Die Gräfin

 

 

 

Alfred Ballabene

alfred.ballabene@gmx.at

gaurisyogaschule@gmx.de

 

Inhalt

Die Gräfin. 1

Der Berg. 2

Burg Ostenberg. 4

Der Dom und seine Geheimnisse. 7

Die alte Burgkapelle. 12

Recherchen vom Gymnasialprofessor Friedrich Wangerer 13

Gespräch mit dem Schulpsychologen. 17

Eine ausgefallene Idee. 19

Zwei ungewöhnliche Klarträume. 22

Nachtrag. 25

Rechtshinweise. 32

 

Der Berg

 

Sie nannten ihn „der Berg“, obwohl es nur ein Hügel war, welcher die mittelalterliche Stadt Altenbach um nicht mehr als fünfzig Meter überragte. Niemand wusste, warum der Hügel „Berg“ genannt wurde, aber eine andere Bezeichnung konnte man sich gar nicht vorstellen. „Berg“ bedeutete für die Bürger der Kleinstadt „hoch oben“, ja sogar „abgehoben“ und „unnahbar“. Aber letztlich hieß auch die Burg dort oben „Ostenberg“, was ja auf einen Berg hindeutete. Sehr häufig, speziell im Herbst und Winter war der Hügel oben von Nebel umschleiert. Auch hierin unterschied sich der Berg von der meist von Sonne beschienenen Stadt.

 

Auf den Berg ging man nur zur Messe im Dom. Der Dom befand sich ebenfalls auf dem Berg, in dichter Nachbarschaft zu den Ruinen der Burg Ostenberg und dem Schloss der ehemaligen Barone von  Peregrinus. Die drei Gebäude Dom, Burg und Schloss standen in einer eigenartigen Beziehung, eine geradezu unheimliche Beziehung, was dazu führte, dass niemand außerhalb des Messeganges den Berg betrat. Man konnte die Spannung und die zum Teil diametralen Kräfte dieser drei Gebäude und ihrer Bewohner direkt auf der Haut fühlen, als Kälte und einem Prickeln, das eine Gänsehaut erzeugte. Dennoch musste man zur Messe auf den Berg gehen, denn es gab in der Altstadt keine weitere Kirche. Allerdings, wenn die Bürger auf den Berg zur Messe pilgerten, so geschah dies fast in einer Prozession. Vor einem und hinter einem gingen Menschen, meist schweigend, und man fühlte sich im Schutz der Menge einigermaßen geborgen.

 

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Der Berg – Schloss, Burgruine und Dom

 

Im Laufe der Zeit wurden die Menschen hier im Land und den benachbarten Königreichen aufgeklärter. Man verließ die Denkungsart des Mittelalters. Das hieß jedoch bei weitem nicht, dass man in dem alten Städtchen Altenbach die Scheu vor dem Berg überwunden hätte. Im Gegenteil. Der Berg und speziell die Burgruine wurden noch mehr gemieden, denn dort lebte das Gespenst einer jungen, unglücklichen Frau, eine ehemalige Gräfin aus der Burg. Lediglich Jugendliche, die durch ein gruseliges Abenteuer Abwechslung in ihren Alltag bringen wollten, besuchten die Ruinen und wenn sie das zuvor gesuchte gruselige Abenteuer hatten, mieden auch sie den Berg wie alle anderen Bürger der Kleinstadt auch.

Aber es gab nicht nur die Gräfin, sondern gelegentlich besuchte der unsterbliche Baron, die Altstadt. Er war kein Geist, sondern anscheinend ein Mensch von Fleisch und Blut. Dennoch beneidete ihn niemand um seine Unsterblichkeit, denn er hatte etwas Geisterhaftes an sich, weshalb man annahm, dass ihn die Sorge um die Gräfin nicht richtig sterben ließ. Vielleicht hatte er auch das mysteriöse Elixier der Grafen von Ostenberg zu sich genommen. Entweder das Elixier oder Gott zur Bestrafung hatten ihn zu einem Untoten gemacht. Man erzählte sich, dass er zusammen mit den Grafen sich in Alchemie und Magie vertieft hatte und die Messe zu seinen Lebzeiten nie besucht hatte. Statt in der heiligen Messe zu beten hatte er Geister beschworen, die als unruhige Lichter nachts von unten von der Stadt aus zu sehen waren. Auch hatte er der ihn liebenden Gräfin ein Eheversprechen gegeben und sie dennoch nicht geheiratet. Eine Schuld, die ihn nicht ruhen und sterben ließ, obwohl in der Zwischenzeit Jahrzehnte und Jahrhunderte vergangen waren. Meist saß er an einem der Straßentische vom Gasthaus, das später zu einer Cafeteria wurde und sah sich schweigend das Treiben der Leute an. Irgendwann stand er dann auf, legte eine alte Goldmünze auf den Tisch oder erhob sich auch ohne zu bezahlen und strebte der Burg zu. Nur versehentlich setzte sich jemand an seinen Tisch, um die Langweile durch ein Gespräch mit einem Unbekannten zu vertreiben. Aber zu einem Gespräch kam es nie, denn anstatt auf das Woher und Wohin zu antworten, stellte er mit ernster Miene Fragen über die Gräfin, wann sie zuletzt gesehen wurde und wie sie sich verhielt. Gelegentlich tauchte der unsterbliche Baron auch unversehens und aus dem Nichts im Schloss auf und verhielt sich dort als ob dieses nach wie vor sein Besitz wäre, obwohl in der Zwischenzeit schon längst die Eigentümer gewechselt hatten. Obwohl er anscheinend einen Körper aus Fleisch und Blut hatte, verließ er dann den großen Wohnraum, der die Reihe der Schlossgemächer auf der Burgseite abschloss, durch eine vermeintliche Türe, die es schon lange nicht mehr gab, indem er einfach durch die Mauer ging.

Um den Dom war es nicht besser gestellt. In der Krypta hörte man oft ein Poltern, selbst während der heiligen Messe, was bisweilen selbst den Priester während der Predigt aus dem Konzept warf. Deshalb hatte es sich auch eingebürgert, dass der Priester immer seine Predigt niedergeschrieben auf der Kanzel liegen hatte, um dann scheinbar gelassen, als wäre nichts geschehen seine Niederschrift abzulesen.

Um den Turm des Domes war es nicht besser bestellt. Es gab dort oben auch einige Kammern, die anscheinend nur in Abständen von etwa hundert Jahren besucht wurden. Nein sie wurden nicht besucht. Die Dachdecker oder Steinmetzen gingen eilig an den Kammertüren vorbei, Spuren auf der dicken Staubschicht hinterlassend, um die Reparaturarbeiten möglichst schnell zu erledigen. Es war eine Arbeit, bei der sie immer wieder Gebete in sich hinein murmelten, damit sie Gott beschützen möge. Das nur bei Sonnenschein, denn bei Schlechtwetter erwachte der ehemalige Domherr und man konnte ihn bis hinunter ins Kirchengewölbe heulen, winseln und poltern hören. Wenn dies während der Messe war, ließ der Priester ungewöhnlicher Weise selbst während der Predigt leise die Orgel spielen und wenn gebetet wurde, betete die Gemeinde lauter und mit mehr Inbrunst als sonst üblich.

 

Burg Ostenberg

 

Einige Mauerreste sind das Einzige von der Burg Ostenberg was sich in unsere Zeit hinüber gerettet hatte. Dicke, höchstens zwei Meter hohe Mauern vom Turm und ein Schutthaufen mit schmalen Mauerresten ehemaliger Gebäude. Da der Boden darunter steinig und unfruchtbar ist, hatte man nie Verwendung für dieses Gelände gefunden. Ein Friedhof in der Nähe des Domes wäre wünschenswert gewesen, doch auch dafür war das Gelände nicht geeignet. Dennoch erwecken diese Mauerreste von unten, von der Stadt aus gesehen, einen imposanten Eindruck. Das liegt an den steilen Felsen, auf denen sich diese Burgreste erheben. Es ist ein kahler Fels, der in der Sonne leuchtet, als wäre er selbst die mächtige Mauer, auf der die eigentlichen Mauerreste der Burg nur die Zinnen darstellen.

Etwas tiefer läuft der steile Fels sanft aus. Früher war dort eine felsige Steinhalde auf der man die Gräfin als zehnjähriges Kind zwischen dornigen Rosenranken sitzend mit Steinchen spielen sah. Mittlerweile hat sich Staub und Erde dort angesammelt, so dass dorniges Gestrüpp dort wachsen kann. Nach wie vor ist es jedoch Brachland.

 

So wie die häufigen Nebel die Burg auf dem Berg verschleiern, genauso verliert sich die Herkunft der Grafen von Ostenberg in früher mittelalterlicher Vergangenheit. Es gab nicht einmal noch die ersten Häuser der mittelalterlichen Stadt Altenbach, da stand bereits auf dem Hügel eine Festung. Sie bestand damals aus einem doppelten Ring von schweren Holzpfählen, wobei der Zwischenraum zwischen dem äußeren und dem inneren Ring mit Lehm und Steinen gefüllt war. Da der Boden teilweise sehr steinig war, konnte man die Pfähle an vielen Stellen nicht in der Erde verankern und musste dort die Wehr aus waagrechten Querbalken gestalten, gehalten durch Stützbalken, für die man tiefe Löcher in den Stein schlagen musste, was offenbar damals eine schwere Arbeit war. Bald baute man Steinmauern und vor allem den viereckigen und massigen Wehrturm, dessen Fundamente bis in die Gegenwart erhalten geblieben sind.

