konnten sich beinahe nicht mehr erinnern solche Köstlichkeiten genossen zu haben. Die jetzige Gemütlichkeit und der schöne Garten mit seinen bunten Blumen ließen die Vergangenheit wie einen bösen Traum mehr und mehr in den Hintergrund rücken. Dennoch blieb eines aus den vergangenen Ereignissen zurück: Sie fühlten, wie der gemeinsam bewältigte Weg ihre Freundschaft zu einem festen Band geschmiedet hatte. Es war ein Freundesband, das sich bewährt hatte. Die feste Freundschaft war ein Geschenk aus der Vergangenheit, das alle drei glücklich machte.

 

5

 

Im Haus von Daya

 

Albin hatte lange unter einem rosa blühenden Kirschbaum geschlafen. Als er erwacht war und die Augen geöffnet hatte, glaubte er zunächst noch zu träumen, als er sich von üppig blühenden Blumen umgeben sah. Dann erinnerte er sich der letzten Ereignisse und ein glückliches Lächeln zeigte sich. Er erhob sich und setzte sich an den Gartentisch. Bald gesellte sich die unbekannte Gastgeberin zu ihm und stellte sich als Daya vor. Obwohl er sie noch nie gesehen zu haben vermeinte, schien sie ihm ungemein vertraut. Ihre Nähe bereitete ihm Wohlbehagen und bald erzählte er ihr seine Erlebnisse nach seinem irdischen Weggang und es entwickelte sich ein angeregtes Gespräch, denn Daya konnte für so manches rätselhafte Geschehen eine Erklärung finden. Auch mochte sie so manchem eine heitere Seite abzugewinnen. Die Zeit verging wie im Flug.

 

Sie waren noch mitten im Gespräch, als Antonio herbei kam und zuerst Daya begrüßte und dann seinen Freund Albin herzlich umarmte. Er sah erholt und verändert aus. Sein früher verhärmtes Aussehen war der Erscheinung eines energischen, zielbewussten Menschen gewichen. Das erlittene Leid veredelte die Gesichtszüge und gab ihnen einen Glanz der Reife und Abgeklärtheit. Albin musterte ihn unauffällig und höchst interessiert.

 

Als Albin sein Gespräch mit Daya fortsetzte, hörte Antonio aufmerksam zu und bald befand er sich ebenfalls in einem regen Gedankenaustausch. Daya schien unglaublich viel zu wissen. Oft stellten Albin und Antonio gleichzeitig verschiedene Fragen, wobei Daya dann lachend abwinkte und um Geduld bat.

 

"Genug“, lachte Daya, "jetzt wird mal eine Pause mit den Fragen eingelegt und Kaffee getrunken. Und dann will ich Euch manches weiter erklären, aber gemütlich, denn die Zeit läuft uns nicht davon.“

 

So manche Situation wurde erörtert, manches Seltsame erklärt. Darunter war auch eine brennende Frage von Albin – das Geheimnis um seinen Stein. Hierzu sagte Daya: "Deinen ovalen Kiesel und auch jene blühende Ackerdistel, welche Dich, Albin, letztlich auf die verborgene Stiege aufmerksam gemacht haben, hat dir dein Großvater geschickt. Ich kenne ihn. Er sagte mir, dass er dich sehr liebt und während Deiner Wanderungen innerlich immer wieder mit dir verbunden war.

Was dich Albin und Antonio anbelangt, Ihr kanntet Euch schon aus früheren Leben. Deshalb hat Euch das Schicksal zusammen geführt. Ich finde es wunderbar wie Ihr Euch in aufopfernder Weise gegenseitig geholfen habt. Dadurch auch konntet ihr so schnell der Dämmerebene entrinnen. Bedenkt, dass manche dort durch lange Zeit hängen bleiben. Erinnert Euch an die Unterstadt und die Leute dort, die gekleidet waren im Stil vergangener Jahrhunderte.“

 

Daya lächelte. "Zusammen mit deinem Großvater war ich in meinem Bewusstsein bei Euch, als du Albin, jene Ackerdistel gefunden hast. Ich habe mich darüber gefreut, dass Deine Intuition und dein Empfinden stark genug waren, um die Blüte als versteckten Wegweiser zu erkennen. Direktere Möglichkeiten hatten wir keine, denn es ist schwierig allzu deutlich die Tabus zu durchbrechen, welche durch die Schicksalsmeister einer Ebene auferlegt werden. Was einen direkten telepathischen Kontakt anbelangt, so ist es gar nicht so einfach in jenen tiefen Ebenen für die dort befindlichen Menschen einen feinen telepathischen Ruf zu empfangen. Überhaupt kann man den Menschen dort schwer helfen. Freunde aus höheren Ebenen, die gerne beistehen würden, sind für sie unsichtbar. Feinere Schwingungen, die höheren Ebenen entstammen, können nicht wahrgenommen werden.

Schluss mit der Vergangenheit, sie ist vorbei und soll Euch in der Erinnerung nicht weiter belasten. Versucht jene hässliche Dämmerebene zu vergessen und freut Euch darüber, was Euch diese neue Welt hier zu bieten vermag."

 

 

6

 

Wiedersehen  mit Berta

 

Valentin hatte sich von seiner Erschöpfung erholt. Er kam in den Garten und schloss sich der kleinen Gesellschaft an. Seine Freunde und Daya unterhielten sich im gelösten Gespräch. Er hatte noch etwas Ruhebedürfnis, weshalb er sich nahe bei ihnen auf die Wiese legte und einfach nur zu hörte.

 

Während einer Gesprächspause horchte Daya innerlich auf und wandte sich an Albin: "Ich soll dir einen Gruß bestellen. Du kennst doch Berta, Deine ehemalige Nachbarin. Zu Deinen Lebzeiten schon war sie eine alte Dame. Sie wohnte in Deinem Miethaus ein Stockwerk höher als Du. Sie hat dich öfters gebeten ihr zu helfen, etwa Glühbirnen auszutauschen, weil sie auf der Leiter leicht schwindelig wurde. Auch sonstige kleinere Reparaturarbeiten hast du für sie oft durchgeführt und sie war dir sehr dankbar dafür. Sie erzählte immer wieder, dass sie ohne dich oft verloren gewesen wäre, denn sie war im Alter nicht mehr mobil und kannte dadurch nur wenige Menschen. Für Handwerker reichte ihre spärliche Rente nicht aus. Ich war sie einige Male besuchen und wir sprachen über Dich. Hierbei lobte sie unter anderem Deinen Appetit. Nichtsahnend von ihren Lebensproblemen hast du ihr oft systematisch beim Abendgespräch den Kühlschrank leer gegessen. Trotz ihres leichten Schreckens darüber wie ihre spärliche Ration dahin schwand, gönnte sie es dir und kochte dir noch zu den vielen Broten Tee. Jedenfalls hat sie dich geliebt. Berta ist erst vor kurzem in sehr hohem Alter verstorben und befindet sich jetzt in einer Art Erholungsheim hier in der Nähe. Sie hat bis jetzt geschlafen, aber wie ich soeben von meiner Freundin gehört habe, ist sie erstmals aufgewacht.“

 

Albins Gesicht hellte sich bei dieser Nachricht auf. Gleich wollte er aufbrechen, um Berta zu besuchen. Doch Daya meinte, dass es keine Eile hätte. Berta möge sich zuvor noch ein wenig zurecht finden, bevor er sie besuchen käme.

Albin blieb in seinen Gedanken bei Berta. Der Hinweis auf seinen Appetit überraschte ihn. Er hatte sich bei seinen Essorgien nie etwas dabei gedacht. Er hatte sich bei Berta wohl und dort einfach wie zu Hause gefühlt. Er hatte weniger aus Hunger gegessen, sondern weil dies ein Teil seiner Behaglichkeit war. Niemals war er sich bewusst gewesen, dass die betagte Dame so knapp bei Kasse hätte sein können. Jedenfalls hatte sie es gut zu verbergen gewusst.

Er war sicherlich zwei bis drei Abende in der Woche bei Berta gewesen. Zwar war er verheiratet, aber seine Frau hatte öfters abends arbeiten müssen. Wenn er keine Lust hatte alleine zu Hause herumzusitzen, ist er die paar Stufen zu Berta hinauf gegangen und hatte ihr Gesellschaft geleistet.

 

Es waren etwa zwei Stunden irdischer Zeitrechnung vergangen, als Daya meinte, dass Berta so weit wäre, dass Albin und sie ihr einen Besuch abstatten könnten.

 

Daya und Albin machten sich auf den Weg. Sie gingen zu Fuß, allerdings nicht in der Art wie es Albin bislang gewohnt war. Daya nahm ihn bei der Hand und zusammen mit ihr legten sie in weiten Schwebeschritten den Weg zurück. Deshalb dauerte es nicht allzu lange, als sie in einen großen Park mit blühenden Rosenhecken, Blumen und blühenden Bäumen gelangten. Inmitten all dieser Blütenpracht stand ein großes Gebäude und viele kleine Bungalows um dieses herum.

 

"Das ist das Pflegeheim“. Daya zeigte auf den zentralen Bau. "Wir gehen aber jetzt nicht dort hin, denn Berta befindet sich in einer kleinen Gartenwohnung, und zwar ist es jene neben der Birke.“ Mit diesen Worten geleitete Daya Albin zu einem kleinen Bungalow. Dort hielt sie Albin noch kurz zurück, der bereits hin eilen wollte, und erklärte ihm: "Berta war nicht krank, weder seelisch noch körperlich und bedarf keiner Heiltherapie. Deshalb kann sie hier in einer eigenen Gartenwohnung sein.“

"Kann sie nicht ebenfalls bei dir wohnen?“, warf Albin ein.

"Ihre Bedürfnisse würden nicht mit Euren übereinstimmen und ich müsste viele Kompromisse eingehen, was sowohl Eure als auch Bertas Weiterentwicklung behindern würde. Um es genauer zu sagen: Du und ich, wir kennen uns schon lange, schon durch viele Inkarnationen. Oft haben wir uns auch gegenseitig als jenseitige Helfer begleitet. Diesmal war ich an der Reihe, Deine jenseitige Begleiterin zu sein.“

Jetzt war Albin klar, weshalb ihm Daya von Anfang an in für ihn unerklärlicher Weise so vertraut war.

 

Kurz darauf waren sie bei Berta angelangt. Sie lag auf einem bequemen Liegestuhl vor einem kleinen Haus und schlief. Albin schnürte es die Brust zusammen als er sie sah. "Diese kleine, verschrumpelte Frau war Berta!“ Albin war es zum Weinen und er kniete neben der Liege nieder und betrachtete liebevoll das eingefallene Gesicht.

Daya beugte sich zu Albin und sprach: "Hohes Alter hat eben seinen Preis. Aber so lange man gesund ist und keine Schmerzen hat, kann man glücklich sein. Wer in solchem Alter legt noch Wert auf Schönheit? Wem sollte man gefallen wollen, wenn die meisten Freunde und Freundinnen schon verstorben sind?“

Albin nahm Bertas zierliche, kleine Hand in die seine. Berta schien dies zu fühlen, denn sie öffnete die Augen und lächelte. "Albin, Lieber, du kommst mich besuchen?“

Albin war über ihre herzliche Liebe, die durch Bertas noch sichtbare Schwäche eine Sanftheit erhielt, gerührt. Tränen der Zuneigung zu Berta kamen ihm.

 

Albin wollte schon zu erzählen beginnen, wie anders und doch schöner diese jenseitige Welt hier sei, als er von Daya einen warnenden Blick empfing. Er spürte einen klaren Gedanken von ihr zugesendet: "Sie weiß noch nicht, dass sie verstorben ist und sich in einer anderen Welt befindet.“

Albin war über diese Mitteilung total überrascht. In seiner Verwirrung wusste er keine weiteren Worte und so lächelte er Berta schweigend an. Albin hielt noch lange Bertas Hand, bis diese zufrieden ihre Augen schloss und wiederum in Schlaf versank.

 

Daya und Albin verließen das Erholungsheim und kehrten nach Hause zurück. Dort, gemütlich im Garten sitzend, hatte Albin etliche für ihn brennende Fragen, über die er während seines Heimweges nachgegrübelt hatte. Zuerst suchte er nach einer Erklärung, weshalb Berta nicht wisse, dass sie verstorben sei.

"Für Berta hat sich einstweilen nicht viel geändert“, begann Daya. "Auf Erden war sie in einem Pflegeheim und die letzten Monate bettlägerig. Aus Schwäche war dies und nicht aus einer Krankheit heraus. Somit hat sie während der letzten Monate viel geschlafen und als sie sich hier wiedergefunden hatte, war sie ebenfalls aus einem Schlaf aufgewacht und ebenfalls in einem Pflegeheim. Dass die Umgebung anders war, gab ihr nicht zu denken, denn es könnte ja sein, dass sie nach wie vor in ihrem irdischen Pflegeheim wäre, und daran glaubte sie auch, und dort in den Garten gebracht worden wäre, weil wieder einmal Frühling geworden war und die Luft so gut wäre.

Jedenfalls fühlt Berta sich hier gepflegt und umsorgt, was für sie ungemein beruhigend ist. Die Vorstellung als schwache, alte Frau plötzlich in einer fremden Welt zu sein, wäre für sie beängstigend. Allmählich mit ihrem Erstarken wird man ihr die Situation klar machen. Da sie dich kennt, lieber Albin, kannst du ihr bei diesem Prozess erheblich helfen, mehr als wir anderen, die jener Frau fremd sind. Dich liebt sie, auf Deine Zusprache wird sie bereitwillig eingehen. Sah sie dich ja schon zu ihren Lebzeiten als ihren starken Beschützer.“ Daya lächelte und schwieg.

 

Solcherart hatte Albin in dieser Ebene, kaum angekommen, eine neue Aufgabe. Allerdings empfand er diese Aufgabe als ein wunderbares Geschenk, dass ihm freude bereitete. Ab nun besuchte er Berta immer wieder und blieb oft lange bei ihr.

 

Die Wachperioden von Berta wurden immer länger. Albin brachte ihr Getränke und Medikamente. Das mag überraschen. Nun, zugegeben, in dieser Ebene gibt es keine Medikamente. Die Medikamente waren ein Trick von Albin, eine Suggestionshilfe, um Bertas Vorstellung nach einen sich kräftigenden Körper zu unterstützen. Das war wichtig, denn in den jenseitigen Welten wird alles aus den Vorstellungen heraus gebildet. Das erste mal, als er Berta Medikamente verabreicht hatte, hatte er in sich hinein gelächelt. Oft hatte er seine liebe Berta schon zu Lebzeiten beschwindelt. Warum sollte es hier anders sein? Noch dazu, wenn es einem guten Zweck diente. So kam es, dass Albin In reich geschmückten Worten die Fortschritte der modernen Medizin pries, und wie diese Wunder bewirken könnten. Berta stellte tatsächlich nach einigen Tagen fest, wie die Medikamente, die ihr Albin liebevoll verabreichte, geradezu Wunder bewirkten. Sie fühlte sich wesentlich frischer, ja, sie fühlte sich geradezu jünger.

Albin beließ es nicht bei den Medikamenten alleine. Er erzählte Berta, dass er in der Zwischenzeit eine Ausbildung als Heiler absolviert hatte und er mittels seiner Hände Kraft übertragen könne. Diesmal war es kein Schwindel, Albin hatte tatsächlich die Fähigkeit der Kraftübertragung bei Daya erlernt. Er gab sich große Mühe bei der Einschulung und war sehr eifrig, konnte er dies doch sofort bei Berta zu ihrer Stärkung anwenden. Berta ahnte nicht, während Albin sie mit seinen wunderbaren Kräften stärkte, dass er gleichzeitig bei ihr trainierte und an ihr lernte. Manche der eingehenden Fragen dienten Albin als Rückmeldung, die er benötigte, weil er sich selbst in manchem noch nicht sicher war. Wie auch immer, Berta half dies alles glänzend und das war für beide wichtig.

Bald schon konnte man Albin Hand in Hand mit Berta durch den Park spazieren gehen sehen. Die Spaziergänge wurden länger und weiter und bald war die nähere Umgebung mit einbezogen.

Ohne anzudeuten, dass sie jetzt bereits in einer anderen Welt wären, erzählte Albin Berta viele Geschichten, in denen jenseitige Gegebenheiten mit einbezogen waren. Dies, um Berta damit vertraut zu machen. Wenn manches Berta etwas unwirklich vorkam, begründete er es ihr und Bertas Vertrauen und Albins gut ausgeprägte Fantasie überwanden hierbei jeglichen scheinbaren Widerspruch. Jedenfalls wurden Berta solcherart jenseitige Besonderheiten vertraut, so vertraut, dass es ihr keine Angst mehr verursachte, als ihr Albin eines Tages eröffnete, dass sie beide schon zu den "Toten“ zählten. Berta sagte einfach "wo du bist will ich auch sein“, und das war es. Dann umarmten sich beide, sozusagen als verspätete Begrüßung in der Jenseitswelt.