 

Die Ritter, welche über diese Burg das Land beherrschten hießen Ostenberg. In einem alten Landesdokument fand man erstmals den Namen eines Ritters von Ostenberg erwähnt, der dem Aufruf von Papst Urban II folgte und an einem Kreuzzug zur Befreiung Jerusalems aus der Knechtschaft der Heiden teil nahm. Es war der erste Kreuzzug im Jahre 1096. In diesem Dokument wurde erwähnt, dass sich Ritter von Ostenberg durch besondere Tapferkeit bei der Eroberung Jerusalems ausgezeichnet hatte und in der Folge als Graf geadelt wurde. Gleichzeitig wurden dem nunmehrigen Grafen ausgedehnte Waldbesitzungen zugesprochen. Ein weiterer Hinweis fand sich in einer alten Klosteraufzeichnung eines Benedektinerklosters im Umfeld der Grafschaft, in welcher ein Graf von Ostenberg ebenfalls erwähnt wurde. Es war eine Art Klosterjahrbuch, von dem es nur einige Fragmente gab, da dessen Pergamentseiten offenbar einmal von einer Maus angenagt wurden. Eine Stelle war noch gut lesbar, in welcher stand, dass der Graf von Ostenberg in Begleitung eines orientalischen jüdischen Gelehrten ein gelehriges Gespräch mit dem Abt führte. Auch wurde ein Klosterbruder als Schreiber dem Grafen zur Begleitung mit gegeben, mit dem Auftrag einige Pergamentrollen mit griechischen hermeneutischen Texten abzuschreiben. Welchen Inhalt diese Texte hatten war nicht mehr ausfindig zu machen. Es wurde im Zuge der vor einigen Jahren erfolgten Recherchen nach solchen Abschriften gesucht, jedoch keine mehr gefunden. Vielleicht hatte man sie in einem der nachfolgenden Jahrhunderte als heidnisch und unchristlich vernichtet.

 

Für sich alleine geben diese Erwähnungen in den alten Urkunden kein lebendiges Bild. Es sind nur ein paar dürftige Daten. Für mich, Gymnasialprofessor Friedrich Wangerer, wenn ich mich vorstellen darf, waren sie jedoch bedeutsam. Aus ihnen konnte ich rückschließen, dass die Grafen von Ostenberg Alchemisten mit Leib und Seele waren. Der Kreuzzug war nicht nur eine als Abenteuer gesuchte Pilgerreise nach Jerusalem, zu dem junge Menschen wie jener Ostenberg neigen. So wie alle anderen auch, hatte er sich durch Plünderungen während der Eroberungen im heiligen Land einen gewissen Reichtum erworben, den er jedoch nicht wie die anderen in Wein und Vergnügungen ertränkte. Statt dessen setzte er sich mit Gelehrten zusammen, war wissbegierig und sammelte Schriften über die Alchemie. Das ist eine Vermutung, die durch spätere Funde relativ erhärtet wurde.

 

Es gibt dann eine Lücke in den Aufzeichnungen. Dann Ende des fünfzehnten Jahrhunderts war die Familiengeschichte der Grafen von Ostenberg eng mit der Familiengeschichte der Freiherrn (Barone) von Peregrinus verknüpft. In der Stadtchronik tauchte der Name der Barone erstmals im Jahre 1480 auf. Die Familie stammte aus Italien.

Einige Zeit zuvor, im Jahre 1452, waren die meisten Gebäude der Burg abgebrannt, bis auf den Turm, dem Hauptgebäude und der Kapelle. Diese Teile waren Steinbauten und wenngleich die Schindeldächer Feuer gefangen hatten, so blieb dennoch die Gebäudemasse erhalten und konnten ohne zu großen Aufwand wieder hergerichtet werden. Allerdings war das Hauptgebäude wegen seines Alters nicht allzu groß und hatte nicht einmal ein Stockwerk. Der größte restliche Teil der Burg jedoch bestand aus Holzbauten und diese verbrannten restlos. Sie wurden nicht wieder aufgebaut. Holzbauten waren zu jener Zeit nicht mehr für Wehrbauten geeignet und für Steinbauten reichte entweder das Geld oder der Wille nicht. Die Kriegstechnik hatte sich mit Wurfmaschinen weiter entwickelt. Solche waren wohl schon den Römern bekannt, wurden jedoch im frühen Mittelalter kaum verwendet. Jedenfalls wären Holzbauten durch die Wurfmaschinen, die brennendes Teer (Pech) schleuderten, bei einer Belagerung mehr Gefahr als Schutz gewesen. Jedenfalls konnte sich der Graf zu Osternberg die Nachlässigkeit die abgebrannten Gebäude nicht zu ersetzen leisten, denn der Landesfürst sorgte für Ordnung und es mussten keine Überfälle benachbarter Grafen oder fremder Völker befürchtet werden.

 

Dass die Burg nicht wieder neu errichtet wurde hob sogar das Ansehen des Grafen, denn er stiftete einen Teil des Grundes der durchaus wohlhabenden Stadt, die auf dem über den Dächern erhobenem Gelände einen Dom errichten ließ. Auf dem restlichen Gelände bauten die Barone von Peregrinus, Pächter der gräflichen Güter,  ein Schloss, das nur durch einen engen, düsteren Gang vom Burgturm getrennt war. Selten nur wurde dieser Gang von den Kirchengängern aufgesucht, obwohl er die kürzeste Verbindung zum hinter den Burgruinen und dem Schloss liegenden Dom darstellte, sobald man den Aufstieg entlang dem steinigen Steilhang von der Stadt zur Burg bewältigt hatte. Lieber machten die Kirchengänger den Umweg um die Burg herum und atmeten die freie Luft unter heller Sonne.

Der Baron erwarb nicht nur den Grund für sein Schloss, sondern wurde auch der Pächter der gräflichen Güter. Es war eine sehr glückliche geschäftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Familien, die bald in tiefer Freundschaft miteinander verbunden waren. Sehr oft nahmen die zwei Familien gemeinsam im Schloss oder der nur wenige Schritte entfernten Burg ihr gemeinsames Mittagsmahl ein, oder ließ sich der Graf von Ostenberg aus der Stallung von Peregrinus einfach Pferd und Wagen anspannen, ohne zu fragen als wäre es sein eigener Besitz. Diese enge Verknüpfung der zwei Familien konnte man aus etlichen Nebennotizen einer zufällig erhaltenen Abrechnung von Einnahmen und Ausgaben der Familie von Peregrinus aus dem Jahre 1505 entnehmen.

 

Wie jeder der Einwohner unserer Stadt weiß, gab es noch einen weiteren und sehr geheimnisvollen Grund, der die zwei Familien miteinander verband: der Baron brachte aus Italien fast frevelhaft moderne Ideen aus den dortigen Universitäten, welche den allgemein als unanfechtbar geltenden Lehren des Aristoteles widersprachen. Auch kamen ihm geheimnisvolle Schriften aus dem Orient zu, von verschiedenen Händlern gegen viel Geld erworben. In der Alchemie fand sich eine gemeinsame Leidenschaft der Barone und der Grafen von Ostenberg.

 

Der Dom und seine Geheimnisse

 

 

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Der Dom

 

Nach dem Ausflug ins Mittelalter kommen wir in die gegenwärtige Zeit.

Es war 1994 als der Steinmetz der Stadt beim Dombischof um eine Audienz bat. Er zeigte sich sehr interessiert an der Bausubstanz vom Dom und bat diesen inspizieren zu dürfen, um etwaige Schäden rechtzeitig zu reparieren, bevor sie größer werden und die Renovierung aufwändiger werden würde. Es fanden sich nur wenige Reparatur bedürftige Stellen. Nach getaner Arbeit war wieder eine Pause von einigen Monaten, als der Steinmetz wieder beim Bischof vorstellig wurde. Offenbar waren in letzter Zeit zu seinem Leidwesen zu wenige Leute gestorben, so dass es ihm an Aufträgen für Grabsteine mangelte. Vielleicht war das aber auch eine gütige Fügung des Schicksals, denn im Bestreben nach einem Arbeitsauftrag hatte der Steinmetz eine blendende Idee. Er bat den Bischof darum die Krypta inspizieren zu dürfen, um auch dort eventuelle Reparaturen durchzuführen. Der Bischof war sofort einverstanden. Er dachte an antike Fundstücke, die den Dom an Geschichte und Sehenswürdigkeiten bereichern könnten.

Durch Jahrhunderte waren die zwei Decksteine der Krypta nicht gehoben worden. Niemand wusste, ob das überhaupt je nach der Fertigstellung des Domes geschah.

 

Vorsichtig wurden vom Steinmetz einige große Fliesensteine des Kirchenbodens entfernt, um eine Seite der verzierten Steinumrandung der Decksteine frei zu legen. Dann wurde der Randstein ausgehoben und zuletzt die zwei mächtigen Decksteine. Der Bischof, Bürgermeister, Ärzte, Kaufleute und sonstige Prominenz aus der Stadt reckten in gebührendem Abstand ihre Hälse, um einen Blick auf das zu werfen was sich nun der Entdeckung darbot. Es zeigte sich ein schwarzer Abgrund, zu dem eine enge Treppe in die Tiefe führte. Alle dachten zugleich an das gespenstische Poltern, das man bisweilen aus der Krypta hörte. Da dies gelegentlich während der Messe geschah und somit die gesamte Stadtgemeinde Zeuge war, zweifelte niemand daran, dass es dort unten spuken würde. Dem Steinmetz fiel das auch soeben ein und er fand seine Idee weniger attraktiv als kurz zuvor. Unsicher sah er sich einige male um, lediglich um festzustellen, dass man es von ihm erwarte in die unbekannte Tiefe hinab zu steigen. Die Erwartung, dass er der hierzu Berufene sei, bestärkte man, indem man ihm als höfliche Geste, jedoch unmissverständlich eine Taschenlampe in die Hand drückte.

 

Langsamen Schrittes tauchte der Steinmetz in der Schwärze unter. Es dauerte nur kurz, als er wieder auftauchte. Viel konnte er sich nicht umgesehen haben. Entsprechend dürftig war seine Beschreibung der Krypta: „es ist eine größere Halle mit einem steinernen Sarg in der Mitte, einigen Grabplatten an den Wänden und ansonsten leer.“

„Und haben sie sich auch bezüglich dem Fundament informiert“, fragte der Bischof.

„Dazu war die Luft zu muffig und reichte auch die Beleuchtung der Taschenlampe nicht aus“, gab der Steinmetz zur Antwort.

Schweigen!

Die Anwesenden schienen etwas enttäuscht zu sein. Während dessen streckte der Steinmetz hilflos seinen Arm mit der Taschenlampe in den Raum, doch niemand griff zu. Auf ein Nicken des Bischofs, sah sich der Messner genötigt die Taschenlampe zu ergreifen und nach einem abermaligen Nicken stieg er zögernd die Treppe hinab, nachdem ihm der Apotheker noch zuvor einen Fotoapparat zugereicht hatte.

 

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Die Krypta

 

Nach nicht zu langer Zeit tauchte der Messner wieder auf und bestätigte die Aussage vom Steinmetz, fügte jedoch hinzu, dass auch eine niedere hölzerne Türe oder sei es eine hölzerne Deckplatte von etwa einem Meter dreißig zu sehen war.

Das war interessant und der Bürgermeister forderte einen Gemeindebediensteten auf, diesbezüglich nachzusehen. Der stieg forsch die Treppe hinunter. Anscheinend  hielt er nicht viel von Gespenstern. Achtung und Vorsicht bei antiken Einrichtungen war ihm gleicher Weise offenbar fremd, denn kurz darauf hörte man ein Krachen und der Gemeindebedienstete tauchte wieder auf.

„Hinter dem Holzverschlag ist ein Gang, hoch genug, dass man aufrecht gehen kann. Das Ende vom Gang ließ sich mittels der Taschenlampe nicht einsehen“, meinte er lakonisch.

„In welche Richtung führt der Gang“, wurde er sofort gefragt.

„In Richtung Burg“, war die Antwort.

Das war bereits hoch interessant, doch man ließ es dabei bewenden, weil die Erkundung komplizierter und vielleicht auch gefährlich sein könnte. Schließlich war der Eingang von Seiten der Burg bereits eingestürzt.

Der Bischof ordnete an den Zugang zur Krypta mit Brettern zu verschließen und eine Abzäunung herum aufzustellen, damit niemand in den Abgang hinein fallen oder neugierige Besucher hinunter gehen würden. Der Bürgermeister seinerseits versprach sich um einen Restaurateur zu kümmern, der die Krypta sachkundig unter Augenschein nehmen solle.

 

Es dauerte einige Monate, bis ein Team von Archäologen aus der Landesuniversität kam und sich die Krypta und den dahinter liegenden Gang näher ansah. Es ergab sich, dass der Gang in ein ausgedehntes System von Gängen und Kammern führte, welche anscheinend als Verliese und Vorratskammern ein unterirdischer Teil der alten Burg waren.

 

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Das Verlies

 

Was die Archäologen besonders interessierte war eine Folterkammer und anschließend daran eine winzige Kammer, die durch eine feste Eichentüre verschlossen war und welche eine Öffnung hatte, durch welche anscheinend Nahrung und Wasser gereicht wurde. Das ergab sich aus der Logik, denn in der Kammer war das Skelett einer noch jungen Frau zu sehen. Dass die Frau noch jung war erkannte man an den vollständig erhaltenen Zähnen. Das Besondere an der Folterkammer war ein Regal mit einem Buch, in das Notizen hinein geschrieben waren. Ein Buch war in früheren Zeiten etwas Kostbares, was man nicht für Aufzeichnungen von Gefangenen in Folterkammern verschwendete. Die Archäologen versprachen sich einen einmalig interessanten Fund. Leider waren die Seiten durch Schimmel verklebt. Auch waren sie dadurch brüchig geworden. Das ließ erhebliche Restaurationsarbeiten erwarten, für die momentan niemand Zeit hatte.

 

Dann widmete man sich der kleinen Kammer. Ein Schlosser wurde geholt, der zwei Tage mehrmals das Schloss mit einem Entroster einsprühte und dann versuchte dieses mit einem Sperrhaken zu öffnen, was ihm auch mit einiger Kraftanstrengung gelang. Die schwere Eichentüre wurde geöffnet und die Fotoapparate der Archäologen blitzten und nahmen jede Handbreit des Bodens der Zelle auf. Sorgfältig wurde eine jede kleinste Stelle unter Augenschein genommen. Der mit Lehm eingeebnete Felsenboden war staubfrei und es erweckte den Eindruck als hatte die Kerkerzelle die Jahrhunderte verschlafen. Wäre nicht das Skelett gewesen, hätte man glauben können, dass sie frisch geschaffen auf ihre schreckliche Aufgabe warte.

 

Sorgfältig hoben die Archäologen aus der kleinen Kammer das Skelett aus, brachten es in das Stadtmuseum und untersuchten es dort. An einem Finger fand sich ein Siegelring mit dem Wappen der Grafen von Ostenberg. Damit war es eindeutig und klar: es war das Skelett der Gräfin.

Am nächsten Tag herrschte helle Aufregung. Das Skelett der Gräfin war verschwunden. Alles Suchen und Grübeln half nichts, bis man das Skelett in seiner ursprünglichen Lage wieder in der Kammer vorfand. Man scheute sich davor das Skelett abermals in das Museum zu bringen und hielt statt dessen eine Beratung ab, zu welcher der Bischof und auch ich als bereits akzeptierter Experte eingeladen war. Es wurde nicht lange über das Warum und Wieso gesprochen, denn klären ließ sich der Fall ohnedies nicht. Wohl aber wurde sofort der Vorschlag aufgegriffen, der Gräfin ein ordentliches christliches Begräbnis zu geben und sie in der Burgkapelle zu bestatten.

 

So geschah es auch. Der Bischof selbst hielt die Totenmesse und auch die Predigt, in welcher er die Inquisition und ihren Missbrauch auf sanfte Weise tadelte:

„Wenngleich der christliche Glaube durch Gottes Sohn den Menschen gegeben wurde, so heißt dies noch lange nicht, dass ihn die Menschen in seiner Tiefe auch verstanden hätten. Die Religion ist innig mit der Seele der Menschen verbunden. So rein sie in der Botschaft Jesu auch gewesen sein mag, die Menschen werden durch den Körper mit seinen Instinkten, Wünschen und Egoismen in ihrem Fühlen und Denken verdunkelt. In gleicher Weise wie ein Mensch von der Kindheit an reift und wächst, so gilt dies auch für die Christenheit. Auch die christlichen Völker mussten reifen und in ihrem Glauben und in der Ausübung ihrer Religion wachsen. So wie es einem Kind oft noch an Einfühlungsvermögen fehlt und der Egoismus vorherrscht, ähnlich geschah es auch dem Christentum in jenen mittelalterlichen Zeiten. Intoleranz und elitäres Denken gegenüber Andersgläubige führte zu Kriegen und Verfolgungen innerhalb der Kirche. In der Meinung dem Glauben zu dienen, wurde gegen die Liebesbotschaft von Jesus verstoßen. So wie der einzelne Mensch lernt und in seiner Reife wächst, gilt dies auch für die Völker, wenngleich hier statt Jahren oder Jahrzehnten Zeiträume von Jahrhunderten gelten mögen. So hat auch unsere abendländische Christenheit dazu gelernt und ist reifer geworden, wenngleich noch nicht weise. Um einen Vergleich zu ziehen“, der Bischof seufzte, „so befindet sich unser Abendland im Vergleich zum Entwicklungsstadium eines einzelnen Menschen gegenwärtig in der Pubertät. Wodurch wird die Pubertät gekennzeichnet? Es erfolgt eine Lostrennung von der Hörigkeit zu den Eltern. Aber bis zur Eigenverantwortung ist dann noch ein langer Weg und oft wird in diesem Prozess in blinder Wut auch das wertvolle elterliche Erbe verstoßen. Das gilt durchaus für unsere gegenwärtige Zeit und die Folge ist ein Verlust an Ethik und Moral. Ja noch mehr, das Wissen um den Sinn des Lebens ging ebenfalls verloren und an seine Stelle trat Desorientierung und häufig Depression, welch letzterer die Menschen durch Ablenkung entfliehen wollen.

Wollen wir an dem Schicksal der Gräfin lernen, für die Gräfin beten und für unser Abendland, damit es wieder zu tieferen Werten finden möge.

Lasset uns beten. Möge der Herr die Gräfin zu sich nehmen. Vater unser..“

 

Nach der Messe wurde der kleine Sarg mit den Gebeinen der Gräfin in die alte Burgkapelle gebracht und dort dem Sockel eines Seitenaltars eingefügt.

 

Die Archäologen begannen sich nach der Totenmesse für die Gräfin und deren Bestattung wieder der kleinen Kerkerkammer zuzuwenden.