 

 

7

 

Ein Spaziergang mit Berta

 

 

Innerhalb kurzer Zeit, etwa nach einem viertel Jahr irdischer Zeitrechnung, erholte sich Bertas Astralkörper und wurde frischer und jünger - er war ja nichts anderes als ein Spiegelbild ihres inneren Befindens. Nunmehr machte sie bereits eigenständig Exkursionen in der näheren Umgebung, wohnte aber nach wie vor in dem Gartenhäuschen des Sanatoriums. Bei einem von Albins Besuchen erzählte sie ihm voll Begeisterung: "Ich habe in unserer benachbarten Stadt einen wunderschönen Weg entdeckt! Den musst du dir unbedingt ansehen! Wollen wir dort hin gehen?

 

Albin willigte gerne ein und schon waren beide unterwegs, hin zur nahe gelegenen Stadt. Zunächst durchquerten sie die Stadt auf den ihnen altbekannten Straßen. Dann kamen sie in eine Gegend, die sie bislang nie aufgesucht hatten. Es war ein luxuriöses Vorstadtviertel, aufgelockert durch Gärten, Parkanlagen und Wildflächen. Albin freute sich darüber diese schöne Gegend nunmehr kennen gelernt zu haben. Sie machten sich die Besichtigungstour gemütlich und nahmen sich Zeit, dieses oder jenes Detail genauer zu betrachten. Auch Berta, obwohl sie schon öfter hier war, wurde durch die Hinweise Albins auf viele entzückende Bauten und Landschaften aufmerksam, die sie früher in ihrer Eile den Lieblingsweg zu erreichen übersehen hatte. Langsam näherten sich beide dem Weg, den Berta Albin zeigen wollte.

In ihrer Aufmerksamkeit ganz der Umgebung mit ihren Schönheiten gewidmet, näherten sich beide einer Brücke, die für Albin unerwartet in der sonst sanft hügeligen Umgebung ein kleines Tal mit einem Bach überspannte. Schon wollte Albin die Brücke überqueren, als ihn Berta auf einen unscheinbaren Fußweg hinwies, der vom Brückenrand aus über eine schmale Stiege erreichbar war. Der Fußweg führte in ein kleines, eingeschnittenes Tal. Dieses war die große Entdeckung Bertas, die sie Albin zeigen wollte.

 

Sie stiegen hinunter und folgten auf dem von Gras und Blumen umsäumten Weg entlang des Baches. Sprudelnd begleitete sie das Wasser und trug in seinem schnelleren Lauf immer wieder Blätter oder Ästchen vorbei. Die ersten hundert Meter zeigten sich noch die Rückseiten der Hausgärten, die offen und ohne Zäune die friedliche Umgebung betonten. Ein Stück weiter folgten Wiesen mit lockerem Strauchwerk und kleinen Bauminseln. Der Hang zum Bach wurde steiler, das Tal tiefer eingeschnitten und die gegenüberliegende Seite erhob sich zu einem grün bewaldeten Berghang.

Albin war entzückt und genoss die Blumen und das Gras, welches gelegentlich in Büscheln zwischen den Steinen und der abgetretenen Erde des Weges hervor wuchs und die üppige Natur, welche die steile Böschung zum hin Bach bedeckte.

Noch in Gedanken verlorener Betrachtung an den lieblichen, sanften Weg, bemerkte Albin wie Berta auf scheinbar unebenem Boden ging. Mal war sie zirka 50 cm über dem Niveau, so wie Albin es sah, dann wieder auf normaler Höhe. So ging es auf und ab als wäre der Weg für sie felsig. Berta liebte Zeit ihres Lebens Felsen und Berge, das wusste Albin aus den vielen Fotos, die sie ihm in ihrer beider irdischen Vergangenheit gezeigt hatte. So wie es Albin schien hatte die Landschaft hier für Berta einen felsigen Charakter, so wie sie es liebte. Er seinerseits nahm die Landschaft seiner Vorliebe gemäß wahr.

Zunächst war Albin verwundert. Wohl war er sich bewusst, dass die Landschaften der jenseitigen Welten sich aus der Vorstellung bilden. Allerdings dachte er immer, dass die Landschaften die Essenz einer kollektiven Bildekraft wären und für alle gleich aussehen würden. Hier zeigte sich, schien die Landschaft weniger konform zu sein und leichter durch individuelle Vorstellungen beeinflusst zu werden. Das musste genauer untersucht werden, nahm sich Albin vor.

 

"Es ist wunderschön hier“, setzte Albin vorsichtig seine Befragung ein. "Du hast mir nicht zu viel versprochen.“

"Ja, es ist hier wunderschön“, erwiderte Berta. Sie blieb stehen und atmete tief durch. Langsam ließ sie ihren Blick bewundernd über die schöne Landschaft gleiten. Dann ging sie mit wenigen Schritten zum Wegrand und über diesen hinaus. Zu Albins Erstaunen blieb sie dann auf gleicher Höhe in der Luft stehen, während für Albin das abfallende Steilufer bereits zwei Meter tiefer lag. Die bisherige Vermutung Albins wurde hierdurch gleichsam mit einem Paukenschlag bestätigt. Staunend war Albin in der Betrachtung dieser Situation versunken. Berta dagegen ahnte von all dem nichts und wendete ihren Blick von ihrer Aussichtsplattform entzückt nach etlichen Seiten.

"Sei vorsichtig", mahnte Albin.

"Sei unbesorgt" gab Berta zur Antwort. "Ich bin schwindelfrei und Felsen gewohnt."

 

Es war nun für Albin eindeutig, dass Bertas und seine Welt nicht in Einklang standen. Er versuchte unauffällig weitere Informationen von Berta zu erhalten und erkundigte sich wie sie von ihrem Ausblick aus den Bach unten sehe. Prompt beschrieb Berta einen wild sprudelnden Bach mit Gischt und Strudel und Felsen, während dort für Albin ein breites, jedoch sanftes Bächlein floss. Während des weiteren Ausfluges unterhielt sich Albin weiterhin gelöst mit Berta, legte jedoch hin und wieder kleine Nachdenkpausen ein.

 

 

8

 

Der Altar

 

 

Kurze Zeit später kam Albin mit folgender Bitte zu Daya:

"In meiner Jugend hatte ich mich einmal für tibetische Meditationen interessiert. Durch einige Jahre hatte ich täglich eine halbe Stunde meditiert und war bester Vorsätze, bis Beruf und Familie mich letztendlich mehr und mehr absorbierten. Als dann, in meiner ersten Ehe, all die erträumten Vorstellungen von Familie und Heim zerbrochen waren und ich, um das Unglück vollständig zu machen, ich auch noch meine Arbeitsstelle verloren hatte, ließ mich der Existenzkampf und die Probleme den letzten Rest meiner früheren spirituellen Lebensorientierung vergessen.“ Albin machte in Gedanken an diese seine Vergangenheit ein bekümmertes Gesicht. "Ich glitt tief ab mit nur noch materiellen Interessen.

Jetzt, hier in dieser Welt des Friedens, habe ich wieder das Bedürfnis zu meditieren. Es ist eine tiefe Sehnsucht geworden."

Albin machte eine nachdenkliche Pause. Dann setzte er fort: "Eine besonders tiefe Verbindung habe ich zu Tara, als Manifestation der Liebe und des Mitleides. Dieser Aspekt spricht mich besonders an, vielleicht weil diese Gefühle bei mir noch besonders ausbaubedürftig sind. Jedenfalls habe ich mich hier in dieser Welt immer wieder innerlich an Tara gewendet, ohne etwas haben zu wollen, nur aus Sehnsucht heraus, und sie war mir ganz nahe. Ja, sie war mir fühlbar nahe. Wenn ich die Augen geschlossen hatte, konnte ich fast real empfinden, so als würde sie körperlich neben mir gehen. Dann konnte ich besonders gut ihre Liebe fühlen und in einen tiefen Zustand innerer Verbindung mit ihr eintauchen. Wenn ich dann die Augen geöffnet hatte, dann war alles was ich sah schöner, hatte intensivere, leuchtende Farben und war aus unerfindlichen Gründen plastischer. Das stärkere plastische Sehen hatte den Effekt, dass jenes Objekt, das ich gerade am Betrachten war, dadurch zu etwas Einzigartigem wurde, das sich aus der Masse hervor hob. Ohne es mir vorstellen zu wollen, ganz von selbst, hatte ich den Eindruck eins mit Tara zu sein und aus ihrer Perspektive und Betrachtungsweise die Welt um mich zu sehen.

Dieser wunderbare Zustand ihrer Nähe fasziniert mich derart, dass ich ihn nicht mehr dem Zufall überlassen will, sondern mich hierin vertiefen will, so dass diese Weise die Welt zu sehen zu meinem Alltagsbefinden wird."

 

Wenn ich in solche Zustände der Verzückung ein glitt, wurde ich ganz schweigsam. Meine Freunde hatten dies meist missverstanden. Sie glaubten ich würde mich vereinsamt fühlen und schweren Gedanken nachhängen. Sie begannen mich dann in Gespräche einzubinden und wollten mich ablenken. Ich musste sie dann immer beruhigen und im selben Augenblick, in dem ich mit ihnen zu Problematisieren anfing, war ich aus dem Zustand heraußen. Jedes mal hatte ich das Empfinden ungemein Wertvolles dadurch verloren zu haben. Ich konnte es nicht einmal meinen Freunden anlasten, denn sie hatten es ja gut gemeint. Sie verstanden einfach meine Innenwelt nicht. Deshalb hätte ich gerne einen Ort, der für alle tabu ist und wo ich ungestört sein kann.“

 

Daya schien Albin voll zu verstehen, denn sie stellte keine weitere Frage. Sie wurde nachdenklich und sprach dann zu Albin:  "Ich will dir einen Ort zeigen, der vielleicht deinen Vorstellungen entspricht. Hinter unserem Garten liegt ein Wäldchen und dahinter eine leicht felsige Anhöhe. Warst du schon einmal dort?“

 

Albin war verwundert. Das Wäldchen hatte er wohl gesehen, aber dass dahinter eine Anhöhe war, war ihm entgangen. Vor dem Wäldchen war eine Straße, die zur nahen Stadt führte, die mit ihren Kirchen und Zusammenkunftsorten nicht nur für ihn, sondern auch für Antonio und Valentin eine große Anziehungskraft ausübte. Zudem hatte jene Straße nur ein Stück weiter eine Abzweigung, die zum Sanatorium führte, welche er oft bei seinen Besuchen zu Berta gegangen war. Wenn er dort auf der Straße war, dachte er dann nie an das Wäldchen, sondern hatte meist sein Ziel vor Augen. Jetzt aber, darauf aufmerksam gemacht, wurde er neugierig auf das, was so nahe lag und doch seine Geheimnisse zu bergen schien. Es zog ihn förmlich hin und deshalb wollte er sich sofort auf den Weg machen. Daya hatte nichts dagegen einzuwenden.

Sie überquerten beide die Straße und betraten das Wäldchen. Es war ein Mischwald aus Föhren und Eichen und allerlei vereinzelt stehende Bäume wie Vogelkirschen, Ebereschen und Esskastanienbäume. Auch waren allerlei Sträucher im Unterholz und das so dicht, dass gerade noch ein kleiner, halb zugewachsener Pfad mit Mühe zu erkennen war. Sie gingen den Hügel hinauf und immer mehr Kiefern mischten sich in den zusehends trockener und lichter werdenden Wald. Flächen mit Farnen, Brombeerranken und Büscheln von hohem Waldgras mit Blumen dazwischen wurden häufiger. Umgestürzte Bäume und hin und wieder ein großer Findling gaben dem Wäldchen eine zusätzliche Note der Unberührtheit.

Sie kamen zu Findlingen, die wie ein wild hingeworfener Haufen riesiger Steine dort lagen und zwischen denen blühende Wildrosen waren, die ihnen die Wildheit nahmen und ihnen einen Glanz des Lieblichen verliehen. Als sie herum gegangen waren, standen sie plötzlich vor einem kleinen Holzhaus mit spielerisch geschnitzten Verzierungen. Unvermutet stand es da und für Außenstehende und sicherlich schwer zu finden.

 

 

… sie standen plötzlich vor einem kleinen Holzhaus mit spielerisch geschnitzten Verzierungen.

 

Sie betraten das Haus. Außer einigen Stühlen, Bänken, Tischen und Regalen waren die wenigen Zimmer leer. Doch strahlten die Holzwände eine Wärme aus. Es sah ein wenig verlassen aus und Albin hatte den Eindruck als würde es auf ihn warten, darauf warten durch seine Gegenwart belebt zu werden.  Mit etwas Arbeit könnte er es zu einem sehr gemütlichen und sehr schönem Anwesen machen. Die Fenster waren groß, in die Räume strahlte viel Licht und die Zimmerdecken waren relativ hoch.

 

Mit großem Interesse schritt Albin durch die Räume und innere Bilder seiner Wünsche von Möbeln, Teppichen etc. überlagerten als Fantasie die erschaute Realität. Schon steigerte er sich begeistert in Details hinein und machte Vorschläge, wie man dies und jenes aufbessern könne. Schon begann er die verschiedensten Varianten von Mobiliar und Dekoration auszudenken und schilderte dies Daya in lebhaften Worten.

Daya lächelte und sagte: "Es ist dein Haus und es hat auf dich gewartet."

Anschließend blieben sie noch einige Zeit plaudernd draußen auf der Veranda, atmeten den Duft der Blumen und lauschten dem Gezwitscher der Vögel. Albin hätte noch lange bleiben können, als Daya bemerkte, dass es Zeit war sich wieder auf den Rückweg zu machen.

 

Es dauerte nicht lange und sie waren wieder unten im Tal beim Haus von Daya. Es war gerade rechtzeitig, um Antonio und Valentin zu begrüßen, die gerade von einer kleinen Tour zurück kamen. Bevor Albin zu Wort kommen konnte, erzählten sie, was sie Neues erlebt hatten. In Gedanken an das kleine Anwesen hörte Albin nur mit halber Aufmerksamkeit zu. Dann schilderte Albin in plastischen Worten das kleine Holzhaus, das er sich als Klause und Ort zum Meditieren ausgestalten wolle. Mit den Worten: "Ich brauche eure Hilfe" beendete Albin seine Schilderung. Schon trafen sie Vorbereitungen, um sich auf den Weg zu machen. Valentin und Antonio halfen eine Truhe hinauf zu tragen, auf welcher Albin einen Altar aufbauen wollte. Albin bepackte sich seinerseits mit einigen weiterten Utensilien und schon machten sie sich auf den Weg.

Oben angekommen stellte Albin die Truhe in einem der zwei Räume an die Wand, um hier dann später seinen Altar aufzubauen.

 

Das Haus gefiel Albins Freunden und auf dem Rückweg brachten sie auch eine Menge Ideen zum Ausdruck, etwa ein Kaffeeservice für Gäste und eine gemütliche Plauderecke. Albin lachte und war dem Vorschlag nicht abgeneigt.

 

Mit seinen Freunden wieder zurück, suchte Albin sofort hoch zufrieden Daya auf: "Das Haus ist schon fast gemütlich“, strahlte er Daya an. "Als ich mit meinen zwei Freunden das Haus betreten hatte, merkte ich zu meinem Erstaunen,  dass sich dort einiges verändert hatte. Ich weiß nicht ob es die Folge einer helleren Belichtung durch die offene Tür und die offenen Fenster war. Jedenfalls schien das ursprünglich dunkle Holz der Wände etwas stärker aufgehellt zu sein. Die Truhe als Altarsockel macht sich gut."

Und schon kam Albin zu seinem eigentlichen Ansinnen, weshalb er Daya aufgesucht hatte: "Was fehlt wäre jetzt eine schöne Statue von Tara. Weißt Du vielleicht wie ich zu solch einer Statue kommen könnte?“

"Ich wüsste nicht woher“, erwiderte Daya und als sie Albins überraschtes Gesicht sah, der anscheinend Daya nicht glauben wollte, fügte sie hinzu: "In einem Haus hier in der Siedlung wohnte vor einiger Zeit ein Maler. Er ist jetzt weiter gezogen. Aber jedenfalls stehen dort in einer Abstellecke Staffelei, in Rahmen aufgespannte Leinwand in jedem Format und Ölfarben, Kohle und Kreide, einfach alles was ein Künstlerherz begehren mag. Du kannst das alles haben, es ist dein. Versuche ein Bild von Tara zu malen. Das Haus ist verlassen und der Maler wird sicher nicht mehr zurück kehren. Er lebt jetzt in einer anderen Ebene, die ihm besser gefällt.“

"Was glaubst du denn wie Tara aussehen würde, wenn ich sie male", lachte Albin. "Ich will Tara ehren und nicht beleidigen!"

Daya war nicht aus der Ruhe zu bringen. "Ist in Ordnung, ich male dir mit Kohle die Konturen und du kannst das Bild mit Kreide kolorieren“.

Albin wollte protestieren, aber er sah an der entschlossenen Miene von Daya, dass da nichts zu ändern war und schwieg. An seinen Fähigkeiten und dem Vorhaben zweifelnd begleitete Albin Daya zu jenem Haus, von wo die Utensilienlagen, die sie sich holten.  Wieder zu Hause zeichnete Daya ziemlich rasch die Konturen einer Tara, nicht ganz wie es der tibetischen Ikonologie entsprach. Zudem waren die Umrisse nach Albins Geschmack zu einfach – zu viel an Details blieb ihm selbst überlassen. Mit dieser flüchtigen Skizze blieb die Hauptarbeit letztlich doch an ihm hängen.

  

Woh oider übel musste sich Albin an die Arbeit machen. Es war ihm peinlich, dass Daya bei seinen  Versuchen vielleicht zusehen könnte und so machte er es sich zunächst etwas umständlich bequem. Er zeigte nicht die geringsten Anstalten mit dem Bild zu beginnen. Mehrmals blickte er zu Daya, doch die zeigte keine Anstalten den Raum zu verlassen.

"Bevor ich male", sagte er ihr, als sie immer noch da war, muss ich das Bild innerlich in mir sehen, ganz klar muss es sein, dann erst kann ich beginnen."

Daya nickte ihm lächelnd zu und suchte sich ihrerseits einen bequemen Sitz.

Wieder blickte Albin zu Daya: "Das ist eine Art Meditation, da muss ich allein sein und mich vertiefen können!"

"Ach so", meinte Daya, "ich werde ganz still sein und Dich nicht stören!"

Was sollte er tun? Kurz quälte sich Albin mit diesen Gedanken ab. Dann entschloss er sich einfach darauf los zu malen und sollte es schlecht werden, so würde er darauf verweisen, dass er nicht zu der richtigen inneren Stille und Besinnung durch ihre Anwesenheit hatte kommen können.

Daya erkannte sein Dilemma und ging.

 

Albin war erleichtert. Er arbeitete zweihändig – in einer Hand die Kreide, in der anderen den Radiergummi. Fast gleichmäßig teilten sich beide Hände die Arbeit. Es dauerte lange bis Albin fertig war. Er wagte es nämlich nur kleine Flächen zu kolorieren. Fast war es schon reinster Pointilismus. Letztlich entstand wenn man es sehr positiv beurteilen wollte, eine flache Figur wie aus einem Comic Heft und war kaum einem Tara-Gemälde wie er es sich vorstellte ähnlich. Jetzt war es ihm unangenehm, dass er Daya gebeten hatte die Konturen vorzuzeichnen. Aber was war ihm anderes übrig geblieben? Ohne Dayas Konturen hätte er noch weniger fertig gebracht. So stimmten Dank Daya wenigstens ungefähr die Proportionen. Andererseits konnte er keine neue Leinwand nehmen und alles noch einmal versuchen, denn bei dem neuen Werk würden Dayas Striche der Vorzeichnung fehlen und das wäre auffällig. Daya wie er sie kannte würde sicherlich unter den abgestellten Bildern herum stöbern.

"Nun ja, mehr ist nicht drinnen", dachte er und beendete sein Werk. "Daya würde sicherlich in Kürze kommen, um nachzusehen."

Kaum gedacht, betrat Daya auch schon den Raum.

"Ist doch peinlich, dass sie eine derart gute Telepathin ist“, ärgerte sich Albin, "nichts kann man ihr verheimlichen.“

 

Oh, hatte Daya eine gute Selbstbeherrschung! Innerlich aber lachte sie, nicht nur über das Bild, sondern mehr noch über die Skrupel von Albin. Ihr Gesicht blieb würdig ernst und sie begutachtete mit Kennerblick das Bild und lobte manche Stelle und besserte manches aus. Schlussendlich musste man zwar zugeben, dass das Bild keineswegs schön war, aber es war zumindest nicht mehr Tara gegenüber beleidigend.

 

"Komm, setze dich her“, sagte Daya, "ich gebe dir eine Einführung in die Kunst des Malens und Zeichnens.“

Albin schaute Daya verblüfft an. Das Erlernen dieser Künste dauert Jahre, wusste er von seinem Erdenleben her, was sollte da eine kurze Einführung!

Daya ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: "Hier läuft alles etwas anders als in der irdischen Welt. Es gilt das Prinzip: wie innen so außen, wie außen so innen. Die Qualität des Befindens, der Erwartungen und Vorstellungskräfte sind die Formkräfte der Astralebenen.

In gleicher Weise, wie die Formung im großen Rahmen, etwa der Landschaft, durch kollektives Einwirken geschieht, so wirken auch die individuellen Erwartungen und Einstellungen im Kleinen. Das hast du als Theorie schon früher gelernt. Jetzt ist es Zeit, dies in die Praxis umzusetzen. Hat man diese Prinzipien einmal erkannt, so kann man, bewusst gestaltend, auf das eigene Umfeld einwirken. Das wollen wir nun gleich einmal ausprobieren.

Setz dich vor die Staffelei in Meditationshaltung, schließ die Augen und stell dir das Bild vor, so wie du es gerne hättest. Damit nicht zusätzlich meine Formkräfte in das Bild einfließen, werde ich mich um einen Blumenschmuck kümmern, den du als Begrüßung von Tara später auf den Altar stellen kannst. Auch ich muss meine Augen schließen, denn würde ich auf das Bild blicken, so würde mein im Unterbewusstsein verankerter Glaube an eine relativ beständige Welt eine jede Veränderung erschweren oder gar blockieren. Unser Bedürfnis nach Orientierung und Stabilität, lässt so etwas wie eine Beharrungskraft nach außen wirken. Die Beharrungskräfte wirken einer jeden Veränderung entgegen. Also werde ich meine Augen schließen und Blumen in einer Vase vor mir visualisieren. Gegen Visualisierungen sperrt sich das Unterbewusstsein weniger, weil wir solche Vorgänge von den Träumen her gewohnt sind. Wenn ich auf diese Art meine Vorstellung vertieft habe und dann die Augen öffne, dann wird aller Wahrscheinlichkeit wirklich eine Vase mit Blumen vor mir stehen. In gleicher Art kannst du das Bild von Tara im positiven Sinn verändern.“

 

Daya und Albin meditierten einige Zeit und als beide die Augen geöffnet hatten, befand sich auf der Staffelei ein liebliches Bild von Tara, mit nur wenigen Mängeln. Vor der Staffelei stand ein Bouquet wunderschöner Blumen.

 

Albin war beeindruckt. Dies musste er erst verarbeiten. Er bedankte sich bei Daya und begab sich auf einen nachdenklichen Spaziergang. Gar vieles gab es zu überlegen, konnte doch manches aus seiner Vergangenheit, von der Steinwüste beginnend, aus dieser Sichtweise her einen neuen Sinn erfahren. Im Wesentlichen war ihm das Prinzip schon vor kurzem von Daya erklärt worden, aber da war es für ihn noch eher trockene Theorie. Es erklärte ihm zwar manches, aber er fühlte sich jener Gesetzmäßigkeit eher passiv ausgeliefert. Nun aber hatte er gelernt, aktiv in seine Umwelt einzugreifen und sie zu gestalten. Etwa die Aufhellung der Wände seines Meditationsraumes im Holzhaus erfolgte unerwartet. Er konnte es nur zur Kenntnis nehmen. Nun aber, da er nicht nur wusste, dass man aktiv gestalterisch eingreifen könne und auch wie man dabei vorgehen müsse, traten viele praktische Aspekte in den Vordergrund. Das auszuprobieren reizte ihn. Er dachte hierbei sofort an das Holzhaus, seine kommende Klause.

 

Der kleine Nachdenk-Spaziergang hatte nicht lange gedauert. Schon war Albin wieder zurück in Dayas Haus. Er nahm sich das Bild von Tara und machte sich sofort auf den Weg zur Waldklause.

Dort angelangt befestigte er das Bild oberhalb seiner Altartruhe an der Wand, setzte sich davor und schloss die Augen. Als erstes beschloss er durch seine innere Vorstellungskraft die als Altartisch gedachte Truhe umzugestalten. Ursprünglich wollte er ein Tuch darüber legen, um die grobe Holzarbeit zu überdecken. Jetzt hatte er andere Möglichkeiten im Kopf. Die Truhe sollte sein erstes Objekt sein, an welchen er die neu erlernten Fähigkeiten durchtesten wollte. Sie sollte nicht durch ein Tuch überhangen werden, sondern statt dessen sollte das Holz mit schönen Ornamenten verziert sein. Sie sollte schön sein und zu Tara passen.

Er betrachtete die Truhe einige Zeit. Dann schloss er die Augen und begann in ihre ursprünglich einfache Außenseite gemalte Ornamente hinein zu denken. Er war gerade dabei sich Ornamente auszudenken, als ihm einfiel, dass Einlegearbeiten schöner wären. Er wollte sich gerade in die Truhe mit schönen Einlagen hinein leben, als ihm einfiel, dass Schnitzereien vielleicht noch schöner wären. Da vernahm er ein Lachen. Es war nicht akustisch und er hörte es nicht mit seinen Ohren. Es schien ihm als würde das Lachen von überall im Raum kommen. Und dann vernahm er folgende Botschaft, ebenfalls von überall aus dem Raum kommen: "Lass mich die Altartruhe gestalten, als Zeichen meiner Liebe zu dir!"

Im nächsten Augenblick fühlte Albin eine unsagbar zarte und tiefe Liebe, die alles Leben mit einschloss. Es war eine grenzenloser Hingabe, die bis zur Selbstaufopferung neigte. Allmählich ebbte diese wunderbare Zustand ab. Albin dachte nicht mehr an die Truhe, er hatte sie einfach in diesem Liebeszustand vergessen.

Als Albin langsam wieder die Augen öffnete, sah er vor sich etwas golden leuchten. Allmählich, aus einem Glanz der Verzückung heraus, begann er wieder seiner Umgebung Beachtung zu schenken. Und da sah er vor sich das Geschenk Taras. Vor ihm stand eine wunderschöne, gold leuchtende Altartruhe. Sie war eine mit Blattgold überzogene Holzschnitzerei. Sie zeigte in ihrer Mitte einen Pelikan, der mit seinem Herzensfleisch seine Jungen fütterte.

 

Das christliche Symbol der selbstaufopfernden Liebe erinnerte sich Albin. Wiederum erfühlte er eine tiefe Liebe. Diesmal war es seine Liebe, die sich Tara zuwendete.

 

Lange blieb Albin noch vor dem Altar sitzen. Dann ging er wieder das Wäldchen hinunter und erzählte Daya und seinen Freunden, was er erlebt hatte. Natürlich wollten alle gleich den Altar sehen und so gingen sie zu viert wieder hinauf zur Klause, um das Wunder zu bestaunen.

 

 

 

9

 

Die   Schicksalsbücher

 

 

Während Antonio und Johann viel unterwegs waren und die Gegend erkundigten, liebte es Albin zu meditieren und mit Daya Gespräche zu führen. Wissbegierig erfuhr Albin so manches Geheimnis von Daya.

"Woher hast du nur all dein Wissen?" wollte Albin bei einem der Gespräche von Daya hören.

"Ich habe einen geistigen Lehrer und dann habe ich auch aus Bücher gelernt", gab ihm Daya zur Antwort.

"Kann man denn auch hier aus Büchern lernen und wo finden sich die Bücher", wollte Albin sofort wissen.

"Pst, das ist ein Geheimnis", wisperte Daya mit gespieltem Ernst zu Albin. "Aber wenn Du willst, bringe ich dir einmal ein solches Buch mit!"

"Welch eine Frage, natürlich! Ich warte ungeduldig darauf," rief Albin aufgeregt.

Daya lachte.

 

Nicht lange danach, als Albin von seiner Klause wieder zurück kam, winkte ihm Daya mit einem Buch in der Hand zu.

Schon war Albin zu ihr geeilt und streckte bereits seine Hand aus.

"Nichts da", so schnell geht das nicht, wies ihn Daya belustigt zurecht.

Langsam, viel zu langsam ging sie mit dem Buch in der Hand zum Gartentisch und setzte sich. Dann legte sie das Buch auf den Tisch, ein uraltes Exemplar mit goldgeprägten Zeichen auf Einband und Buchrücken. Fest lag Dayas linke Hand auf dem Buch, während sie mit dem rechten Zeigefinger abwinkte. "Nicht so eilig. Vorerst gibt es noch einige Erklärungen zum Inhalt. Und ob du es überhaupt lesen kannst ist dann eine weitere Frage."

"Nun zum Inhalt", setzte Daya ihre Erklärungen fort. "Das Buch ist eine Biographie."

 

Albin sah man die Enttäuschung an. Eine Biographie war das Letzte, das er sich erhofft hatte. Lernen wollte er, in die kosmischen Geheimnisse vordringen und nicht etwas über das Leben eines Generals, Bauern oder Händlers lesen.

 

"Ich sehe, du bist enttäuscht", stellte Daya fest.

"Nun ja, etwas boin ich schon enttäuscht", gab Albin zu. Was sollte er auch anderes sagen, Daya las ihm ohnedies alle Gedanken aus seinem Gesicht ab. "Ich hatte mir ein Lehrbuch über tiefes kosmisches Wissen vorgestellt."

Daya schenkte ihm ihr Bedauern: "Ach du Armer, glaubst noch immer man könne den Kosmos und seine Geheimnisse intellektuell verstehen lernen. Nun, willst Du das Buch lesen oder soll ich es zurück tragen."

 

Albin fürchtete, dass er, sollte er das Buch ablehnen, nicht so schnell von Daya ein anderes Buch bekommen würde und beeilte sich zu sagen: "Ja, bitte gib es mir, ich werde es mir rauf in die Klause nehmen und dort lesen."

"Für dieses Buch bürge ich", gab Daya zur Antwort. "Das gebe ich nicht aus der Hand und du kannst es nur hier in meinem Beisein lesen."

 

Albin sah Daya rätselnd an. Ihre Worte waren für ihn zunehmend verwirrend. Daya schob ihm das Buch hin.

Albin öffnete das Buch und zu seinem Erstaunen fand er keinen Text vor. Es fanden sich allerlei Zeichnungen und  rätselhafte Ornamente und keine Schrift. Keine Erklärungen zu den Bildern.

Nachdem Albin oberflächlich einige Seiten überblättert hatte und nichts anderes als Bilder oder Ornamente gesehen hatte, sah er fragend zu Daya auf.

Sie wies mit dem Finger auf die soeben aufgeschlagene Buchseite und sprach zu ihm: "Sei nicht oberflächlich. Schau dir so ein Bild genauer an, vertief dich darin!"

 

Albin kehrte mit seiner Aufmerksamkeit wieder zum Buch zurück und betrachtete die vor ihm liegende Seite genauer. Es war eine Schwarzweiß-Zeichnung mit Bäumen, deren Äste teilweise ornamental ineinander verschlungen waren. "Ein Dschungel“ formte sich der Gedanke in Albins Kopf. In der Mitte der Seite war ein dunkler Fleck im Schatten der Bäume. Albin sah genauer hin. Da begannen sich aus dem dunklen Feld die Konturen eines Tempels abzuzeichnen. Seinen Blick auf dieses Zentrum gerichtet schien es ihm, als würden die Blätter der umgebenden Äste beginnen sich zu bewegen. In der Peripherie des Sehfeldes wirkte die Bewegung der Äste stärker. Die Blätter bewegten sich stärker und begannen zu rascheln. Bevor sich Albin noch darüber Gedanken machen konnte war aus dem Rascheln der Blätter ein Rauschen geworden und Albin blickte in einen Wirbel, der ihn in sich hinein zog. Albin verlor kurz die Orientierung und auf einmal sah er sich in einer von hohen tropischen Bäumen umgebenen Lichtung stehen. Vor ihm war ein Tempel, den er sinnend betrachtete.

 

 

Sinnend stand er vor dem Tempel, staunend über die üppige Natur. Er war gleich einem Zeitreisenden, in eine fremde Welt geworfen und sie bestaunend.