 

Zur freudigen Überraschung der Archäologen fand sich in einer Ecke des Kerkers eine plumpe Lehmpuppe. Sie wurde, wie sich zeigte aus dem Lehm des Bodens geformt, der mit Urin in einen knetbaren Zustand gebracht wurde. In die Puppe waren mit einem Finger zahlreiche Löcher gebohrt worden, so viele, dass sie hierdurch beinahe ihre Form wieder verloren hatte.

Als ich hierüber hörte, dachte ich hierbei sofort an eine sympathiemagische Praktik, in welcher die Puppe für eine Person steht und man über diese Puppe auf die betreffende Person magisch einwirken will. In diesem Fall sollte die Lehmfigur vermutlich den Domherrn darstellen. Über diesen werden wir später noch lesen. Unter Flüchen und Verwünschungen vermutlich, nahm die Gräfin solcherart Rache an ihrem Peiniger. Ich konnte mir gut vorstellen, dass die Lehmfigur immer wieder im Laufe der hasserfüllten Praktiken bis zur Unkenntlichkeit durchbohrt wurde und immer wieder neu geformt werden musste.

 

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Magisch bearbeitete Lehmpuppe

 

Die von den Archäologen gefundene und präparierte Lehmfigur ist nunmehr in einem Schaukasten des Stadtmuseums  sehen. Um den Schaukasten herum finden sich Abbildungen der Kerkerwände, auf welche aus Lehmpaste gezeichnete Spreizhände, die sind ein uraltes Abwehrsymbol, Pentagramme und allerlei nicht deutbare magische Sigillen gemalt wurden.

 

Die alte Burgkapelle

 

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Burgkapelle

 

Wie schon zuvor erwähnt, war die Burgkapelle neben dem Turm und dem ebenerdigen Haupthaus ein Teil der alten Burg, welcher das Feuer des Burgbrandes 1452 überlebt hatte.

Die Burgkapelle wurde als Nebenkapelle in den Dom integriert, jedoch konnte sich durch etwa drei Jahrhunderte ihr Zugang zum Hauptgebäude erhalten. Man konnte also direkt vom Turm aus über einen Nebenraum die alte Burgkapelle und somit den Dom betreten. Dann als das Hauptgebäude und letztlich auch der Turm im Laufe der Zeiten verfiel, gab es nur noch eine schwere Eichentüre, welche ein nie verwendeter Ausgang zu den Burgruinen war. Die Kapelle selbst wurde jedoch immer wieder restauriert, als Teil des heiligen Domes, und blieb bis in die Gegenwart erhalten. Sie hatte jedoch keine tiefere Bedeutung und wurde als ruhiger Kirchenwinkel verwendet, in dem die täglichen Rosenkranzgebete abgehalten wurden. Ein wenig war sie verwahrlost, was sie als derart altes Gebäude wohl nicht verdiente. Das Gewölbe der Kapelle, das einst blau bemalt war mit Sternen in Kobaltblau, wurde weiß übertüncht. Das gleiche galt für die Wände. Mit einem Wort, die Kapelle wurde zu einem schmucklosen Raum mit einigen Kirchenbänken und einem eher schlichten Altar mit einer Mutter Gottes aus bunt bemaltem Gips. Lediglich einige Grabplatten ehemaliger Grafen von Ostenberg an der Wand und als Decksteine im Fußboden, ließen das Alter der Kapelle erahnen und erfüllten sie mit einem kleinen Rest von Atmosphäre.

 

Die Öffnung der Krypta und die Freilegung ihrer Geheimnisse eröffneten der Kapelle ein neues Leben. Jedenfalls wurde durch die Beharrlichkeit eines kunstbeflissenen Besuchers, der als Ordinarius einer Universität mehr Gewicht in seine Worte legen konnte, der Kapelle mehr Beachtung geschenkt.

Zunächst begann man die mehreren weißen Deckschichten vorsichtig abzutragen und entdeckte darunter mittelalterliche Fresken. Sie waren durch den Schutz der Deckschichten gut erhalten und werteten den Dom auf. Die Kapelle wurde sogar in den Tourismuskatalog aufgenommen und erfreute sich einer durchaus akzeptablen Besucherzahl. Auch der Dom selbst fand dadurch mehr Beachtung. Der Bürgermeister und der Gemeinderat waren über die neue Attraktion hoch zufrieden. Das verschlafene alte Städtchen, das durch zwei strenge politische Regimes ein wenig den Anschluss an den Rest der Welt verloren hatte, kam mehr in den Mittelpunkt allgemeinen Interesses. Kunstbücher zeigten die eine oder andere Illustration, in Tourismusbüchern fanden sich immer häufiger Hinweise, einige Wirte widmeten etliche ihrer Räume in Hotelzimmer um und last not least, das Selbstbewusstsein der Stadtbewohner wurde dadurch gefestigt und wuchs. Erwähnen möchte ich noch, dass auch meinen Forschungen mehr Beachtung geschenkt wurde. Ich konnte ohne Schwierigkeiten die eine oder andere Entdeckung, ja selbst alte Erzählungen über die Gräfin und den Baron publizieren und das nicht nur in der Lokalzeitung.

 

Dann, eines Tages fiel einem Besucher auf, dass einige der Grafen von Ostenberg sowohl in der Krypta als auch in der Kapelle ein Grabmal hatten. Ich nehme an, dass das auch den Restauratoren aufgefallen war, diese jedoch nicht sonderlich darauf reagierten. Die Krypta war der heiligste Ort einer Kirche und es lag auf der Hand, dass die Grafen von Ostenberg ihre Ahnen von der nunmehrigen Seitenkapelle in die Krypta verlegen ließen. Das war logisch und sehr oft auch in  anderen Kirchen üblich. Wie so oft weiß die Logik die Dinge genau zu erklären und solcherart auf ihre Weise die Welt zu entzaubern. Diesmal war jedoch die Neugier größer als die Logik. Man öffnete eine nach der anderen der Steinplatten. Dahinter waren leere Kammern bis auf eine. Diese eine Kammer jedoch enthielt Schmuckstücke und Münzen, die bis ins zwölfte Jahrhundert zurück reichten. Das war ein einmaliger Fund, der nicht so schnell seinesgleichen haben mochte. Wahrscheinlich wurde das Grab als Versteck verwendet, als ihr Vater, der letzte aus dem Grafengeschlecht, sein Ende kommen sah und abschätzen konnte, dass seine Tochter ein Spielball diverser Heiratsinteressenten werden würde, die sich von der Heirat mit der Gräfin Reichtum und Ansehen versprachen. Man muss bedenken, dass die Barone von Pergrinus nur Pächter waren und der Besitz nach wie vor den Grafen gehörte. Dass der Schmuck vom letzten Grafen versteckt wurde, ist zwar nur eine Vermutung, jedoch besitzt sie eine gewisse Berechtigung. Der gefundene Schmuck war später der Stolz des Stadtmuseums.

 

 

Recherchen vom Gymnasialprofessor Friedrich Wangerer

 

Um es kurz zu sagen, der Gymnasialprofessor Friedrich Wangerer bin ich, wie schon am Anfang dieser Schrift erwähnt. Ich lehre die Fächer Geschichte und Geografie. Die Geschichte über die Gräfin und den Baron wurde ursprünglich als ein Teil der lokalen Heimatkunde gebracht. Ursprünglich eher nur beiläufig erwähnt, gewann dieser Aspekt unserer Stadt immer mehr an Dynamik und wurde bald zu einem wesentlichen und beliebten Teil unserer lokalen Geschichte.

Um der Jugend einen gewissen Heimatstolz zu vermitteln, gab ich ursprünglich gelegentlich, später regelmäßig eine Heimarbeit in Auftrag, in welcher Eltern und Verwandte über Überlieferungen und Traditionen unserer Stadt befragt werden sollten. Selbstverständlich habe ich mich bemüht vor Vergabe der Heimarbeit das Interesse und die Stimmung der Schüler hierfür zu motivieren. Das tat ich, indem ich ihnen alte Fotos und Darstellungen unserer Stadt zeigte oder ihnen diverse Geschichten erzählte, unter anderem auch über die Gräfin und den Baron.

Jedenfalls trugen mir die Schüler alte Fotos zu, mit deren Kopien ich unser Stadtarchiv bereicherte, Erzählungen der Großeltern über diese und jene Gegebenheiten, von denen die interessanteren hierdurch vor dem Vergessen gerettet wurden. Es gab auch diverse Erzählungen über die Gräfin und den Baron. Hierunter waren sogar einige, die sogar mich überraschten. Sie ließen erkennen, dass die Gräfin und der Baron nach wie vor in unserer Stadt präsent waren.

 

Es gab auch immer wieder kleine Vorfälle, die ich für mich persönlich durchaus bereichernd fand.

Ein Beispiel: eines Tages, als ich eine Stunde über die Griechen gehalten hatte, fing mich eine Gruppe von Schüler aus der fünften Klasse nach dem Klingelzeichen in der Pause ab. Zuerst zögernd, dann immer aufgeregter erzählten sie mir von einem Abenteuer, das sie vor zwei Tagen hatten.

„Vor zwei Tagen“, so erzählte einer von ihnen, „es war schon finster und so gegen elf Uhr nachts, trafen wir uns im Burgturm.“

 

Ich möchte hier für die Leser hinzufügen, dass die restliche Turmmauer in der Höhe zwischen eineinhalb und zwei Meter einen erdigen ebenen Boden umschließen, der von Jugendlichen gerne als Stelldichein aufgesucht wird. Über eine verschlossene Eisentüre ist der Eingang zu diesem Areal versperrt. Allerdings ist dies eher eine symbolische Absperrung, denn die Mauer selbst ist für Jugendliche kein Hindernis.