 

Und wie er so schweigend vor dem Tempel steht, empfängt er ein zunächst bruchstückhaftes Wissen, das immer mehr Geheimnisse um diesen seltsamen Ort lüftet:

Die Waldlichtung ist weit ab vom Dorf, mitten in den dunklen Tiefen eines Dschungels. Nur selten wagt sich ein Mensch hierher. Hier vor ihm ist der kleine steinerne Tempel der Göttin. Welcher Göttin? Eine sinnlose Frage, es gibt ja nur eine Göttin im Glauben der Leute hier. Wie hoch die Bäume rings um den Tempel gewachsen sind und ihn in ihrer Erhabenheit klein erscheinen lassen. Ihr hoher Wuchs lässt erkennen wie lange dieser Tempel schon verloren hier steht. Auch die von Flechten und Staub gedunkelten Mauern lassen erkennen, dass Jahrhunderte hier vorüber gezogen sind. Die Steinfiguren sind verwittert und lassen nur selten noch Farbe erkennen. Früher mag es ein buntes Götterpantheon gewesen sein, was sie darzustellen versucht hatten. So wie alten Kultstätten ist dieser Tempel aus Stein. Wenn man ihn aufmerksamer betrachtet, erkennt man, dass er aus einem Fels heraus geschlagen wurde. Nur Figuren und Stufen oder Geländer sind aus zusätzlichen behauenen Steinen hinzugefügt worden. Das lässt erkennen, dass der Tempel noch älter ist als die üblichen Steintempel, denn es war in den urältesten Zeiten, damals in grauer und vergessener Vorzeit, als man Tempel in den vorhandenen Fels geschlagen hatte. Diese Felstempel waren die Nachfolger der steinzeitlichen Kulthöhlen. Es machte viel Mühe solche Tempel mit den weichen Werkzeugen wie etwa Meisel aus Kupfer aus dem Fels zu schlagen. Das konnten sich  nur reiche Könige leisten. Also ist zu vermuten, dass hier einmal eine Königsresidenz war. Die Holzhütten waren bald vermorscht, die besseren Bauten aus Lehmziegel einige Jahrhunderte später zerfallen und dann blieb nichts mehr; nur noch der Tempel und ein paar Unebenheiten im Gelände.

 

Es gibt noch ein Dorf in einiger Entfernung. Da es eine Sünde ist einen Tempel einfach verwahrlosen zu lassen und dies den Fluch der Göttin herbeiführen könnte, ist man froh, wenn man einen Priester aus einer verarmten Familie der Brahmanenkaste auftreiben konnte, der hier den Tempeldienst versieht. Aus dieser Furcht heraus wurde seit jenen uralten Zeiten, von denen nicht einmal mehr Legenden berichteten, immer wieder ein Priester bestellt und dieser von den Dorfleuten versorgt. Es fällt dem Dorf nicht leicht den Priester mit Naturalien zu erhalten, denn die Bewohner sind arm. Ja, sie waren und sind so arm, dass sie sich nicht einmal einen eigenen winzigsten Dorftempel mit Priester zusätzlich leisten können. Deshalb haben sie nur einen Opferschrein am Dorfrand.

 

Der Tempelpriester, seine Vorgänger und alle nach ihm in dem Tempel müssen durch Monate von dem geopferten ungekochten Reis, den getrockneten Früchten und Wurzeln leben können. Hin und wieder, zu besonderen Anlässen, wird ein Stück Stoff oder Hausrat gebracht. Immer dann, wenn jemand erkrankt ist oder man sich Schutz von der großen Göttin erhofft. Bei Hochzeiten ruft man lieber andere Gottheiten herbei, die weniger unheimlich sind als jene alte Tempelgottheit. In diesem Fall fällt nur wenig als Opfer für den kleinen Tempel ab und man opfert nur deshalb, damit sich die Göttin nicht ausgeschlossen fühlt und zürnen würde.

 

Dann, innerhalb eines winzigsten Augenblickes ändert sich die Szene:

Er war ein indisches Kind, etwa im Alter von zehn Jahren. Der Priester hatte ihn seinen armen Eltern abgekauft. Nun war er dessen Diener. Zwischen Diner und Sklave war wenig Unterschied. Er war nicht nur Diener des Priesters, sondern dieser sah in ihm auch eine Altersversorgung. Sollte er einmal alt sein, so war es die Pflicht des Jungen ihn zu ernähren und zu umsorgen.

Der Priester wies ihn in die Tempeldienste ein und lehrte ihn manchen Opfergesang und manches Ritual. Solcherart war der Priester nicht nur sein Besitzer, sondern auch Lehrer und Vormund.

 

Als der Junge älter war, kam ihn gelegentlich ein junges und sehr hübsches Mädchen aus dem Dorf besuchen, denn er war nicht nur kräftig und von schönem Körperbau, sondern auch intelligent und gefühlvoll. Sehr bald hatten sich beide ineinander verliebt.

 

Dem Priester missfiel diese Verbindung. Nach all der Mühe, die er in den Jungen investiert hatte und jetzt, da sich bei ihm dem Priester das Alter zeigte, wäre es für ihn ein Unglück, sollte der Junge fort ziehen und ihn dem Altersschicksal allein überlassen. Er verbot dem Mädchen je wieder in die Nähe des Tempels zu kommen. Aber sie kam heimlich oder der Junge suchte heimlich das Dorf auf. Dem älteren Priester entging das nicht und als das Mädchen sich wieder einmal dem Tempel nahte, tötete er es. Niemand sollte ihm den Jungen verführen und fortlocken.

Es war eine schreckliche Tat. Wer weiß, vielleicht war es nicht nur der Besitzanspruch an den Jungen, sondern vielleicht war jener Priester durch Alter oder das abgeschiedene Leben bereits verrückt. Niemand weiß es. Nicht lange darauf starb der alte Priester. Die Göttin hatte ihn verflucht, so dachten die Dorfleute.

 

Der junge Mann war durch den Tod seiner Geliebten seelisch zerstört. Die Wunde wollte nicht heilen. Er war vereinsamt, hatte seine große Liebe verloren, eine Liebe, die es nur einmal im Leben gibt. Er bemühte sich um keine weitere Frau mehr und es versuchte auch keine Frau mehr mit ihm in Kontakt zu treten, aus Angst, dass jemand, der an einem verfluchten Ort lebte ebenfalls den Fluch mit sich trage. Die Dorfleute begannen den Tempel zu meiden. Nur noch Männer kamen gelegentlich um Essen zu bringen. Auch sie fürchteten sich vor dem Geist des alten Priesters, der, von der großen Göttin verstoßen, als Dämon durch den Dschungel heulte, wie man sich im Flüsterton erzählte.

Dadurch wurde es noch einsamer um den alten Tempel. Das einzige, was dem jungen Priester, denn jetzt oblag ihm das Priesteramt, noch blieb, war die Göttin. Zu ihr nahm er Zuflucht und ihr diente er mit liebendem Herzen bis in sein hohes Alter. Sie war ihm alles, Mutter, Geliebte, die einzige Ansprechpartnerin, die Seele der ganzen Welt. Die Welt der Menschen hatte ihn ja verstoßen, zusammen mit dem Ort, an dem sie, die Göttin und er lebten. Ja, sie lebte dort, die Göttin, denn gelegentlich konnte er sie sehen und fühlen konnte er sie jederzeit.

 

Dann war auf einmal Schwärze, eine Art Stoß, der sich wie ein Erschrecken anfühlte. Albin war wieder in sein Tagesbewusstsein zurück gekehrt.

Daya hatte ihm das Buch aus den Händen genommen.

Langsam musste sich Albin in seiner jetzigen Welt wieder zurecht finden.

Daya ließ ihm Zeit. Dann sprach sie: "Siehst Du, vielleicht  war es einmal Dein Leben oder das eines anderen Menschen. Auf diese Art bilden sie die Liebesbande zu einer Gottheit, Liebesbande, die durch Jahrhunderte und Jahrtausende bestehen bleiben.

Die großen Geheimnisse des Kosmos, die Quelle der Wunder und des Daseins, sie finden sich in solchen Schicksalen und nicht in Zauberworten und geheimnisvollen intellektuellem Wissen. Weisheit und innere Kraft werden in Schicksalen erworben und nicht durch Tricks erschlichen. Kein Buch kann durch seine Buchstaben dir jene Kraft vermitteln, die du durch Freude und Leid, durch Irrungen und Erkenntnisse in deinen Leben erworben hast.

 

Albin blieb noch lange am Tisch sitzen, das zugeschlagene Buch vor sich. Da kam Valentin und Antonio.

"Ah, ein altes Buch“, rief Valentin, sich zu Albin setzend, und vermutete sofort etwas Besonderes. "Wovon handelt es?“

"Es ist ein Schicksalsbuch“, erklärte Albin.

"Ist das so etwas wie ein Register von Sünden und guten Taten?" fragte Valentin leicht verwirrt.

Albin bemühte sich Valentin das Wesen des Buches darzustellen: "Dieses Buch enthält keine geschriebenen Aufzeichnungen. Wenn man hinein schaut, zieht es einen wie mit hypnotischer Kraft in ein fremdes Leben. Man lebt dann als jene fremde Person in einer fremden Zeit und womöglich auch in einem fremden Land. Den Bezug zur Gegenwart und zur eigenen Person vergisst man hierbei gänzlich. Ob dieses Buch ein Schicksal oder mehrere enthält weiß ich nicht. Ich habe nur eines gesehen.“

"Das klingt interessant", interessierte sich Valentin. "Kann ich auch einmal hinein schauen?“

"Warum nicht“, meinte Albin.

Valentin öffnete das Buch, aber außer ein paar Schwarzweiß-Zeichnungen und Ornamenten sah er nichts. Enttäuscht, dass er keinerlei Information dem Buch entnehmen konnte, schob er das Buch wieder zurück zu Albin. Jetzt nahm Antonio das Buch und versuchte es ebenfalls. Auch er konnte nichts sehen.

 

"Ich konnte auch nichts zu Beginn lesen“, meinte Albin, "Daya musste mich darauf hinweisen mich intensiver zu vertiefen."

Die zwei Freunde versuchten es noch einmal, hatten jedoch keinen Erfolg. Albin seinerseits scheute sich davor es noch einmal zu versuchen, denn das vorherige Erlebnis wirkte noch sehr nach und er wollte dieses nicht durch ein neues Erlebnis überlagern. Es wäre ihm einfach zu viel zum Verarbeiten, fand er.

 

Als Daya wie zufällig vorbei kam, wurde sie sofort wegen der Lesbarkeit des Buches angesprochen.

Daya dürfte schon auf diese Frage gewartet haben, denn sie reagierte keineswegs erstaunt, sondern eher vergnügt.

"Wieso gibt mir das Buch seine Inhalte weiter", fragte Albin, "und meinen Freunden nicht?"

 

Daya ließ sich Zeit mit einer Antwort. Es erweckte den Eindruck als würde die Antwort sehr schwierig und vielleicht sogar geheimnisvoll sein. In den drei Freunden wuchs die Spannung. "Das ist nicht so einfach, ich will jedoch versuche es euch klar zu machen“.

Wieder war eine Pause. "Das Buch hier ist ein mental erschaffenes und aufgeladenes Hilfsmittel. Das, was man dem Buch scheinbar entnehmen kann, befindet sich nicht im Buch gespeichert. Das Buch ist gleichsam ein magisches Tor zu einigen wenigen speziellen Schicksalen. Diese Schicksale sind, um es noch einmal zu betonen, nicht im Buch aufgezeichnet. Die Erinnerung daran befindet sich im kosmischen Allbewusstsein.

Der Zugang zu dieser hohen Quelle des Wissens um die Vergangenheiten, ist für euch alle drei noch nicht zugänglich. Es gibt einen Schutz, der einen allgemeinen Zugang zu diesem wissen erschwert. Das Buch ist eine Art Schlüssel, welcher den Zugang erleichtert. Allerdings muss man dazu ein Schlüsselträger sein, wenn wir bei dieser symbolischen Ausdrucksweise bleiben wollen. Man muss eine Befugnis haben. Die habt ihr nicht. In meinem Beisein jedoch konnte ich Albin dank meiner Befugnis einen kurzen Einblick ermöglichen.

 Ich bin Ich musste dir dabei helfen. Das Buch hat es mir erleichtert dir einen Zugang zu verschaffen. Allein aber gelingt dir das noch nicht.

Wie bekommt man die Befugnis die Bücher zu lesen und wo findet man die Bücher? Und es waren noch mehr Fragen, die allesamt zugleich von den drei Freunden an Daya heran getragen wurden.

Daya lachte. "Langsam, langsam! Die Bücher befinden sich in einer speziellen Bibliothek. Man nennt eine solche Bibliothek "Akasha-Bibliothek". Es gibt nicht nur eine Akasha-Bibliothek, wie manche glauben, sondern viele Bibliotheken dieser Art.

Aber ich sage euch gleich, es ist nicht so einfach, so Aus Neugierde etwa in die Schicksale einzutauchen. Man braucht hierzu viel Kraft, um die darin enthaltenen seelischen Spannungen auszuhalten. Auch benötigt man hierzu eine gute Basis an Weisheit und Wissen, um die Schicksale in ihrer Aussage und Essenz verstehen zu können. Nur dann ist ein Zugang gestattet. Dass die Bücher versiegelt sind ist also ein Schutz für die Personen und nicht eine Geheimniskrämerei oder ein Privilegiendenken.

 

Daya erhob sich und verließ die Freundesrunde.

Ihre Worte über die Akasha Bibliothek wirkten jedoch nach. Wann immer Daya einem von ihnen begegnete wurden ihr erneut darüber Fragen gestellt. Etwa: "Welchen tieferen Sinn hat es diese Bücher zu lesen? Kann man wenigstens solch eine Bibliothek besuchen, auch dann wenn man nicht in den Büchern lesen darf? Gibt es auch inhaltlich leichtere Bücher, die du für uns ausborgen könntest?

 

"Genug", sagte letztlich Daya, als die drei Freunde sie wieder einmal mit Fragen insistierten. Ich bringe euch dort hin. Die Bibliothek liegt nicht in der Nähe und wir müssen uns hinprojizieren.“ Nehmt euch an den Händen und bildet mit mir einen Kreis. Dann wollen wir einen Raumsprung versuchen.

Sie reichten einander die Hände und schon standen sie vor dem Tor eines großen Gebäudes. Die drei Freunde waren beeindruckt über diese Art des Reisens. Alleine das schon war es wert, dass sie Daya die letzte Zeit mit dem Wunsch nach der Akasha Bibliothek auf die Nerven gefallen sind.

Die Fassade des Gebäudes war mit steinernen Figuren und Ornamenten verziert und sah selbst schon wie eine Seite eines Schicksalsbuches aus.

 

Vor dem Tor saß eine Frau, welche die Ankömmlinge aufmerksam musterte. Daya jedoch schien sie zu kennen, denn sie lächelte ihr zu. Mit einer Armbewegung lud sie die Gruppe ein einzutreten.

 

Daya ging voraus. Die drei Freunde folgten ihr über eine breite, geschwungene Treppe zu einem Leseraum. Dort standen zahllose aus Holz geschnitzte und mit goldenen Ornamenten versehene Regale und zwischen ihnen mehrere Reihen von Säulen, welche den Lesern das ungestörte Betrachten ihrer Bücher in kleinräumigen Nischen ermöglichten. Einige Meter höher befanden sich Laufwege und Galerien, abgestützt durch geschnitzte hölzerne Balken. Es war alles etwas eng und dennoch war die Bibliothek schön, ja, geradezu prunkvoll.

 

Daya und die drei Freunde setzten sich und ein alter Mann mit einem Mantel, dessen Stoffmusterung aus braunen und gelben Herbstblättern bestand, legte ihnen drei Bücher vor. Die drei Freunde vertieften sich hinein. Daya schien mit ihrem Bewusstsein einmal in den einen und dann in den anderen der drei Freunde einzutauchen.

Es dauerte eine geraume Zeit, bis die drei Freunde imstande waren in das über die Bücher vermittelte Geschehen eintauchen konnten. Sie blieben geraume Zeit vertieft und als sie wieder in die Gegenwart zurück gekommen waren, waren sie sehr nachdenklich und schweigsam. Kein Wort wurde gesprochen als sie das Gebäude wieder verließen. Draußen reichten sie einander die Hände, und gleich darauf waren sie wieder zurück in Dayas Gartenhaus. Dort setzten sie sich an den Tisch und blieben durch geraume Zeit weiterhin schweigsam.

Dann endlich forderte sie Daya auf: "Erzählt mal, was ihr erlebt habt“.

 

Antonio begann als Erster:

"Ich erlebte mich als zirka achtjährigen Jungen. Meine Familie war reich. Wir lebten in einem großen Haus und hatten genug zu essen. Dies war in jener Zeit ein großer Segen, denn es gab viele Arbeitslose. Mein Vater war Obsthändler. Viele Kisten mit Obst standen im Lager, das sich im Wohngebäude, gleich nach dem Eingangstor befand. Vom Lager aus führte eine Stiege in die oberen Stockwerke, wo wir wohnten. Der Lagerraum war deshalb im Wohnhaus, weil die Leute damals aus Hunger zum Stehlen neigten. Es war also gut, wenn man die Kisten mit Obst immer gut vor Augen hatte.

Ich befand mich in einem Nebenraum, als ich im Obstlager ein Geräusch hörte. Tatsächlich war dort ein Obstdieb. Es war ein großer, schlanker, blonder Mann.

"Du darfst nicht unser Obst stehlen! Wenn du es tust, werde ich schreien!" sprach ich ihn an und baute mich kleiner Knirps vor dem Mann groß auf. Ich musste meinen Kopf in den Nacken werfen, um zu ihm empor zu schauen.

"Ist gut", sprach der Mann und steckte sich noch einen Apfel ein. Folgsam ging er zur Ausgangstüre und steckte sich im Vorbeigehen einen weiteren Apfel ein. Dazu lachte er zufrieden.

Dass er sich noch zwei Äpfel eingesteckt hatte gefiel mir zwar ganz und gar nicht, denn das war etwas ungehorsam, aber andererseits fühlte ich mich geschmeichelt, weil er mir so folgsam gehorchte und so schrie ich nicht. Er schien eigentlich ein netter Mensch zu sein.

Als er beim Eingangstor stand sprach ich noch wie ein Lehrmeister zu ihm: "Du darfst nicht stehlen!" und dann begütigend, wenn du morgen um diese Zeit hier an der Straße auf mich wartest, dann bringe ich dir einen Apfel".

 

Am nächsten Tag wartete der Mann ein paar Häuser weiter, an eine Hauswand gelehnt. So als würde ich ihn nicht kennen, damit es nicht auffällt, ging ich an ihm vorbei und reichte ihm einen Apfel. Auch am nächsten Tag schwindelte ich ihm diesmal zwei Äpfel zu. Mein Vater durfte nichts davon wissen. Ich aber hatte jemanden, der auf mich wartete und dem ich etwas schenken konnte. Es schmeichelte mich und hob mich in meinem Selbstbewusstsein einen großen Mann auf mich warten zu sehen und sein "Danke sehr mein Freund" zu sagen hören. Es war etwas von mir noch nie Erlebtes und etwas ganz Besonderes. Noch nie war ich für jemanden wichtig gewesen und jetzt war es sogar ein großer starker Mann, der auf mich wartete, der mich sogar anlächelte und mich "Freund" nannte.

Solange die Äpfel noch im Lager waren und auch später gelegentlich sah ich meinen großen freund, wir lächelten uns an und ich gewann ihn sehr lieb.

Seine Liebe spüre ich noch jetzt und vielleicht habe ich einen Teil meiner Liebe, die ich euch entgegen bringe damals dort gelernt, denn ich bin überzeugt, dass ich in einem früheren Leben jener kleine Junge war."

 

Jetzt war Albin an der Reihe und er begann:

"Ich war ein Zigeuner und wanderte mit meiner Gruppe von Dorf zu Dorf, spielte auf Hochzeiten oder in Gasthäusern. Am liebsten spielte ich traurige und melancholische Lieder. Ich vergaß dann die ganze Welt, nein, ich vergaß nicht die Welt, ich war die Welt mit all ihrem Schmerz. Oft füllten sich meine Augen hierbei mit Tränen. Aber das machte nichts, ich musste ja keine Noten lesen. Genau genommen hatte ich nie Noten lesen gelernt. Ich spielte alles aus meinem Kopf.

Einmal in einer Zeit davor hatte ich eine Geliebte. Heiß und innig hatte ich sie geliebt. Doch unser Glück war nur kurz, denn sie verstarb. Diese verlorene Liebe war es, die ich in meinen Liedern im Schmerz der Welt wieder fand.  

Eines Tages spielte ich vor einer Gruppe Menschen, die völlig anders als das übliche Publikum waren. Sie forderten mich nicht auf lustige Weinlieder und Schwänke zu spielen, was ich oft widerwillig in anderen Gesellschaften spielen musste. Sie akzeptierten mich und meine Musik so wie ich war. Ich glaube sogar, sie liebten es in dieser Art. In dieser Gruppe war ein religiöser Lehrer mit seinen Schülern und ihm ergebenen Leuten, wie ich ich heraus fand. Dieser religiöse Lehrer winkte mich zu sich und bot mir an bei ihnen zu bleiben. Ich willigte ein und blieb bei ihm und bis zu seinem Lebensende. Dann später führte ich eine eigene Gruppe. Ich hatte dort mein Zuhause gefunden und fühlte mich glücklich, obwohl ich einer gänzlich fremden Welt entstammte."

 

Danach erzählte Valentin sein Erlebnis:

"Ich habe das Schicksal einer Frau erlebt. Ihre Schicksalsverflechtung hat mich zutiefst berührt. Es war ein sehr tragisches Schicksal. Ich bringe das Geschehen so als hätte ich es gehört oder als würde ich es von einer anderen Person berichten. Aber in Wirklichkeit war ich jene Frau:

Sie war eine junge und hübsche Indianerin aus dem Hochland der Anden. So manche Erzählung über eine wundersame Welt nahe der Küste drang selbst bis zu ihrem entlegenen Dorf hinauf. Mehr und mehr wurde jene weit entfernte Welt zum Inbegriff all ihrer Wünsche und Sehnsüchte und so machte sie sich eines Tages auf den Weg, jene Welt zu sehen, die noch niemand aus ihrem Dorf gesehen hatte und aus der so fremdartige Gerüchte vordrangen.

Von der Sehnsucht nach dieser wunderbaren, ja, wie sie dachte, paradiesischen Welt getrieben, verließ sie die steinigen Höhen, in denen die Götter und der Geist ihrer Vorfahren lebten. Es war ein weiter Weg und er dauerte Wochen. Es war gut vorstellbar, dass manche diesen Weg nicht überlebt hätten. Aber sie, die Indianerin, war zäh, genügsam und fand auf dem Weg manch Essbares, das andere weder gekannt noch gefunden hätten. Außerdem war sie von den Göttern beschützt, das fühlte sie und immer wenn ihre Kräfte zu erlahmen drohten und sie ihre Gebete an die Götter richtete, fühlte sie neue Stärke.

 

Sie erreichte das Land ihrer Sehnsucht. Es war wirklich so wunderbar, wie die Legenden berichteten. Aber es war nicht das Paradies, wie sie dachte, denn es gab viel Elend. Die Menschen waren schlecht und hatten mit den guten Sitten auch jegliche Heiterkeit verloren. Ein Fluch musste jenes Paradies, und das war es sicher einmal, in die Finsternis gestoßen haben.

Sie war enttäuscht und verwirrt. Aber die Götter hatten sie hierher gerufen und geführt. Also blieb sie da. Sie hatte von Zuhause damals etwas Gold mitgenommen, das hatte man ihr angeraten. Es befand sich in einer Höhle und stammte noch von den Vorvätern und niemand aus dem Dorf hatte es je angerührt, denn es galt als heilig. Niemand hätte es gewagt, sich damit zu schmücken, denn es war den Göttern vorbehalten. Sie aber nahm sich ein wenig davon, als Gabe der Götter, welche sie auf diesen Weg schickten.

Dort, in der wunderbaren Welt nun, in der sie angelangt war, konnte sie sich von diesem Gold eine steinerne Hütte kaufen. Sie war luxuriös, denn sie hatte sogar zwei Räume.

 

Nicht nur ihre Schönheit als Frau, sondern auch ihr Besitz führten dazu, dass ein Man um sie warb und sie letztlich heiratete. Er war ein Mestize und sie bekam von ihm eine Tochter, einen Sohn und noch eine Tochter.

Der Mann und ihre Kinder lebten von den kleinen Reserven aus dem mitgebrachten Schatz, die noch verblieben waren, denn er verdiente nur gelegentlich und dies hätte kaum gereicht die ganze Familie zu ernähren.

 

 

Die Indianerin aus den Anden

 

Eines Tages geschah das Unglück. Ihr Mann hatte im Rausch von einem kleinen Goldschatz gesprochen. Ein Zechkumpane folgte ihm in die Wohnung und drohte ihn mit dem Messer zu erstechen, wenn er nicht das Gold heraus gäbe. Der Mann händigte das Gold aus. Als die Indianerin nach Hause kam, merkte sie sofort, dass irgend etwas nicht stimmte und stellte ihren Mann zur Rede. Halb betrunken noch wand sich dieser, als er den Diebstahl seiner Frau eingestehen musste. Sie war fassungslos. Nie hätte sie gedacht, dass ein Mann derart feige sein könnte, um ohne zu kämpfen die Existenzgrundlage seiner Familie preis zu geben. Sie hätte jenem fremden Mann das Gesicht zerkratzt, und unter Einsatz ihres Lebens, um ihr Eigentum gekämpft. In diesem Augenblick brach ihr Glaube an ihren Mann zusammen und auch an jene Welt, in der sie jetzt lebte. Schweigend wandte sie sich ab.

 

Die Indianerin machte sich wieder auf den Weg zurück in ihre Heimat. Sie wollte sich wieder von den Schätzen ihrer Vorfahren nehmen und damit eine neue Existenz für ihre Familie aufbauen. Der Winter brach herein, sie musste in ihrem Heimatdorf bleiben. Dann wurde es wieder wärmer und sie machte sich wieder auf den wochenlangen, beschwerlichen Rückweg. Sie konnte nur wenig Proviant mitnehmen, denn sie schleppte einen schweres Gepäck mit Schmuck und Edelsteinen aus der Höhle ihrer Vorfahren. Sie hatte diesmal kein Gold mitgenommen, denn dieses war schwer und Steine waren noch begehrter, wie sie im Laufe der vergangenen Jahre in dieser fremden Welt erfahren hatte.

 

Entkräftet und glücklich kam sie nach einem halben Jahr bei ihrem Mann und ihren Kindern an. Sie hatte abermals ihr Leben auf das Spiel gesetzt und es hatte sich gelohnt. Sie hatte den Einsatz überlebt und sie konnten jetzt alle sorgenfrei leben, denn es war viel, was sie mitgebracht hatte. Es war auch höchste Zeit hierzu, denn ihre Familie war schon sehr verarmt. Der Mann hatte das kleine Haus verkauft und lebte nun in einem überdachten Boot. Arbeit hatte er keine und lebte mit den Kindern von den Fischen, die er fing.

 

Doch der Empfang war anders als sie es sich vorgestellt hatte. Ihr Mann tobte. Sie konnte es nicht verstehen. Vielleicht hatte er aus Freude und Erregung die Kontrolle über sich verloren? Sie gab ihm eine gute Hand voll von den Steinen, um ihn zu beruhigen. Er aber zog den Mund verächtlich hinunter und schimpfte über den Tand dieser Primitiven. Sie erklärte ihm, dass diese Steine wertvoll wären. Er schrie, dass diese Wilden gar nicht wüssten was Schmuck wäre. Er war ein ungebildeter Mann und dachte, wertvoller Schmuck müsste glänzen und filigran sein. Hier aber waren zum Teil dunkle Steine und alles sah groß, grob und plump aus. Sie hätte lieber etwas arbeiten sollen, brüllte er und warf die Steine in hohem Bogen in das Wasser.

Die Indianerin war entsetzt. War sie eine Sklavin, um für diesen Mann zu arbeiten, damit er sich betrinken könne? Stammte sie von einem Volk von Wilden? Nein, ihr Volk hatte mehr Kultur als dieses verkommene Individuum hier. Zutiefst gekränkt entschloss sie sich den Mann zu verlassen. Er untersagte ihr die Kinder mitzunehmen. Als sie dennoch die Kinder befragte, wollten diese nicht mit ihr gehen. Sie wollten nicht bei einer treulosen Mutter sein, die fortgelaufen war. Der Vater hatte ihnen ein schlechtes Bild von der Mutter eingeprägt.

 

Es waren viele Jahre, ja Jahrzehnte vergangen. Die Indianerin war alt geworden. Sie hatte viele Länder bereist, viel gelernt und gesehen. Sie war letztlich zu einer gebildeten Frau geworden, die Länder gesehen und Bücher gelesen hatte. Sie liebte die Kunst und förderte sie. Ohne arbeiten zu müssen, konnte sie ihr ganzes Leben in Wohlstand verbringen und ihre geistigen Interessen nähren. Jetzt war sie alt und noch immer war der Schatz nicht aufgebraucht.

 

Bevor sie sterben sollte, wollte sie noch einmal jene kleine Stadt sehen, in der sie Mann und Kinder zurück gelassen hatte. Als Fremde schritt sie durch die Straßen, betrat die Kirche und setzte sich auf eine leere Bank. Sie betete. Da kam ein zirka fünfzehnjähriges Mädchen herein. Die alte Indianerin prüfte dessen Antlitz und vermeinte vertraute Züge zu finden. Sie ersuchte das Mädchen sich neben sie zu setzen und fragte nach deren Eltern. Ja, es stimmte, das Mädchen war ihre Enkelin. Vorsichtig fragte sie nach ihrer Großmutter, nach sich selbst. Das Mädchen gab jedoch nur ausweichende Antworten. Selbst als sich die Indianerin als Großmutter zu erkennen gab, war das Mädchen nicht erfreut, sondern eher erstaunt und verlegen.

Es war knapp vor der Messe. Andere Leute kamen. Auch die zwei Töchter und etliche Enkelkinder. Alle saßen sie schweigend um die Indianerin, keine sprach mit ihr. Die jüngere Tochter schien beinahe mit ihr sprechen zu wollen, getrauten sich anscheinend jedoch nicht. Nach der Messe war die Indianerin wieder allein gelassen. Niemand hatte mit ihr gesprochen, niemand wollte sie einladen, sie war eine Ausgestoßene.

Sie war schon zu abgeklärt, zu lebenserfahren, die Indianerin, um noch zürnen und hassen zu können. Es mochte nicht mehr lange dauern, bis sie die Welt verlassen würde. Was sollte sie mit den restlichen Steinen tun? Der Kirche geben? Nein, diese war nicht immer gut zu den Indianern, es war eine fremde Religion eines fremden Volkes und, wenn auch das, was sie lehrte, gut war, so brachte die Saat dennoch keine guten Früchte. Nein, der Kirche nicht. Sie wird die Steine ihren Kindern und Enkeln geben. Mögen sie glücklich werden damit. Sie verkaufte einige Steine und gab das Geld und den Rest der Steine an ihre Kinder und Enkel, ohne Gram und in Liebe.“

 

Nach seinen letzten Worten schwieg Valentin. Auch die anderen hingen wieder ihren eigenen Gedanken nach.

Allmählich erst, nach geraumer Zeit kam wieder ein Gespräch zustande.

 

"Ach ja, da gibt es noch etwas Besonderes“, fing Daya an, "der Bibliothekar ist nicht untätig in einer Ecke gestanden. Er hat euch beobachtet. Ihr habt beim Eintauchen in jene Schicksale eure nicht völlig gegenwärtige Identität aufgegeben, auch wenn ihr diese während des Geschehens gleichsam vergessen habt. Unterschwellig waren auch Reaktionen eures gegenwärtigen Ichs dabei. Offenbar habt ihr einen guten Eindruck hinterlassen, denn der Bibliothekar hat mir mitgeteilt, dass er bereit wäre euch zwei, Antonio und Valentin, als seine Gehilfen anzunehmen. Albin wird von mir ausgebildet und euch dort öfters besuchen.“

 

Antonio reagierte prompt: "Nun, genau genommen, muss ich sagen, dass eine Tätigkeit als Bibliothekar keineswegs meinem Geschmack entspricht. Ich fühle mich nicht dazu berufen anderen Menschen als Handlanger zu dienen, um ihnen dieses und jenes Buch zu bringen. Ich will nicht von einer Ecke der Bibliothek zur anderen eilen, nur um etwaige extravagante Wünsche zu erfüllen.“

Daya blieb ruhig. "Nun, vielleicht ist der Bibliothekar genau so wenig Bibliothekar, wie auch die Bücher keine Leselektüre sind. Bewerte die Bibliothek vielleicht etwas anders. Sie ist nicht zur Unterhaltung da, sondern ist ein Informationszentrum. Der Bibliothekar seinerseits bestimmt, wem welche Information zuteil werden darf.

Außerdem gibt es Aufstiegschancen“, fügte Daya lächelnd hinzu. "Was euch angeboten wird, ist eine der unteren Lehrstufen der Lipikas, der Meister des Karmas. In diesem Lernstadium als Bibliothekar ist es euch möglich in tausende Leben Einblick zu erhalten. Dadurch erwerbt ihr ein Verständnis für die Wirkmechanismen und Hintergründe der Schicksale. Ihr gelangt zu Wissen, das man nur schwer in Worte fassen kann, weil es intellektuelles Verständnis bei weitem überschreitet.