Viele Feuerstellen weisen auf die romantischen Zusammenkünfte in der Dunkelheit hin. 

 

Der anfängliche Erzähler wurde unterbrochen und eines der Mädchen setzte fort: „Wir saßen eine Weile herum und plauderten, als Gerhard aus seinem Rucksack Holz holte und wir ein Lagerfeuer machten. Das Feuer war nicht allzu groß, aber brannte sehr schön und Funken flogen empor. Auf einmal schienen da und dort in der Umgebung Funken zu leuchten. Diese Funken allerdings bewegten sich nicht, sondern waren wie kleine Kugeln, die aufleuchteten und nach einigen Sekunden wieder verlöschten.“

Aufgeregt redeten alle Umstehenden gleichzeitig auf mich ein, indem sie dies bestätigten.

„Und dann“, setzte einer der Burschen fort, „hörten wir wie jemand kräftig auf die Eisentüre schlug und daran rüttelte.“

„Nun ja, das kann ja leicht sein, dass euch jemand erschrecken wollte. So eine späte Nachtstunde in dieser Umgebung fordert ja gerade hierzu heraus.“

„Nein“, schrien alle gleichzeitig. „Wir haben sofort nachgesehen und es war weit und breit niemand zu sehen. Auf dem offenen Gelände dort kann sich auch niemand so schnell verstecken. Es war garantiert die Gräfin.“

„Wieso gerade die Gräfin“, meinte ich.

„Wer sonst sollte es gewesen sein“, gaben sie mir zur Antwort.

Ich schwieg. Warum auch sollte es nicht so sein.

 

Nun wie gesagt, ab da gab ich den Schülern die Thematik um die Gräfin und den Baron als Heimarbeit unter dem Aspekt der Heimatkunde. Das Thema wurde immer wieder mit Begeisterung aufgenommen und die Schüler erklärten mir, dass diese Thematik bei weitem nicht so langweilig wie eine Heimarbeit über Karl den Großen oder die Römer sei.

 

Nun, die Heimarbeit mit dem Auftrag sich im Bekanntenkreis nach Erzählungen über die Gräfin oder den Baron umzuhören, wurde zu einer etablierten Gewohnheit.

 

Die meisten Erzählungen, die mir solcherart zugetragen wurden, waren ohnedies bekannt. Etwa, dass die Gräfin wiederholt als debiles Kind am Fuße des steinigen Hügels zu sehen war. Diese Überlieferung gab es in zahlreichen Varianten quer durch die Jahrhunderte hindurch. Selbst im Stadtarchiv fanden sich hierüber immer wieder Hinweise.

Es gab jedoch auch eine große Überraschung für mich – eine Begegnung mit dem Baron aus jüngster Zeit. Der Onkel eines Schülers hatte ihm dies bei einer Befragung mitgeteilt. Es war mir dann möglich, diesen Onkel selbst zu interviewen.

                   

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Der Baron

 

Folgende Erzählung vom Großonkel des Schülers hatte ich beim damaligen Interview wortgetreu notiert:

Es war einige Jahre nach dem Regimewechsel. Der Staat hatte eine 180 Grad Kehrtwende von rechts nach links gemacht. Die Luft war geschwängert von Misstrauen und jeder fürchtete sich der Kollaboration mit ausländischen Mächten oder Resten des alten Regimes verdächtigt zu werden. Ich stand gerade mit einem Bekannten oben auf dem Berg, nicht weit von der Turmruine und wir plauderten über Nichtigkeiten. Da kam von unten ein unbekannter Man herauf und gesellte sich zu uns. Misstrauisch sahen wir ihn an. Was wollte er? War es ein Spitzel, der uns aushorchen wollte? Unser Gespräch  stoppte abrupt und wir starrten Löcher in die Luft.

„Was ist das für eine seltsame Maschine, dort unten“, fragte er.

Wir starrten ihn an. Ungeschickter konnte man kein Gespräch beginnen.

„Ein Teerkessel für den Straßenbau ist das“, sagte ich mürrisch und schwieg. Auch mein Bekannter schwieg und wir machten solcherart deutlich, dass wir kein Interesse hatten mit diesem Unbekannten weiter zu sprechen.

Nach einer Pause sprach der Fremde weiter: „Die Stadt ist keineswegs schöner geworden, obwohl sie über solch moderne Maschinen verfügt. Im Gegenteil, so hässlich wie jetzt war sie noch nie!“

Wir fielen wie aus allen Wolken. Was sollte an dem veralteten Teerkessel modern sein. War das ein westlicher Spion und wollte er sich über unsere zurück gebliebene und verarmte Wirtschaft lustig machen?

Jedenfalls erhielt er von uns nicht das kleinste Wort als Entgegnung. Wir wendeten uns wieder von ihm ab und sahen schweigend auf die Stadt hinunter, als ob uns dort etwas interessieren würde, was natürlich nicht der Fall war.

„Hat jemand die letzte Zeit wieder die Gräfin gesehen“, fragte er nunmehr. Mir und meinem Bekannten, wie ich später erfuhr, rieselte es kalt über den Rücken und wir bekamen eine Gänsehaut. Mein Bekannter drehte sich sofort um und eilte den Berg hinunter. Ich wollte ihm folgen als jener Mann „halt“ sage. „Wen ihr derart unhöflich seid, werde ich laut um Hilfe schreien!“

Es war klar, das war der Baron. Aber wenn er laut mit uns sprechen konnte, dann konnte er auch laut um Hilfe schreien und es war mir keineswegs gelegen die Polizei auf mich aufmerksam zu machen. Deshalb erwiderte ich widerwillig: „Was soll schon sein“, sagte ich, „sie geistert nach wie vor als debiles Mädchen herum.“

„Wie ist das möglich“, entfuhr es dem Baron voll Schreck. „Ich habe sie doch vor einigen Jahrzehnten geheilt“, sagte er noch entsetzt, während er schon zum Turm davon eilte.

Nachträglich tat er mir leid. Natürlich habe ich es ihm so erzählt wie wir es aus der Überlieferung wissen. Niemand hatte die Gräfin die letzten Jahre gesehen und es hatte somit keine neueren Gerüchte um sie gegeben. Ich konnte sein Entsetzen deutlich fühlen. Es schnitt ihm regelrecht durch das Herz.

Ja, noch etwas fällt mir ein. Kurz darauf hörte ich ein Krachen und wie sich später heraus stellte, hatte der Graf den Bretterverschlag eingetreten, der an der Stelle des ehemaligen zweiten Einganges des Turmes gegenüber dem Schloss war. Es musste ein sehr wuchtiger Schlag gewesen sein, denn die Bretter und ihre Splitter waren bis in die Mitte des Lehmbodens innerhalb der niederen Mauerreste des Turmes zu sehen.

 

Es gab noch eine weitere Geschichte vom Baron, die mir zu Ohren kam. Allerdings wenn sie angezweifelt wird, kann ich das durchaus verstehen. Es könnte sich ja auch um einen historisch versierten Touristen gehandelt haben oder einem Geisteskranken. Wie auch immer es interpretiert werden möge, so zeigt es doch die Atmosphäre auf und die Tatsache, dass der Baron und die Gräfin auch gegenwärtig zu unserem Stadtleben als geisterhafte Mitbürger dazu gehören. Hier die Aufzeichnung:

 

Da die Tische der Konditorei an der Straße alle besetzt waren, und ich mich bei dem angenehmen Sonnenschein und dem Gezwitscher der Vögel nicht in die Dämmerung der Innenräume setzen wollte, bat ich einen alleine sitzenden Gast, ob ich mich zu ihm setzen dürfe.

„Der Herr sei mir willkommen“, sagte er.

Verwundert über die seltsame Wortwahl bedankte ich mich und setzte mich hin.

Er legte die Zeitung zur Seite. „Früher, wenn sich jemand eines Gewaltdeliktes schuldig gemacht hatte, hat man ihn dem Henker überantwortet. Bis auf gelegentliche jugendliche Taschendiebe, konnte man in unserer Stadt ruhig leben. Jetzt publiziert man das und macht aus solchen Leuten Helden und überall finden sich Nachahmer. Es ist schade für derlei Dinge das wertvolle Papier zu verschwenden. Stimmt es, dass man jetzt Papier aus Holz oder Stroh macht?“

„Aus Holz macht man es, nicht aus Stroh“, sagte ich.

„Ich sitze gerne hier“, setzte er das Gespräch nach einer kleinen Pause fort. „Hier hat die Stadt noch etwas von ihrem alten Charakter bewahrt, wenngleich bei dem Gasthaus gegenüber die Balken fehlen, an die man die Pferde binden konnte. Aber das ist ja jetzt nicht mehr nötig. Jeder setzt sich in diese leblosen Fahrzeuge und rollt durch die Gegend. Das mag ja wohl schneller gehen, aber ein Kontakt zur Natur ist ja doch schöner.“ Dann fragte er: „Sind sie schon geritten?“

Ich verneinte.

„Bedauerlich“, meinte er und schwieg dann.

Auch ich hatte keine Lust weiter zu reden, denn der Mann verwirrte mich in seiner seltsamen Art. Ich war mir nicht sicher, ob ich es nicht mit einem Geisteskranken zu tun hätte. In dem Fall könnte es ja sein, dass ein falsches Wort meinerseits ihn in heftige Erregung werfen würde und solchen Situationen war ich sicherlich nicht gewachsen.