Es ist somit eine überaus wertvolle Schulung, welche euch da angeboten wird. Wie ihr an euren eigenen vergangenen Schicksalen festgestellt habt, ist dieses Eintauchen in solche Leben mit tiefen Emotionen verbunden. Mitunter ist dies also keine leichte Aufgabe. Oft ist es eine sehr schmerzvolle Tätigkeit. Aber innere Gefühlstiefe und Stärke werden dadurch enorm wachsen.“

 

Vaslentin hatte aufmerksam zugehört und schien keine Probleme zu haben. Er erklärte Daya, dass er gerne Gehilfe und Schüler von jenem Bibliothekar werden wolle. Antonio wurde nachdenklich, beeindruckt durch den schnellen Entschluss von Valentin. Auch wirkten Dayas Worte noch nach. Er erkannte seine Voreiligkeit und entschuldigte sich bei Daya, bereit seine Einstellung zu korrigieren und bat darum die Stelle annehmen zu dürfen. Zudem wollte er nicht allein über bleiben. Mit Albin konnte er nicht durch die Welt streifen wie früher mit Valentin, denn Albin war oft mit Daya unterwegs und war ihr Schüler.

 

 

10

 

Die   russische Gräfin

 

 

Antonio und Valentin waren die meiste Zeit in der Bibliothek, vertieften sich in Schicksale und lernten daraus. Sie erkannten die Wirkungsweisen der Kräfte, welche das Schicksal der Menschen bestimmen. Manches wude ihnen vom Bibliothekar erklärt. Er wusste sein Wissen ungemein spannend weiter zu geben und die zwei Freunde inklusive Albin, der so oft wie möglich hinzu kam, waren begeistert. Umgekehrt unterwies bisweilen Daya auch Antonio und Valentin. Es war anscheinend mehr als Sympathie, welche den Bibliothekar mit Daya verband, hatte Albin den Eindruck. Beide schienen einer unbekannten Gruppe erleuchteter Wesen anzugehören und teilten die Arbeit unter sich auf. Albin hatte es aufgegeben nach den Hintergründen zu fragen, denn auf solche Fragen erhielt er nie eine zufriedenstellende Antwort.

 

Alle drei Freunde entwickelten ein tieferes Verständnis für die Irrtümer der Menschen und den kausalen Folgen die daraus entstanden. Sie verurteilten nicht mehr. Oft litten sie über die Hilflosigkeit der Menschen, wenn sie sich in ein Schicksal vertieften, wenn sie Fehler sahen, die immens viel Leid gebracht hatten, sinnlose Fehler, die sich vermeiden hätten lassen.

Die tieferen Einsichten machten die drei Freunde sanfter und liebevoller und ließ gleichzeitig die innere Kraft wachsen. Sie besaßen Sanftheit und Kraft, zwei Eigenschaften, die im irdischen Leben oft als konträr gesehen werden und wo alle glauben, dass beide nicht vereinbar wären.

 

Der Bibliothekar hatte die innere Reife der drei Freunde erkannt und führte sie zu einem anderen Abteil mit scheinbar höheren Ansprüchen.

Es waren wiederum Bücher, die sich dort vorfanden. Diese Bücher aber hatten andere Inhalte. Sie zeigten gegenwärtige Leben von Menschen in denen sich Prägungen und Erfahrungen vergangener Leben auswirkten. Um die gegenwärtigen Wirkweisen der Schicksalskräfte besser begreiflich zu machen, waren Lebensausschnitte aus der Vergangenheit eingeblendet. So lernten die drei Freunde weiter und begannen jene Kräfte zu verstehen, die über mehrere Leben wirken und den Kreislauf der Reinkarnationen in Gang halten.

 

Eines Tages legte ihnen der Bibliothekar drei Bücher vor,  mit dem Kommentar: "Alle drei Bücher, die ich euch hierher gebracht habe, sind identisch und handeln von ein und der selben Person. Ihr werdet hierdurch alle das  gleiche Schicksal erleben. Das erleichtert es uns allen anschließend die Erfahrungen zu besprechen, die ihr daraus gewonnen habt.

 

Die drei Freunde öffneten ihr jeweiliges Buch. Auf der ersten Seite sahen sie das Bild einer älteren Frau, die in einem Zug sitzt, mit einem kleinen Hund auf ihrem Schoß.

Die Seite hatte die Überschrift "Der Schoßhund“.

Sie tauchten in das Bild ein und sahen eine Einblendung aus der Vergangenheit der Frau:

Sie war sechzehn Jahre, eine Adelige aus der Zeit kurz vor der russischen Revolution. Heute war ihr erster Ball. Es war für sie ein großes Ereignis. Schon Tage vorher war sie immens aufgeregt und konnte kaum schlafen.

Und jetzt fand der Ball statt. Er wurde für unverheiratete Jungendliche inszeniert, damit sie einander kennen lernen konnten. So manche Verbindung wurde von den Eltern schon im Voraus geschmiedet; man machte Tochter oder Sohn miteinander bekannt oder setzte sich gar an den gleichen Tisch. Es war oft gar nicht nötig auf die Vorlieben der Jugendlichen einzuwirken oder sie zu überreden, denn viele waren ob des Glanzes des großen Ereignisses wie in Trance, unfähig rational zu denken. Es war ein Leichtes diese Jugendlichen in die gewünschte Bahn zu lenken, stammten doch die meisten aus entlegenen Landstrichen und hatten kaum je Kontakt zu ihresgleichen. Die Sehnsucht nach einem Partner hatte sich bei vielen bis zur Verzweiflung gesteigert und jetzt war der große Moment der Erfüllung.

 

Alle waren prächtig gekleidet wie man es nur aus Märchen kennt. Sie trugen ihre schönsten Gewänder und so mancher glitzernde Schmuck der Mädchen war durch beharrliches Bitten der zögernden Mutter abgebettelt worden. Die Eltern saßen tuschelnd im Hintergrund an den reich gedeckten Tischen und verfolgten aufmerksam eine jede Bewegung und jeden Blick ihrer Kinder. Tanzte ihr Sohn oder Tochter schon ein zweites Mal mit einem Unbekannten, so wendete man sich an Nachbarn oder Diener, erkundigte sich und suchte nach Informanten. So manche Visitenkarte und Anfrage wurde von Dienern zu einem anderen Tisch gebracht. Dort erfolgten dann erregte Gespräche zwischen den Eltern. Wie ein Feuer wanderten Gespräche und Erkundigungen weiter zu den am nächsten stehenden Bekannten. Diener liefen als Boten hin und her, mit dem Auftrag Informationen zu sammeln. Bei allem war man bemüht nicht zu vorschnell Interesse zu zeigen, denn es musste zuvor noch geprüft werden, ob der für das Kind in Frage kommende Partner allen gesellschaftlichen Anforderungen stand hielt. Es dauerte mitunter geraume Zeit bis man aufstand, zu jenem fremden Tisch ging und sich vorstellte. Man begrüßte einander, setzte sich zusammen und stellte sich von den besten Seiten dar. Oft wurden die Gespräche zu einem Handel, bei dem die Kinder zu Objekten wurden, um Einfluss und Reichtum zu steigern. Immer wieder mussten die Mütter in die Gespräche eingreifen, um darauf aufmerksam zu machen, dass man auch auf Gefühle und Glück ihrer Kinder Rücksicht nehmen müsse.

 

Solcher Art war die Atmosphäre, in der sich die junge Adelige nun befand. Unter dem Schein der Fröhlichkeit war alles zum Bersten gespannt und kaum erträglich. Würde sie ihre große Liebe finden und wären ihre Eltern damit einverstanden, wären seine Eltern mit einer Verbindung einverstanden? Die Spannung war kaum zu ertragen. Manche der jungen Damen mussten, obwohl jeder Augenblick wichtig war, ins Freie gehen, um sich unter tiefen Atemzügen zu erholen, die schnellen Herzschläge zu beruhigen, oder die Nerven zu besänftigen, um einer peinlichen Ohnmacht vorzubeugen.

 

Ein junger Mann wählte die Person um deren Schicksal es ging zum Tanz. Er war wie aus dem Traum entstiegen und tanzte immer wieder und wieder mit ihr. Sie verliebten sich ineinander und schworen sich nie wieder aus den Augen zu verlieren, bis sie der ewige Lebensbund vereinen würde.

Der Ball war für das Mädchen wie ein wunderschöner Traum. Tage später, als das sie wieder zu Hause auf dem Landsitz ihrer Eltern war, lebte der Ball in ihr weiter und verklärte sich noch zusehends. Nach wie vor tanzte sie mit ihrem Geliebten, die Szenen entwickelten sich weiter, die eigentliche Welt überlagernd. Sie küsste ihn in der fast rea lebendig gewordenen Vorstellung, umarmte ihn fest und heftig.

 

Mitten in diesem Glück und all den Hoffnungen hörte sie das erste mal vom Krieg. Sie hörte es von den Eltern  und den Dienern. Er war plötzlich da, aus dem Nichts heraus. Es musste eine kaum vorstellbare Bedrohung sein, denn viele wagten darüber nur zu flüstern und warfen verstohlene Blicke um sich, als ob man es vermeiden wollte den Geist des Krieges auf sich aufmerksam zu machen. Wie  war das nur möglich, wo doch alles vorher so friedlich und schön war! Oder war der Krieg schon viele Jahre und sie hatte einfach nichts davon gewusst, hier auf dem entlegenen Landschloss?

 

Dann kam der unvorstellbare Augenblick als das Mädchen mit ihrer Mutter das Schloss verlassen musste. Ihr Vater war schon seit einiger Zeit nicht mehr zu Hause, fortberufen wie man ihr sagte. Die Menschen waren auf einmal so schlecht, wo sie doch früher immer so freundlich waren. Sie plünderten jetzt und man durfte dazu nichts sagen. Es war ihr von ihrer Mutter verboten zu einem Diener mehr als das Nötige zu sagen oder gar darauf hinzuweisen, dass man nicht stehlen darf. Wo das doch ein Gebot Gottes war! Und es wurde noch schrecklicher. Die Menschen töteten einander und man musste sich verstecken, wenn man überleben wollte. Diese Welt war schrecklich und nicht begreifbar. Der einzige Ruhepol war das innere Bild ihres Geliebten. Aber auch diese Gedanken wurden zunehmend von Unruhe erfasst! "Ach, mein Geliebter! Lebt er noch? Ich weiß ja nicht einmal wo meine Onkeln und Tanten sind. Nicht einmal wo mein Vater ist.“ Und bald wusste sie nicht einmal mehr wo ihre Mutter war.

 

Jahre vergingen, flossen vorbei ohne beachtet zu werden. Kaum konnte sich das Mädchen, das mittlerweile eine Frau in der Mitte des Lebensalters wurde an etwaige Ereignisse in diesen Jahren erinnern.

Wieder vergingen Jahre. In einem ratternden Zug, auf einer Holzbank saß eine ältere Frau. Sie lebte in der Erinnerung an den Ball und an ihren Geliebten. Danach jedoch hatte das Leben aufgehört. Es war eigentlich nichts dazwischen, nichts woran man sich erinnern mochte; man konnte das alles ruhig vergessen. Es war als wäre sie in einem Warteraum gesessen, mit tickender Uhr und ohne Ereignisse. Das einzige was sie besaß, war ein kleiner Hund auf ihrem Schoß. Er war für sie die ganze Welt, ein Stück Erinnerung an das Leben damals, als sie noch wirklich lebte. Nicht, dass sie ihren geliebten Hund schon damals gehabt hätte. Dennoch überbrückte er die Zeit, erinnerte sie an früher. Das Schrecklichste ihres Lebens war, dass sie ihren Geliebten verloren hatte. An ihn dachte sie, wenn sie den Hund streichelte. Deshalb war der Schoßhund als Brücke der Liebe und Zuneigung das Einzige, was von der damaligen Welt übrig geblieben war.

 

Die drei Freunde hatten das Schicksal der Frau als das eigene Schicksal erlebt und waren nach ihrem Erwachen erschüttert. Der Bibliothekar bat sie draußen in der Natur spazieren zu gehen, darüber nachzudenken und das Schicksal zu verinnerlichen.

Als einige Zeit verstrichen war, hatten sich die drei Freunde in einem bequemen Zimmer der Bibliothek wieder versammelt und warteten auf den Bibliothekar. Dieser kam auch bald.

"Das gegenwärtige Schicksal jener Frau habe ich euch in dem Buch nicht geöffnet“, begann der Bibliothekar. Das werde ich euch jetzt erzählen. Ich werde euch zeigen was von damals für das jetzige Leben Richtung bestimmend wurde. Weiters können wir besprechen, wie das jetzige Leben, mit all diesen aus der Vergangenheit wirkenden Kräften und Voraussetzungen am besten gelenkt werden könnte. Erstmals seid ihr keine passiven Beobachter, sondern müsst euch Gedanken machen und planen, so als wäret ihr Lipikas, Meister des Karmas.

Folgendes hat bis in die Gegenwart gewirkt: Jener Ball mit dem Erlebnis der großen Liebe und die darauf folgenden Lebenserschütterungen konnten von der russischen Gräfin nicht verarbeitet werden. Das Trauma wurde in seiner vollen Wucht in das jetzige Leben herüber genommen. Da es in diesem Leben nur schwer möglich ist etwaige Erinnerungen aus vergangenen Leben in das Bewusstsein zu holen, wird die Auflösung des Traumas umso schwerer.

Die russische Gräfin heißt in diesem Leben Helena und ist jetzt 31 Jahre alt. Helena ist gehbehindert und sitzt in einem Rollstuhl. Dies ist keine karmische Bestrafung wie manche Menschen zu glauben geneigt sind. Es ist ja völlig falsch Beschwernisse als Bestrafung auszudeuten. Es war ein tiefer Wunsch von Helena in einem Rollstuhl zu sitzen. Wünsche sind magische Kräfte, welche sich erfüllen, wenn die Kraft stark genug ist und dem keine zu großen Hindernisse entgegenstehen. So hat sich auch dieser unbewusste Wunsch bei Helena erfüllt und sie bekam eine Kinderlähmung, obwohl man diese Krankheit zu jener Zeit schon als fast ausgerottet ansah. Helena erhoffte sich durch die Behinderung, dass sie den Menschen dadurch fernbleiben könne und keinen Beruf mit zwangsläufigen Kontakten ausüben müsste. Helena fürchtet sich vor allen Menschen. Als Gräfin hatte sie damals nicht erkannt, weshalb die früher freundlichen Diener auf einmal so schlecht waren, warum sie plünderten und mordeten. Für sie handelten diese Menschen plötzlich irrational und undurchschaubar. Die zur Prägung gewordene Furcht der Gräfin, dass Menschen unberechenbare Monster wären, die, wenn auch freundlich, im nächsten Augenblick gleich Dämonen über sie herfallen könnten, hatte sie in das jetzige Leben mit hinüber genommen.

Helena fürchtet die Menschen und meidet sie. Sie liebt es mit ihrem Rollstuhl in die Natur zu fahren. Wenn sie aber in bewohntes Gebiet muss, so nimmt sie den kürzesten Weg und ist großen Ängsten ausgesetzt. Zudem wird dies alles dadurch erschwert, dass sie hellfühlend ist. Die emotionalen Ausstrahlungen der Menschen sind manchmal sehr belastend, wie wir ja wissen. Das Hellfühlen wurde bei Helena dadurch gefördert, dass sie seit ihrer Kindheit isoliert lebte und den dichten Ausstrahlungen der Menschen kaum ausgesetzt war. Dadurch hatte sie auch nicht gelernt sich abzuschirmen und war für alles offen. Ihre selbst gewählte Isolation bewahrte sie vor einer Flut von Eindrücken, die für sie belastend hätten sein können.

Wenn Helena zu Hause ist und das ist sie die längste Zeit des Tages, dann lebt sie in ihrer eigenen Welt der Fantasien. Fantasien und ihre Umsetzung in innere plastische Wahrnehmungen sind die Voraussetzung für jegliche Art von Kunst. Helena ist Malerin und Dichterin. Ob Gemälde, Gedicht oder Erzählung, immer tut sich eine Welt auf, die von tiefen Gefühlen erfüllt, plastisch und in Farben sich dem Betrachter oder Zuhörer auftut. Es sind die Gedankenkräfte, die jedem dieser Werke unsichtbar aufgelagert sind, welche die sensibelsten der Menschen fast wie in hypnotischem Bann in das Geschehen hinein ziehen. Helena hatte diese Fähigkeit damals im vergangenen Leben, in dem späteren Lebensabschnitt nach den traumatischen Ereignissen, trainiert. Dadurch, dass sie in ihren Vorstellungen der Vergangenheit anhing, lernte sie jene Vorstellungen immer plastischer und lebendiger zu gestalten, so dass sie bald wirklicher waren als jene Bilder der sie umgebende Welt. Ihre psychische Krankheit wurde Ausgangspunkt einer neuen Fähigkeit. Ihr seht, das Leben war nicht verloren.

Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass sich in Helena Fähigkeiten und Lebensumstände gebildet haben, die Helena zu einer herausragenden Künstlerin machen könnten und nicht nur das. Die Ereignisse haben in Helena einen tiefen Reifungsprozess ausgelöst und sie zusätzlich mit hellseherischen Fähigkeiten begabt. Allerdings sind all jene Fähigkeiten durch das Trauma blockiert und müssen erst aus den Umklammerungen von Angst und Weltflucht gelöst werden. Sie malt und dichtet zwar, aber nur für sich selbst und verbirgt es vor anderen Menschen. Ihr Hellfühlen lebt sie in der Natur aus, wo sie sich mit den Naturwesen verbindet. Alle diese Fähigkeiten werden nach einiger Zeit stagnieren, wenn sie sich nicht im Austausch mit anderen Menschen weiter entfalten können, wenn sie nicht zu einer Sinngebung im Leben werden. Sie wird in kurzer Zeit mit Satya, einem verkörperten Lehrer des Maha-Yoga, Kontakt aufnehmen. Satya ist der irdische Kooperationspartner von Daya. Ihr dürft ihm gelegentlich beistehen und könnt solcherart die Entwicklung von Helena weiter verfolgen.“

 

11

 

Gedankenflüsterer

 

Die drei Freunde lernten weiter und tauschten ihre Erkenntnisse aus.

So geschah es, dass Valentin gerade seinen zwei Freunden über ein Schicksal und dessen Fortführung in weiteren Inkarnationen erzählte, als der Bibliothekar zur Freundesgruppe kam. Sie kannten ihn nun schon geraume Zeit und dennoch wussten sie seinen Namen nicht. Wenn er Bibliothekar genannt wurde, so war ihm das recht. Für ihn war es kein Titel, sondern eine anonyme Namensgebung und so wollte er es. Dabei war er durchaus locker, scherzte und lachte mit ihnen und sie alle hatten zueinander ein vertrautes Verhältnis gefunden.

"Was ihr bisher getan habt war wie ein Urlaub. Damit ist es nun aus“, sprach sie der Bibliothekar an, als ob die drei jemals Urlaub gehabt hätten. "Es fällt in absehbarer Zeit so viel Arbeit an, dass wir anderen es nicht mehr bewältigen können. Die zerstörenden Kräfte sind uns zahlenmäßig überlegen und sie versuchen durch ihre Übermacht dieses Zeitalter in ihrem Sinne zu gestalten. Auf der Erde ist bald Weihnachten, eine Zeit, in welcher viele Menschen an besonders starken Depressionen leiden und in welcher die Selbstmordrate sprunghaft ansteigt. Ich werde euch, so gut es in der kurzen Zeit möglich ist, einschulen und dann beginnt eure Arbeit. Es ist eine der unangenehmsten Tätigkeiten, die ich kenne.“

 

Das klang nicht gerade sehr aufmunternd und die drei Freunde blickten ihn wortlos an, auf weitere Instruktionen wartend. Gleichzeitig waren sie sehr gespannt, denn es war ein Hinweis auf sonstige Tätigkeiten ihres Lehrers außerhalb der Bibliothek.

 

"Die Dunklen wollen gefährdeten Menschen, die zu Weihnachten besonders anfällig sind, suggerieren Selbstmord zu begehen. Sie flüstern ihnen zu, dass damit alle Sorgen und Probleme gelöst wären. Gleichzeitig betonen sie die Ausweglosigkeit der Lebenssituation und umhüllen jene Menschen mit schwarzen, aurischen Wolken, welche den Zustand der Verzweiflung und Depression verstärken.

Oft sind jene Menschen nach ihrem Tod, wenn sie sich zu einer solchen Tat hinreißen haben lassen, erdgebunden. Erdgebunden zu sein heißt aber auch sehr dichten und niederen Schwingungen ausgesetzt zu sein. Sehr leicht können die Verstorbenen dann in tiefere Sphären gezogen werden. Oft waren jene Selbstmörder seelisch sehr feine Menschen, sensible Menschen und für das Leben auf Erden zu schwach. Es war ihnen nicht möglich sich den harten irdischen Bedingungen anzupassen. Sie verfügten nicht über die übliche Rücksichtslosigkeit und emotionale Stumpfheit, die anderen zum Erfolg verhilft. Meist fühlen sich solche Menschen von der Gesellschaft ausgestoßen oder isoliert. Diese Menschen sind für die dunkle Seite eine besonders attraktive Beute. Allerdings sind solche Menschen auch viel schwerer zu manipulieren. Wenn es jedoch gelingt, sie durch Alkoholismus oder Rauschgift zur Weltflucht zu bewegen, dann sind sie eine leichtes Opfer. Sie werden dann zermürbt und gestürzt. Das soll jedoch nicht heißen, dass wir solchen Menschen bevorzugt helfen. Andere bringen vielleicht nicht diese Sensibilität mit, zeichnen sich jedoch durch Kampfgeist und Mut aus. Das sind ebenfalls sehr wertvolle Eigenschaften. All jenen zu helfen wird für euch nicht leicht sein, denn ihr habt es mit starken Gegnern zu tun. Jetzt zählen Wissen, Schlauheit und Risikobereitschaft.“

 

Die drei Freunde schwiegen. Sie hatten nach der Einleitung schon mit einer schlechten Nachricht gerechnet, aber nun erkannten sie, dass ihre Tätigkeit nicht nur schwierig sondern auch gefährlich sein würde.

 

"Ihr werdet bei euren Tätigkeiten jeweils von mir oder einem Assistenten zur Zielperson gebracht. Ihr müsst damit rechnen, dass ihr oft zur nächsten Aufgabe geführt werdet, bevor es euch möglich ist euren Schützling abzusichern. Eine vorübergehende Absicherung ist etwa, wenn sich die Schutzbefohlenen schlafen gelegt haben und sich solcherart nicht mehr den verzweifelten Grübeleien hingeben können.

Es ist einfach zu viel, um voll und ausreichend helfen zu können. Es muss improvisiert werden.

Wir beginnen mit einem leichten Beispiel.“

Alle reichten sich die Hände und schon standen sie vor einer jungen Frau.

Diese Frau war verliebt und musste feststellen, dass der Mann ihr untreu war. Seine Liebe erwies sich nicht als Ausdruck tiefer Gefühle, sondern als Selbstbestätigung durch "Eroberung“. Da er schon viel Erfahrung mit Frauen hatte, wusste er worauf Frauen besonderen Wert legen und konnte mit einer gewissen Virtuosität jene Frau, vor der sie nun standen, in Illusionen und Hoffnungen wiegen. Es war für die Frau ein entsetzliches Erwachen mit dem Erkennen, dass alle Schwüre und Zuwendungen erlogen und manipulierend waren. Sie verfiel in stärkste Depressionen und weinte. Sie hatte eine Freundin, aber die konnte ihr auch nicht helfen. Statt mit ihr zu sprechen, sie zu trösten, sagte jene nur "reiß dich zusammen“. Solche Ratschläge halfen in dieser Situation jedoch wenig, im Gegenteil, die Frau fühlte sich auch von der Freundin im Stich gelassen.

Nicht weit von ihr stand für sie unsichtbar ein dunkles Wesen und sandte ihr telepathisch Gedanken zu, im Sinne von: "ich halte das nicht mehr aus“, "das Leben hat keinen Sinn“, "die Welt ist zu schlecht für mich“, "wenn ich wirklich in Not bin, lassen mich alle im Stich“. Wie Parolen hämmerte ihr der Geist diese Worte ein, sie fortwährend wiederholend. Es waren keine Argumente, sondern Suggestivsätze, die wie Hammerschläge auf die Frau einschlugen. Die destruktiven Gedankeninhalte sollten sich durch ihre Wiederholung festsetzen und verstärken.

Der Bibliothekar warf den Geist in dessen Ursprungsebene zurück. Es war für ihn überhaupt keine Mühe. Es wurde den drei Freunden augenscheinlich welch mächtige Persönlichkeit er in Wirklichkeit war. Dann versuchte der Bibliothekar die verdunkelte und eingeschnürte Aura der Frau zu lockern und aufzuhellen. Gleichzeitig erweckte er in  ihr Erinnerungen an ihren Lieblingsort. Das war die Stadt Salzburg, wie er aus einigen kurzen Gedankenfetzen lesen konnte. Als er die Frau dazu bewegen konnte in den Erinnerungsbildern an jene Stadt länger zu verweilen, wurde seine Vermutung bestätigt. Jene Frau war schon einige Male dort, um dort Erholung und Kraft zu finden. Die Stadt war für sie wie eine andere Welt. Sie fühlte sich dort immer wohl. Der Bibliothekar verstärkte dieses Bild in der Frau und bald hatte sie den Entschluss gefasst nach Salzburg zu fahren, um sich in dieser wunderschönen Umgebung abzulenken und zu positiveren Gedanken zu kommen. Die Depressionen klangen zusehends ab und die Frau begann sich sogar auf den Urlaub zu freuen.

Die vier jenseitigen Helfer reichten sich die Hände und im nächsten Augenblick standen sie vor einem zirka 45 jährigen Mann. Seine Aura war geschädigt und wies große schwarze Löcher auf. Nicht nur das, in seiner Herzgegend sah man ein Scheinleben im Aussehen eines kleinen schwarzen Dämons, von dem ein dunkles Band ausging, das sich in einer unteren Seinsebene verlor.

"Dieses dunkle Wesen in der Brustmitte jenes Mannes ist ein mental-emotional geschaffenes Gebilde. Manchmal werden auch Primitivwesen, welche man Elementaris nennt, als Lebenselement hinein gebunden. Das sind solche Wesen, wie sie Valentin im Labyrinth kennen gelernt hatte. Magisch eingesetzt verlieren diese Wesen ihre ursprüngliche Form und werden durch mentale Einwirkung mit der Intelligenz des Senders verbunden. Ein solches Gebilde dient dann als Andockstelle jener dunklen Magier aus den tiefen Ebenen. Eine einfache Andockstelle ist nur eine dunkle Schnur, die mit einem Energiezentrum verbunden wird. Eine wie vorhin beschriebene, verstärkte Andockstelle kann man jedoch nicht mehr so einfach wie eine Verbindungsschnur entfernen. Ein derart gebundener Mensch wird zunehmend zu einer Marionette der dämonischen Wesen, die ihn über diese Hilfsmittel beherrschen. Ist ein solcher Mensch schon so sehr herabgekommen, dass er in keiner Weise mehr dienlich sein kann, dann treiben sie ihn in den Selbstmord und holen ihn zu sich in ihre Welt.

Ich habe euch hergebracht, um euch das zu zeigen. Eingreifen und helfen können wir in diesem Fall nicht. Es ist auch keine akute Situation gegeben. Eine Heilung und Besserung ist praktisch nicht mehr möglich. Hier würden wir auf verlorenem Posten stehen. Ich wollte euch nur so einen Menschen zeigen und die Situation erklären.“

 

Sie waren wieder zurück in der Bibliothek. "So ähnliche Fälle wie jener der enttäuschten Frau, die sich in Salzburg wieder erholen wird, solche Fälle werdet ihr übernehmen. Es sind leichte Fälle, aber dennoch bedarf es der Fantasie und Improvisationskunst. Ihr werdet euch telepathisch in die Gedanken jener Menschen einschalten. Eine Hilfestellung wird zumeist länger dauern als bei der Demonstration an der Frau.“

 

Nun begann nach der langen Phase des Studierens aus den Büchern vergangener und gegenwärtiger Schicksale für die drei Freunde mit diesem Auftrag erstmals eine aktive und verantwortungsvolle Tätigkeit. Es war dies der erste Schritt eines langen Weges des Lernens, durch praktische Tätigkeiten, unter der Obhut der Lipikas.

 

 

 

12

 

Seelen  wie bunte Blumen

 

Die drei Freunde saßen im Garten von Daya. Sie hatten eine sehr anstrengende Zeit hinter sich und waren froh sich jetzt wieder entspannen zu können. Sie freuten sich einander wieder zu sehen. Die Erfahrungen der letzten Zeit waren das zentrale Thema. Es gab darunter viele Ereignisse, die jeder von ihnen mit seinen Freunden abklären wollte. Die Gespräche halfen so manche verbliebene Anspannung wieder zu lösen.

 

"Am Anfang, als ich begann die Schicksalsbücher zu studieren“, begann Valentin sinnend das Gespräch, "bin ich sehr viel Leidvollem begegnet. Es schoben sich mir deshalb als zentrales Thema die Karmagesetze in den Mittelpunkt meines Interesses. Ich wollte lernen, wie man schwere Schicksalsschläge vermeiden könne und wie man die Schicksalsentwicklung günstig lenken könne. Es war mir ein Anliegen zu lernen, nicht nur damit ich selbst oder andere, denen ich zu helfen imstande war, ein schöneres Leben führen könnten. Ich wollte auch lernen frei von Karmakräften zu werden, um mich letztendlich vom Zwang der Wiedergeburten zu befreien.“

"Das ist ebenfalls mein Anliegen“, pflichtete Antonio bei. Ich habe mir sogar Skizzen und Notizen über die einzelnen Gesetzmäßigkeiten gemacht, so etwa das Pendelgesetz. Die Bezeichnung "Pendelgesetz“ weist darauf hin, dass die Menschen sehr leicht zwischen Extremen schwanken, um dann mehr und mehr zu einer Mitte zu finden. Ich bringe als Beispiel eine Person, deren Leben ich aus dieser Warte studiert habe. Es war in diesem Fall besonders eklatant. Er war sehr reich. Seinen Reichtum mehrte er durch Hartherzigkeit und erbarmungsloses Eintreiben von Geld, wo immer ihm das möglich war. Es gab viele Menschen, die er dadurch ins Unglück gestürzt hatte, Eltern, die ihre Kinder nicht mehr ernähren konnten, Familien, die ihr Obdach verloren hatten. Gar mancher Fluch wurde auf ihn geladen, von einer leidenden Seele geschrien. Das waren Kräfte, die ihn bereits zu Lebzeiten und erst recht dann im Jenseits jagten. Er machte Schreckliches mit und gerne hätte er später all sein Geld dafür gegeben, wenn er sich damit Frieden hätte erkaufen können. So schwor er sich im nächsten Leben Reichtum zu meiden und er wurde ein armer Reisbauer. Er litt unter seiner Armut und wenn es seine Zeit und seine Kräfte erlaubten, dann träumte er davon reich und angesehen zu sein. Im nächsten Leben war er wieder reich, aber nicht übermäßig reich. Dafür aber hatte er viel Macht und war sehr angesehen. Er genoss dies aus ganzer Seele, legte Wert darauf, dass jeder seine Macht zu sehen bekam und respektierte. Nun, es war jetzt nicht Geld, sondern Macht, aber viel Unterschied ist zwischen diesen beiden Aspekten auch nicht. Nun ja, so pendelte das bei jenem Mann in den verschiedensten Varianten hin und her.“

 

"Derlei Schwankungen habe ich auch beim Studium der Schicksalsbücher festgestellt“, diesmal war es Albin. "Es hat mich an eine Waage erinnert. Je feiner die Waage ist, desto leichter reagiert sie. Die Menschen, die am Anfang des Lernens sind, sind noch wenig sensibel. Sie sind noch viel zu wenig mit den Gefühlen und Gedanken der anderen Menschen verbunden und empfinden nur Eigenes. Deshalb sind bei ihnen die Schicksalsschläge oft sehr schwer, weil sie erst in extremen Situationen reagieren und sich um ein Nachdenken bemühen. Das gleiche gilt für die Fehler, die sie begehen. Auch hier fühlen sie die Auswirkungen ihrer Taten kaum.“

 

"Du sprichst das aus, wohin sich mein Interesse mit der Zeit verschoben hat“. Valentin schien erfreut, in Albin eine ähnliche Anschauung zu entdecken. "Ich habe das Empfinden, dass es viele Stufen von Sensibilitätsverfeinerungen gibt. Ich glaube ich habe gerade solch eine Stufe bewältigt, dabei hatte ich mich bereits davor als sensiblen Menschen eingestuft; konnte ich doch Gefühle und Gedanken anderer Menschen lesen und habe darauf empfindlich reagiert. Aber anscheinend setzt sich der Seelenweg noch in ungeahnte Weiten fort.