 

 

Gespräch mit dem Schulpsychologen

 

Die Geschehnisse um die Gräfin beschäftigten mich immer mehr. Oft hing ich in Gedanken den damaligen Ereignissen nach und versuchte Lücken oder Widersprüche zu klären. Wie die Recherchen durch die Schüler bewiesen, waren die Geschichten um die Gräfin und dem Baron der Bevölkerung unseres kleinen Städtchens derart gegenwärtig und über alle Zweifel erhaben, dass ich ohne Schwierigkeiten dieses Thema bei einem Gespräch mit unserem Schulpsychologen anschneiden konnte, ohne für verrückt oder ausgeflippt gehalten zu werden.

 

Wir saßen in der Cafeteria, genau in jener, in welcher der Baron gelegentlich gesichtet wurde. Er wurde immer wieder dort gesehen, wobei nicht auszuschließen war, dass mancher fremde Besucher einfach für den Baron gehalten wurde. Ich goss gerade meinen zweiten Löffel Zucker in den Kaffee, was sicherlich nicht gerade gesund war. Nachdenklich nahm ich ein Stück Schokoladetorte auf meine Gabel und begann das Gespräch.

 

Ich erzählte eine der Geschichten über die Gräfin, in welcher diese als zehnjähriges Mädchen am Fuß des felsigen Berges gesehen wurde. Der Schulpsychologe hörte nur mit halbem Interesse zu, denn die Geschichte kannte er ohnedies.

 

„Ich frage mich“, begann ich, „weshalb das Gespenst der Gräfin als zehnjähriges Mädchen erschien, wo sie doch mit zirka 18 oder 19 Jahren verstarb. Das Alter als zehnjähriges Mädchen passt überhaupt nicht zu ihrem Todesalter. Es heißt doch, dass Gespenster als Folge eines traumatischen Schocks entstehen können, wobei eben das traumatische Ereignis, da es unverarbeitet blieb, in einer Schleife ständig wiederholt wird.“

 

Der Schulpsychologe wurde hell wach. Das war etwas, was in sein Fach passte und für dessen Enträtselung eigentlich er zuständig war. Er blieb schweigend sitzen und dachte nach. „Was mochte in solch einer Klientin vor sich gehen“, dachte er und vergaß hierbei beinahe, dass es sich um ein Gespenst handelte. Dann hatte er die zündende Idee und alles rollte sich vor seinen Augen logisch auf.

 

„Man nennt es Regression“, begann er. „Wenn jemand die Gegenwart in all ihren überlastenden Situationen nicht mehr ertragen kann, kann es vorkommen, dass dieser Mensch der Gegenwart entflieht und sich in eine Zeit hinein versetzt, in welcher er problemlos und glücklich leben konnte. Es ist der letzte Ausweg, um durch Flucht den Selbsterhalt zu ermöglichen. Allerdings wird eine solche Option der Selbsterhaltung schwer erkauft: die Probleme können nicht verarbeitet werden und bleiben traumatisch erhalten. Des Weiteren wird nicht nur die Psyche in eine frühere Existenz versetzt, sondern die gesamte Wahrnehmung der Welt wird dem angepasst.  Das führt zur Unfähigkeit die Umwelt und alle Geschehnisse in objektiver Weise wahrzunehmen. Der Mensch wird völlig weltfremd im wahrsten Sinne des Wortes. Alles, was nicht in das meist infantile Weltbild passt wird abgeblockt und nicht zur Kenntnis genommen, beziehungsweise werde Ereignisse in diesem Sinne traumartig uminterpretiert. Rein äußerlich ist der Mensch dann scheinbar wieder glücklich und glaubt das auch zu sein. Doch im tiefsten Inneren blutet die seelische Wunde eines nicht bewältigbaren Schmerzes. Letztlich ist dies die leidende Existenz eines gespaltenen Menschen.“

 

„Ah“, ich verstehe“, sagte ich, „somit ist ein Gespenst die traumatische Abspaltung eines gespaltenen Menschen. Wenn man so will, könnte man von einer parapsychologischen Form einer Schizophrenie sprechen.“

„Ja, so sehe ich es auch“, fügte der Schulpsychologe hinzu. „Dein Interesse an der Gräfin, Friedrich, ist geradezu ansteckend. Es ist faszinierend, die Erscheinung aus diesem Blickwinkel zu sehen.“

 

„Das ist schon schrecklich“, meinte ich, „wenn jemand die Welt durch einen Schock derart anders und verzerrt sieht!“

 

Nach seiner für ihn faszinierenden Schlussfolgerung verdüsterte sich wieder das Gesicht des Psychologen: „Leider gilt eine einseitige Wahrnehmung der Welt nicht nur für gestörte Menschen. Da ist es nur offensichtlicher. Letztlich jedoch gilt es für einen Großteil der Menschen. Das führt zu Konflikten, Kriegen und der Unfähigkeit sich in die Situationen und Bedürfnisse anderer einzufühlen. An einem Hauch von Schizophrenie ist leider unsere gesamte Menschheit erkrankt.

 

Wir schwiegen beide noch eine Weile und diskutierten dann über die krankhaften Aspekte unserer gegenwärtigen Zivilisation. Mehr und mehr schien mir die Gräfin kein Sonderfall mehr zu sein.

 

Eine ausgefallene Idee

 

Die Entdeckungen der Archäologen in der Folterkammer und dem Kerker hatten einige neue Aspekte der Gegebenheiten um die Gräfin eröffnet. Die Sammlungen diverser Erzählungen um die Geistergräfin und den Baron waren bereits sehr umfangreich. Wenngleich viele Erzählungen inhaltlich identisch waren, so unterschieden sich doch manche von ihnen in dem einen oder anderen Aspekt, was für mich weniger verwirrend sondern eher ergänzend war. Ich hatte mittlerweile schon sehr viel Material mit sehr vielen Hinweisen.

 

Es schien mir auch berechtigt zu sein aus den örtlichen Gegebenheiten und einigen historischen Notizen Rückschlüsse zu ziehen. Der Inquisitionsprozess um die Gräfin, fand zwei Jahre nach einem neuen Domherrn statt. Es war nicht verwunderlich, dass der Beginn des Inquisitionsprozesses gegen die junge Gräfin im Stadtarchiv festgehalten wurde. Bei allem war das Grafengeschlecht in der Stadt hoch angesehen und der Inquisitionsprozess war Ausdruck einer rohen Gewalt, gegen den Widerstand der Stadtältesten.

Der neue Domherr war der Sohn eines Emporkömmlings aus dem Umfeld des Markgrafen. In seiner urkundlichen Erwähnung stand nichts von einer geistlichen Herkunft oder einen höherem Bildungsstand. Da es üblich war eine bedeutungsvolle Persönlichkeit mit Ruhm und Ehre zu umgeben, hätte man Bildungshintergründe sehr wohl erwähnt, wenn sie vorhanden gewesen wären. Der neue Domherr war demnach von weltlichem Ursprung und ohne nennenswerte Bildung. Es war nicht einmal klar, ob er lesen und schreiben konnte. Sein Vorgänger dagegen war ein Bischof und hoch gebildet. Auch das konnte man aus den Stadtarchiven ersehen.

Wenn man die örtlichen Gegebenheiten in Betracht zieht, so zeigt sich, dass der Dom und die Burg über die Verbindung der alten Burgkapelle praktisch ein geschlossener Gebäudekomplex waren. Das Schloss der von Peregrinus hatte einen Ausgang zum Bergsteg, etwa nur vier oder fünf Meter von einer Eingangstüre des Burgturms entfernt. Ebenfalls hatte es einen Eingang beim kleinen gepflasterten Platz vor dem Haupttor des Domes. Somit konnte man auch das Schloss zum Nahbereich des Domes rechnen.

Es liegt auf der Hand, dass der frühere Dombischof häufig bei seinen ebenfalls sehr gebildeten Nachbarn auf ein Glas Wein und anregenden Gesprächen war. Wahrscheinlich haben sie auch viel über die Alchemie gesprochen und der damit verbundenen Weltanschauung, die von der Astrologie bestimmt war und eher der Gnosis zuneigte als dem etablierten Christentum.

Was den neuen Domherrn anbelangt, so konnte man von dem genauen Gegenteil ausgehen, abgesehen davon, dass der alte Graf und seine Frau unlängst verstorben waren und nur die Tochter als Alleinerbin zurück geblieben war. Auch was die Barone von Peregrinus anbelangt, war nur der junge Baron zeitweise anwesend. Der alte Baron hatte Rheumatismus und sich deshalb in das klimatisch günstigere Italien zurück gezogen, wo es noch Verwandte und Besitztümer des Barons gab. Auch das fand sich in einer Notiz des Stadtarchives, wobei dort stand „der Baron und seine Familie“. Italien, dieses hoch kultivierte Land war anscheinend auch für den jungen Baron sehr anziehend, weshalb auch er den größten Teil des Jahres in Italien verbracht haben dürfte.

 

Auf Basis der neuen Gegebenheiten durch die Entdeckungen der Archäologen, wurden diese kleinen Notizen, denen ursprünglich nur wenig Beachtung geschenkt wurde, zu bedeutsamen Hinweisen.

Es ergab sich nunmehr ein halbwegs geschlossenes Bild. Dennoch war unter all dem Material auch viel Widersprüchliches. Nachdem alle Möglichkeiten der Information ausgeschöpft waren und kein neues weiteres Material mehr zu erwarten war, dachte ich mir, dass es vielleicht nützlich sein könnte, wenn es mir gelänge in die damalige Atmosphäre einzutauchen, um die sachlichen Fakten auch von der emotionellen Seite her verstehen zu können. Das brachte mich auf eine sehr ausgefallene Idee: ich beschloss mich für einige Stunden in die Folterkammer zu begeben, um mich in die Atmosphäre der Inquisitionsverhöre einzuleben. Einige Stunden stehen wollte ich keineswegs. Andererseits erschien es mir auch nicht attraktiv auf dem kaltfeuchten Boden des unterirdischen Gewölbes zu sitzen. So suchte ich zu Hause nach einem passenden Stuhl. Aber alle Stühle waren unhandlich und es hätte mir sicherlich auch bei der Bevölkerung einige rätselhafte Blicke gekostet, wenn mich der eine oder andere mit einem Stuhl zur Burg wandern hätte gesehen. So entschloss ich mich für einen Liegestuhl. Einen solchen zu tragen, um eventuell auf dem warmen Hang die Frühlingssonne zu genießen war keineswegs abwegig.

 

Dass ich mich in der Folterkammer nicht auf einen Stuhl gesetzt hatte, sondern es mir auf einem Liegestuhl gemütlich tat, hatte eine nicht einkalkulierte Folgewirkung.

 

In der Folterkammer war es ruhig und es gab keine Besucher. Ich bemühte mich die Atmosphäre des Raumes zu erfühlen, schien jedoch zu stumpf oder fantasielos zu sein, denn es tat sich überhaupt nichts. Etwa nach einer Stunde im bequemen Liegestuhl begann ich einzudösen.

 

Unmerklich begann ich in einen Halbschlaf zu driften. Da sah ich vor mir einen grobschlächtigen Mann mit einer primitiven, abstoßenden Ausstrahlung. Im Raum war noch ein Kerkerknecht als Helfer und auch die Gräfin. Das fühlte ich, sah es aber nicht. Das Einzige, was ich klar und deutlich sah, war der breitschultrige, kompakt gebaute Mann von etwa 25 Jahren. In ihm wogte Zorn, Hass und Gier. Zorn und Hass deswegen, weil es die Gräfin ablehnte sich mit ihm zu vermählen. Das war ihm wichtig, denn er hätte dadurch in der Stadt sehr an Ansehen gewonnen und hätte  solcherart Anschluss zu den alten Familien der oberen Gesellschaft gefunden, abgesehen von dem Reichtum der ihm zufallen würde. Denn  die junge Gräfin war die Alleinerbin und er wäre durch eine Vermählung mi ihr zum Besitzer der gesamten Grafschaft geworden. In unglaublicher Hartnäckigkeit lehnte sie jedoch ab. Und wenn es schon nicht durch Heirat gelang aufzusteigen, so wollte er zumindest reich werden, sehr reich werden. Das schien möglich zu sein, wenn es ihm gelänge das geheime alchemistische Notizbuch der gräflichen Familie zu erlangen. Er hatte das gesamte gräfliche Anwesen bis in den kleinsten Winkel durchsuchen lassen, doch war dies vergeblich. Nicht einmal eines der alchemistischen Werke, von denen es eine größere Anzahl hätte geben müssen, ließ sich finden. Das verstärkte seinen Zorn und Hass und er musste sich zurückhalten die junge Gräfin nicht gleich zu Tode foltern zu lassen. Er musste und wollte sie quälen, bis all ihr Widerstand gebrochen sei und sie dann mit dem Wissen um die Verstecke heraus rücken würde. Immer wieder ließ er sich neue Begründungen für das Verhör einfallen, versuchte ihr Selbstwertgefühl zu untergraben und sie psychisch zu unterwerfen. Die Ausstrahlung des Domherrn, und das schien er eindeutig zu sein, war derart abstoßend, dass ich es nicht länger aushielt und meine Augen aufriss, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten.

 

Hatte ich bislang die Geschehnisse um Gräfin und Baron nüchtern und intellektuell verfolgt, im Sinne der Heimatkunde, so war das ab nun völlig anders. Ich war aufgewühlt von der emotional immens eindrucksvollen Szene, die ich im Schlaf/Wach Zwischenzustand erfuhr. Durch Tage ließ mich diese kurze Szene nicht mehr los. Obwohl sie keine neuen Fakten gebracht hatte und nichts von historischer Aussagekraft dabei war,  war für mich dennoch ab nun alles anders. Ich hatte sozusagen einen persönlichen Zugang zu den damaligen Ereignissen gefunden. Ja, es ist nicht einmal übertrieben, wenn ich sagen darf, dass ich mich ab nun als Zeitzeuge fühlte.

Es ist nicht verwunderlich, dass ich auf Grund der starken Emotionen einige Tage später einen sehr klaren und plastischen Traum hatte. In dem Traum erlebte ich offenbar eine Szene, die sich einige Jahre vor dem Verhör zugetragen haben mag. Darin sah ich, wie der Baron soeben aus Italien zurück gekehrt war. Zu Hause kaum angekommen flog ihm die junge Gräfin um den Hals. Sie liebte ihn sehr, wie man erkennen konnte. Eine Zeit lang saßen sie dann an einem Tisch und aßen, um anschließend gemeinsam in einem kurzen Spaziergang um den Berg herum zu gehen.

Sie war schön, die Gräfin, sehr schön sogar. Meine Frau wurde eifersüchtig, als ich von ihr ein Bild gezeichnet hatte und dieses ins Vorzimmer hing. „Von mir hast Du noch nie ein Portrait gezeichnet“, meinte sie gekränkt. Allerdings war sie großzügig genug, um das Bild hängen zu lassen.

Ab da war mir die Gräfin noch näher. Ich fragte mich etliche Male, ob ich mich nicht ebenfalls in sie verliebt hätte, aber ich möchte es lieber Freundschaft und Vertrautheit nennen.

Es entsprach dieser Vertrautheit, dass ich nicht einmal verwundert war, als ich eines Tages für vielleicht nicht länger als eine Sekunde ihre blasse und durchscheinende Erscheinung in der alten Burgkapelle sah. Ich war ehrlich gesagt zunächst verwirrt darüber, dass ich am helllichten Tag eine Vision hatte. Ich gebe zu, ich ging eine Reihe von Alzheimer und Parkinson Symptome durch, aus Schreck, dass ich vielleicht erste Anzeichen einer solchen Krankheit haben könnte. Letztlich fasste ich mich und machte meine Notizen, solange noch alles frisch in Erinnerung war. Da erst fiel mir auf, dass die Gräfin mit einer Hand auf den Boden gezeigt hatte. Ich ging sogleich zu dieser Stelle an der Wandseite hin und klopfte sie ab. Tatsächlich schien eine Steinplatte hohl aufzuliegen. Es war sehr undeutlich festzustellen, denn die Steinplatte schien sehr dick zu sein, wie es auch für die anderen Steinplatten zutreffen mochte. Ich bat um eine Audienz beim Dombischof, was kein Problem war, und erzählte, dass ich entdeckt hätte, dass eine Steinplatte hohl aufliegen würde und es sich vielleicht lohnen würde hier mal nachzusehen. Da es kein Aufwand war eine gerade einen Meter breite Bodenplatte zu heben, rief er den Messner und wir beide kratzten den lehmigen Mörtel an zwei Stellen aus einer breiteren Fuge, bis genügend Platz für zwei Schürhaken war und hoben den Stein. Schwitzend und mit viel Mühe schafften wir es den Stein zu heben. Nicht dass der Stein für uns beide so schwer gewesen wäre, aber er klemmte und wollte sich nicht frei geben. Es war gut, dass wir nicht so schnell aufgegeben hatten, denn als es uns endlich gelungen war den Stein aufzuheben, tat sich eine schwarze Höhlung von etwa einen und einen halben Meter Tiefe auf. Allerdings schien es nach dem ersten Ableuchten eine leere Grube zu sein. Dennoch, beide, der Messner und ich wurden vom Forschergeist erfasst und gerieten in Erregung. Der Messner zwängte sich durch die schmale Öffnung und ließ sich hinab. Ich reichte ihm die Taschenlampe nach. Auf einmal hörte ich ihn rufen, dass sich die Höhlung unter der Kapellenmauer fort setzte. Der Messner kroch ein wenig in dieser Richtung hinein und dann wurde es auf einige Zeit still und ich begann zu fürchten, dass dem Messner etwas zugestoßen sei. Dann tauchte er wieder auf und ragte mit Schulter und Kopf über dem Niveau der restlichen Bodenplatten hervor. Er war ganz aufgeregt und legte eine mit Schweineleder eingebundene Inkunabel auf den Steinboden.

„Da sind noch mehr davon drinnen“, rief er und wollte schon wieder abtauchen.

„Halt“, rief ich, „nicht so eilig, die könnten Schaden nehmen, lass dir Zeit, wir wollen das einem sachkundigem Restaurateur überlassen“.

So geschah es auch, und in der Folge wurde ein wahrer Schatz gehoben. Es waren herrlich illustrierte alchemistische Werke, die bis ins zwölfte Jahrhundert zurück reichten, wobei einige sogar in Althebräisch geschrieben waren. Der Fund war eine Sensation. Etliche Bibliotheken und Museen baten darum die Seiten ablichten zu dürfen. Letztlich publizierte es unser Stadtmuseum wegen der großen Nachfrage im Internet.

Und noch etwas war der Fall, allerdings nicht so sensationell wie der Fund: alle Zweifel an meiner körperlichen und geistigen Gesundheit waren verflogen. Ich hatte zudem die feste innere Überzeugung gewonnen, dass der Mensch mehr als die üblichen fünf Sinne hat.