Ich hätte niemals gedacht, als ich die Schicksalsbücher zu studieren begann, dass ich aus heutiger Sicht noch stumpf war. Ich merkte in erster Linie das, was schmerzte. Das waren die schweren Schicksalsschläge. Natürlich merke ich das nach wie vor und lebe es mit. Aber es kommt noch ein völlig neuer Aspekt hinzu: ich beginne in Menschen Schönheiten zu entdecken. Die Menschen sind so etwas wie ein Kunstwerk für mich. Jeder Mensch ist anders und einzigartig. Da gibt es welche, die sind grob geschnitzt. Ich würde sie am Besten mit elementaren Objekten vergleichen, mit Steinen oder Wurzeln. Dann gibt es Menschen, die sind ganz fein geschliffen, bis in wunderbare Details ausgearbeitet. Meisterwerke! An ihnen kann ich mich nicht satt sehen. In diese Menschen liebe ich es einzutauchen. Gerade sie könnten ein Eintauchen verhindern, denn sie sind fein genug, um solches zu bemerken, aber sie gestatten es, habe ich festgestellt. Darüber freue ich mich, denn anscheinend finden sie auch meine Präsenz angenehm.“

 

"Wunderbar, dass du das so aussprichst“, Albin war begeistert. "Ich habe mich einer solchen Sichtweise ebenfalls genähert. Noch ein paar Worte über die hohen Kunstwerke unter den Menschen:

Ihr wisst ja, dass ich mich zu irdischen Lebzeiten für Religionen und Spirituelles interessiert habe. Durch all die Lehren gelangte ich in die Spur konventionell verbreiteter Denkschemata. Ich hatte ganz klare Vorstellungen, wie die Entwicklung der Menschen aussehen müsste. Ethisch hochstehend, idealistisch, aufopfernd, voll Mitgefühl, religiös und so weiter. Ihr kennt ja diese Liste. Mittlerweile habe ich Menschen kennen gelernt, die ich bereichernd und auf ihre Art vollendet finde, die mit all diesen Idealen nie zu tun hatten.

Darunter gab es auch völlig unangepasste Menschen, denen ich zunächst sprachlos und überrascht gegenüber stand. Sie repräsentierten Denk- und Gefühlsstrukturen, wie ich sie zuvor nie kennen gelernt hatte. Auch wie sie die Welt sehen ist völlig andersartig. In solche Menschen tauche ich ein, als wären sie ein fremdes Universum. Sie sind in sich vollendet, obwohl sie mitunter keineswegs so manchem Ideal entsprechen. In diese Menschen einzutauchen ist bereichernd und man bekommt durch sie viele Denkanstöße. Ich habe durch solche Menschen die Welt unter völlig anderen Blickwinkeln sehen gelernt und fühle mich durch viele neuartigen Perspektiven der Bewertung bereichert.“

 

Antonio rief aus: "Ich bin begeistert! Ich habe gewusst, dass sich in mir eine andere Sehensweise entwickelt hat. Ich habe darüber nachgedacht, konnte aber dennoch nicht so richtig Klarheit finden. Jetzt, wo ihr es ausgesprochen habt, ist es für mich völlig klar!“

 

Daya kam gerade herbei und hatte die letzten Worte noch mitbekommen. "Ah, wie ich sehe, sind aus den drei selbstlosen ‚Rettern aus der Not’ wiederum Genießer geworden. Wie doch immer wieder eure alten Eigenschaften durchbrechen.“ Sie lachte. "Aber im Ernst, ich stimme Euch zu, ihr seht es richtig“.

 

 

13

 

Zukunftsperspektiven

 

Albin blickte zu Daya, die lachend vor ihm und seinen zwei Freunden stand und lud sie mit einer spasshalber pathetischen Geste ein, sich der Gruppe beizugesellen. "Das ist schön, dass du uns hier im Garten aufsuchst. Komm, mach es dir bequem bei uns!“

Dayas Gesicht leuchtete erheitert auf: "Ich weiß, du magst mich sehr, dennoch hast du dich durch deine theatralische Geste verraten! Du willst etwas von mir!“

Albin wurde kurz verlegen, dann lächelte er Daya offen an: "Ich gebe es zu, du hast recht. Offenbar kann ich nur schwer etwas vor dir verbergen.“

In gespieltem Ernst und mit vorgetäuschter betrübter Miene setzte er fort: "Was soll ich tun, du nimmst mir die Möglichkeit dich in einem Gespräch langsam aufzuwärmen, um dir ein paar Geheimnisse heraus zu locken! Wieder habe ich durch meine Ungeschicklichkeit eine Chance verpasst, ich bin echt unglücklich!“

Daya machte das Spiel mit und drückte ihr Bedauern aus, dass sie durch ihre zu große Offenheit ihrem lieben Freund und Schüler das Leben schwer mache. "Ach lieber Albin, ich möchte doch nicht, dass du traurig bist. Sag mir, was du von mir willst und ich werde mein Bestes tun.“

Albin ließ sich diese Aufforderung nicht entgehen. "Wir drei haben viel gelernt, Schicksal um Schicksal durchforstet, erlebt und verstehen gelernt. Wir sind innerlich gewachsen, gereift, verständnisvoller und liebevoller geworden. Um es kurz zu sagen: ich glaube wir sind schon fast am Ende dieses Lehrganges angekommen und haben ein hohes Niveau erreicht.“

Daya ließ nur ein ungläubiges, lang gedehntes "Ooooh“ hören.

Albin räusperte sich. "Nun ja, ich habe vielleicht ein wenig übertrieben, aber ein Prickeln in meinen Fingerspitzen sagt mir, dass nach dem Studium der Schicksalsbücher und nach praktischen Hilfestellungen, in die wir ja ebenfalls schon eingewiesen wurden, sich sicherlich etwas Neuartiges auftun würde. Was das allerdings sein könnte, darüber habe ich im Stillen gerätselt, habe es aber nicht herausgefunden.“

"Ich habe so etwas geahnt“, lachte Daya, "denn bisweilen fühlte ich mich von dir beobachtet, mit dem Bemühen an irgend welchen Anzeichen von mir herauszufinden, was ich euch an geheimen Wissen und Können voraus hätte. Und was hast du entdeckt Albin?“

"Nichts“ gab dieser zerknirscht zu. "Deshalb wollte ich es dir soeben auf sanfte Art herauslocken. Leider ist das nicht gelungen.“

"Aber das ist doch kein Geheimnis“, tat Daya erstaunt und lachte dann laut, als Albin sie verblüfft anstarrte.

"Blickt einmal auf eure jenseitige Vergangenheit zurück. Bleiben wir bei dir Albin. Kurz nachdem du verstorben warst, bist du in deiner Wohnung herumgeirrt und es hat eine geraume Zeit gedauert, bis du überhaupt entdeckt hast, dass du deinen materiellen Körper abgelegt hattest. Alles, oder beinahe alles, erschien dir wie in gewohnter Weise. Du hast mit deinen Händen gefühlt und unter deinen Füßen festen Boden gespürt. Später, als du dann in einer jenseitigen Welt warst, hast du auch diese in gewohnter Weise erlebt. Es war für dich die Fortsetzung deines irdischen Lebens in einer fremden Umgebung. Es war nicht anders als wärst du mit einem Flugzeug irgendwo in einem neuen andersartigen Land auf dem Globus gelandet.

Später, als ihr zwei, du und Antonio bei den Bretterbuden, in welchen Valentin festgehalten wurde, in ein Handgemenge geraten wart, habt ihr beide das erste Mal entdeckt, dass bloße Willenskraft genügt, um Schläge abzuwehren. Ihr seid dadurch zu der Erkenntnis gelangt, dass einiges in diesen Welten anders läuft als in der irdischen Welt.“

"Ja, stimmt“, pflichtete Antonio bei. "Es war zunächst eine spontane Reaktion, eine zufällige Entdeckung. Erst später, als Albin und ich ungestört waren und Zeit hatten zum Nachdenken, sind wir diesem Phänomen nachgegangen und unser Erstaunen war nicht gering. Ich gebe aber zu, dass ich mir nicht allzu viele weitere Gedanken darüber gemacht habe und alles mehr von der praktischen Seite her sah.“

"Hm“, ergänzte Albin, "das gilt auch für mich. Bei der Genesung von Berta erkannte ich zunehmend das Wirken von Vorstellungskräften. Aber auch in der irdischen Welt mag Glaube und Einbildung von großem Einfluss auf den Körper sein. So überwältigend neu war das also gar nicht.“

"Allerdings“, und jetzt wurde Albin lebhaft, "als ich im Zusammenhang mit meinen Meditationen auf Tara, den unerwarteten Einfluss unserer Vorstellungen feststellte, begann es mir zu dämmern, dass da sehr wohl große Unterschiede zur irdischen Welt bestehen könnten und ich versuchte diese Phänomene ab diesem Zeitpunkt genauer zu beobachten. Allerdings zeigten sich im übrigen Alltag kaum weitere Abweichungen vom Gewohnten.

Als ich dann unerwartet während des Spazierganges mit Berta zu meinem Erstaunen erkannte, dass es gar nicht so selbstverständlich war, dass wir alle auf gleiche Weise die Welt wahrnehmen, war ich geradezu geschockt. Bislang hatte ich allmählich akzeptieren gelernt, dass diese Welt hier äußerst plastisch ist. Die Veränderungen, die wir in der irdischen Welt mit der Kraft unserer Arme bewirken, können hier mittels der Vorstellungskraft bewältigt werden. Genau genommen waren nur die Methoden unseres Wirkens anders, sonst aber war alles gleich – so dachte ich bis zu diesem Zeitpunkt.

Die Erkenntnis, dass wir gleichzeitig in unterschiedlichen Umgebungen existieren könnten, ohne dies direkt zu bemerken, ließ meinen Glauben an eine reale Welt ins Wanken kommen. Ich scheute mich davor konsequent darüber nachzudenken und verdrängte dieses Ereignis als eine schwer erklärbare, jedoch nicht so wichtige Episode. Ich wollte meine gewohnte Weltordnung aufrecht erhalten. Jetzt allerdings, liebe Daya, bin ich so weit, um weiter in tieferes Wissen vordringen zu können.“

"Ich ebenfalls“, ergänzte Antonio und auch Valentin schloss sich mit einem lauten "ich auch“ seinen Freunden an.

 

"Nun ja, wenn dem so ist, bin ich ja geradezu verpflichtet euch weiter zu helfen“, gab sich Daya mit gespieltem Ernst geschlagen. Aber ihre Augen schienen schalkhaft zu glitzern. Und bedenklich fügte sie hinzu: "Ja, wo soll denn das hinführen, wenn sich die gesamte Welt zunehmend als Illusion erweist?“

Die drei Freunde blickten gespannt zu Daya. Keiner von ihnen machte sich Gedanken über eventuellen Konsequenzen von Dayas letzten Worten. Es war der Hunger nach Sensationen, der sie im Bann hielt.

Albin dachte noch kurz über das Glitzern in Dayas Augen nach und fragte: "Warum geht Daya so bereitwillig darauf ein die Geheimnisse zu erklären? Sind diese vielleicht für ihn und seine zwei Freunde nicht machbar? Folgen vielleicht Perspektiven, die wie ein Köder dazu ausersehen sind, Eifer und Anstrengungen nicht erlahmen zu lassen?“

"Wir sind keine körperhaften Wesen“, begann Daya ihre Erklärungen. "Unsere Körper, ob irdische oder astrale Körper, sind nur dazu da, um uns zu ermöglichen, die Welt mittels Farbe und Ton und einigen weiteren Sinneseindrücken zu erleben. Jegliche Art von Körper, ob irdisch oder astral, ist für uns nicht mehr als ein Werkzeug zur Wahrnehmung und Kommunikation. Die Körper sind etwa vergleichbar mit Kleidungsstücken, die wir ablegen oder wechseln können. In Wirklichkeit sind wir reiner Geist, reines Bewusstsein. Haben wir dies einmal erkannt und sind wir imstande unsere körperlichen Bindungen abzustreifen, dann erst sind wir wirklich freie Wesen. So wie der Wind frei herumstreift, so verbindet sich unser Bewusstsein mit allem was lebt und die göttliche Schöpfung beseelt, frei von Raum und jeglichen Eingrenzungen. Erst dann sind wir wirklich frei. Bis dahin jedoch ist es ein weiter Weg, aber es lohnt sich ihn zu gehen.“

 

Albin dachte nach. Wie oft hatte er sich beim Studium fremder Schicksale in diese eingelebt und sich selbst, Albin, dabei vergessen. Sein Ego hatte stark an Bedeutung verloren oder hatte sich ausgeweitet zum Fühlen und Denken eines ganzen Volkes, zahlloser Menschen unterschiedlicher Herkunft. Aber in allen diesen Existenzen hatte er die Welt als körperliches Wesen erlebt, hatte gelitten oder sich an den wundervollen Eindrücken erfreut. Als reines, körperfreies Bewusstsein zu existieren war kaum vorstellbar. Albin war sich klar, diese fremdartige Perspektive konnte nicht durch Fragen vertraut und verständlich gemacht werden, und er schwieg. Ebenso seine Freunde.

Sie standen vor der Schwelle einer neuen Seinserfahrung. Sie könnten Wahrnehmungen und Aktionen haben, die nicht an ein körperliches Zentrum gebunden waren und vielerorts vielleicht gleichzeitig möglich wären. Frei von Raum und vielleicht auch frei von Zeit.

 

 

14

 

Abschluss

 

 

Wie es manchem Leser/in scheint, hört dieses Buch abrupt auf. Es zeigt weder wie der Weg in der Zukunft weiter geht, noch hat es sonst ein Ende wie Tod oder Wiedergeburt.

Dass hier eine ungelöste Frage des Leserpublikums vorliegen könne, fiel mir beim Schreiben nicht auf. Es war mir selbstverständlich, dass es für das geistige Leben keinen Abschluss gibt – das Leben ist ewig und das Lernen setzt sich fort, bis sich das Individuum in der All-Liebe auflöst.

 

Ich bin in Worten nicht geschickt. Deshalb möchte ich diese Fragestellung mit einem Zitat aus den Jenseitsbotschaften von Claudius – dem ehemaligen Kaiser Claudius – aus dem Buch von Hildegard Schäfer: "Dialog mit Claudius", Seite 21 beschließen:

 

…. Von hier aus habe ich Zutritt zum Wissen, das euch als Informationsfeld umschließt. Meine eigene Akasha Chronik hat sich aufgelöst und ist eingegangen in dieses Wissen, doch ich bin, und ich kann diese meine Akasha Chronik benutzen, um die Verbindung mit euch aufrecht zu erhalten. Ich benötige sie nicht für mich, ich benötige diese Informationen nur für euch. Ich habe mich zu diesem Experiment entschlossen obwohl dies bei weitem nicht das wieder gibt, was ich damit zum Ausdruck bringen möchte.

 

Aus der online Version des Buches von Hildegard Schäfer: "Dialog mit Claudius", S. 21

http://rodiehr.de/b01/b_01_00_band1_druckvers.pdf

 

Noch etwas zur Individualität wie wir sie begreifen. Unsere Sichtweise geht verdeckt aus der Fragestellung hervor, doch Claudius sieht und definiert dies anders. Das bringe ich, um damit zu verdeutlichen, dass Albin, wie er uns durch seine Wanderungen geschildert wurde, uns als definierbare Person in Erinnerung ist. Dieses Bild ist jedoch mit seiner Weiterentwicklung zunehmend nicht mehr stimmig.

 

Frage: Wenn ich mit dir spreche, mache ich mir ein Bild von dir, dann sehe ich

dich, wie du im Film gezeigt, diesen vergifteten Pilz in den Mund nimmst. Könntest du mir im Traum zeigen wie du aussiehst?

 

Claudius: Meine Liebe, siehe, damals war ich ein müder alter Mann, vom Leben gezeichnet. In diesem Film kommt sehr gut zum Ausdruck, wie der Mensch sich verändert im Laufe des Lebens. Am liebsten wäre es mir, ich könnte mich dir so vorstellen, wie ich damals beim Tod meines Vaters auf dem Arm meiner Mutter getragen wurde, denn später, als junger Mensch, als behinderter Mensch, war ich nicht gerade eine Augenweide für die Augen einer Frau.

 

Frage: Dieses Bild belastet mich manchmal.

 

Claudius: Mache dich frei meine Liebe. Mache dich frei das Leben so zu sehen wie es ist. Du könntest mich genauso gut als Apollo sehen, als die Figur, dessen Schönheit überall zu sehen ist. Mach dich einfach frei. Stell dir eine Figur vor, die dir gefällt. Meine Freunde, ist es nicht wichtiger für euch, mich jetzt als Geistwesen an eurer Seite zu haben, als euer Begleiter und Helfer?

 

Seht meine Lieben – ICH BIN – ich bin der Anfang und das Ende, ich bin Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu gleicher Zeit.

 

ICH BIN, ich bin Bewusstsein. Ich bin reine Energie, ICH BIN und gehe ein, ich gebe mich auf, ich versinke in der Liebe.

 

Nun, ich wollte euch eine Ahnung vermitteln, ich hoffe, es ist mir gelungen.

(S. 22 u. 23)

 

 

Hildegard Schäfer: Dialog mit Claudius, Band 1: Impulse aus einer anderen Welt,

Drei Eichen Verlag (1992)

 

Rechtshinweise

 

Erstausgabe Wien, 2007, überarbeitet 2017

Urheber- und Publikationsrechte der Bilder und Texte von Alfred Ballabene.

Nach GNU Richtlinien frei gegeben.

 

Ich bedanke mich für Ihren Besuch

 

 

Alfred Ballabene