 

All diese Ereignisse ließen in mir ein nahes persönliches Verhältnis zur Gräfin entstehen. Aus dieser inneren Verbindung heraus stellte ich hin und wieder auf einen kleinen Steinhügel innerhalb der Turmmauern eine Vase mit einem Rosenstrauß hin. Ich schwieg darüber, weil dies missverstanden werden könnte, wie ich die Menschen kenne. Im Bestreben den Tratsch sensationell aufzubessern würden sie manches hinzufügen oder in ihrem Sinne interpretieren. Aber mein Schweigen hatte seine Folgen. In der Stadt waren alle davon überzeugt, dass es der Baron war, der die Blumen hinterlegt hatte. Und wieder gab es über den Baron eine Erzählung mehr. Auch diese Erzählung hatte ihre Spur an Wahrheit, wie andere Erzählungen auch haben mochten. Allerdings erfolgte die Interpretation einer Erwartungshaltung, die vielleicht auch für andere Erzählungen, wie etwa den Besuchen vom Baron im Kaffeehaus, bestimmend gewesen sein könnte. Vielleicht saß der Baron wirklich mal so alle hundert Jahre in diesem Lokal, um sich die Stadt anzusehen. Ich will es nicht bezweifeln. Jedoch in letzter Zeit, wo die Geschichte von der Gräfin und dem Baron durch die diversen Funde und Berichte immer wieder in den Schlagzeilen stand, da besuchte der Baron wesentlich häufiger das Kaffeehaus als alle Jahrhunderte zuvor. Es wurde seine Erscheinung so häufig ins Gerede gebracht, dass mir diesbezüglich doch Zweifel kommen.

 

Zwei ungewöhnliche Klarträume

 

Ich stand am Ende des steinigen Weges, der auf den Berg hinauf führt und sah auf die Stadt hinab. Die Stadt sah anders aus als ich sie kannte. Es waren altertümliche Häuser innerhalb einer intakten Stadtmauer. Zunächst war ich erstaunt, doch dann erkannte ich, dass ich träumte. Im Unterschied zu den üblichen Träumen hatte ich jedoch ein tagklares Bewusstsein, wusste wer ich war und dass mein Körper schlafend im Bett lag. Dergleichen hatte ich noch nie erlebt.

Neugierig ging ich zu der Turmmauer, die eine gleichmäßige Höhe von zirka zwei Meter hatte und öffnete das eiserne Tor, das in das Innere der Umfriedung führte. Dort befand ich mich in einem Hof, der ungefähr vier mal so groß war wie die reale Innenfläche des Turmes. Im Hof war eine kleine Holzhütte, auf die ich zu ging. Ich war einige Schritte davor, als sich die Türe öffnete und eine junge Frau von etwa 18 Jahren heraus trat. Es war die Gräfin, wusste ich miteins aus einem inneren Wissen heraus.

 

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Das Holzhaus der Gräfin

 

Neugierig sah sie mich an.

Ich grüßte sie mit einem schlichten „Grüß Gott, Gräfin“.

„Wo kommen Sie her“, fragte sie mich. „Außer dem Baron hat noch nie jemand hier herein gefunden.“

„Ich weiß es selbst nicht, wie ich hierher gefunden habe“, gab ich zur Antwort.

Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: „Das muss für Sie, Gräfin, ein sehr einsames Leben hier sein“.

Sie setzte sich auf die Bank vor dem Haus und lehnte sich an die Holzwand. Mit einer Geste lud sie mich ein, mich neben ihr zu setzen.

„Ja, es ist sehr einsam hier“, gab sie zur Antwort. „Dafür kann ich in Frieden leben. Die Menschen können sehr grausam sein. Selbst meine früheren Spielgefährten haben mich verraten, als ich ihre Hilfe benötigt hätte. Als wir Kinder waren, hatte ich einen unsichtbaren Spielgefährten namens Otto. Ich hatte ihn anscheinend aus meiner Fantasie gebildet, denn in späteren Jahren bin ich ihm nie begegnet. Jedenfalls fanden es meine Spielkammeraden schön. Dann, als wir in ein heiratsfähiges Alter kamen, wurde meine Freundin auf mich eifersüchtig, weil sie den Domherren heiraten wollte, dieser jedoch mich bevorzugte. Diesen grausamen Teufel, wie konnte man einen solchen Menschen nur heiraten wollen. Ich meinerseits liebte jedoch einzig und alleine den Baron, mit dem ich seit Kindheit vertraut war. Jedenfalls hat sie ihm unser Spielgeheimnis, den unsichtbaren Gefährten Otto verraten. Der bösartige Domherr hat mich dann, als ich es ablehnte mich mit ihm zu vermählen, zwingen wollen, indem er mir drohte mich dem Inquisitor auszuliefern, falls ich ihm nicht mein Ja-Wort geben würde. Er tat es auch letztlich, wobei er mit dem Inquisitor ein gemeinsames Spiel trieb und noch grausamer war als der Inquisitor selbst.“

Dann machte die Gräfin eine Pause. Ihre Gedanken schienen wieder abzuwandern, was ich daran erkannte, dass sich in ihrem Gesicht wieder Frieden abzeichnete. „Aber hier ist es ruhig. Hier kann er nicht herein, denn ich habe an der Wand überall Schutzzeichen angebracht. Leider kann ich auch nicht heraus, wenn ich mich nicht den Händen der grausamen Häscher ausliefern will.“

 

Einige Zeit später hatte ich einen weiteren Klartraum.

 

„Schön, dass sie mich wieder besuchen“, sagte die Gräfin als ich in einem neuerlichen Traum vor ihrem Holzhaus stand. „Sie sind ein guter Mensch!“

„Ich habe sie lange warten lassen“, bemerkte ich bedauernd, als ich mich wieder zu ihr auf die Bank setzte. „Leider ist es mir nicht gegeben frei nach meinem Willen hierher zu kommen. Es bedarf schon der Gnade Gottes, dass mir dies möglich ist.“

„Ja, an ihn habe ich zu zweifeln begonnen“, seufzte sie. „Gibt es ihn wirklich?“

„Ehrlich gesagt weiß ich es nicht“, gab ich verwirrt zur Antwort.

„Sie sind etwas verwirrt darüber“, sage sie sinnend. „In meiner Kindheit war mir dies  selbstverständlich, aber dann als ich verhört und gefoltert wurde, begann ich zu zweifeln. Ein gerechter Gott könne doch solches nicht zulassen, dachte ich immer wieder. Doch Gott zeigte sich nicht und dieser Mensch gewordene Teufel konnte tun und lassen was er wollte.“ Ihre Miene verdüsterte sich.

Schnell gab ich zur Antwort, um sie aus der betrüblichen Stimmung wieder zu befreien: „Es gibt zwar gegenwärtig noch immer menschliche Bestien, die sich in Kriegen hervor tun, doch in einer heilen Nation wie in unserer jetzt gibt es keine Inquisitoren und derartige Willkür.“

„Das ist gut“, gab sie zur Antwort, „eine der erfreulichen Veränderungen. Ansonsten gebe ich zu, dass die Veränderungen unseres Landes, die sich im Laufe vieler vergangener Jahre zeigten, für mich sehr verwirrend sind.“

„Entschuldigung, Gräfin“, ich konnte mein Erstaunen nicht zurück halten. „Woher wissen sie, dass es überhaupt Veränderungen gibt?“

„Wenn ich hier so in Stille sitze, falle ich bisweilen in Schlaf und sehe dann Bilder vor mir. In diesen Bildern sehe ich die Stadt und ihre Menschen und bisweilen auch fernere Länder, wie sie mein Geliebter in seinen Reisen wohl gesehen haben mochte. Und in diesen Bildern hat sich die Welt, so wie ich sie wahrnehme, fast unmerklich, jedoch beständig geändert. Vieles ist mir unverständlich und unerklärlich. Etwa wie Wagen ohne Pferdegespann fahren können. Auch die Straßen und Häuser haben sich geändert. Die Menschen werden von einer ständigen Unrast getrieben, wie man es zu meiner Zeit nicht kannte. Ich weiß nicht, ob die Welt besser geworden ist, dass es jedoch keine Inquisitoren mehr gibt, das finde ich sehr gut.“

 

Dann machte die Gräfin eine Pause. Sie schien mit ihren Gedanken abzuwandern. „Ich bräuchte Wasser für meine Rose“, bat sie mich. „Könnten sie mir welches besorgen?“

„Welche Rose“, fragte ich.

„Diese hier“ und sie zeigte mit ihrer rechten Hand auf einen kleinen Rosenstrauch, der als einzige Pflanze hier im Hof grüne Blätter hatte und eine zaghafte Blüte zeigte. „Er ist aus einer Rosenblüte gewachsen, die mir der junge Baron einmal gebracht hatte.“

Ich erkannte, wie sehr sie sich nach dem Baron sehnte.     

„Wenn man die Erinnerung an Vergangenes erhalten will, ist es gut zu gießen“, meinte ich. „Wenn die Liebe jedoch nicht der Vergangenheit angehören soll, sondern gegenwärtig sein und leben soll, dann ist es besser zu singen!“

Staunend sah mich die Gräfin an.

„Habt ihr nicht gemeinsam in eurer Jugend Lieder gesungen?“

„Oh ja, schon“, sagte sie zögernd und begann zaghaft ein Lied zu singen. Dann wurde sie lauter und Erinnerungen verklärten ihr Gesicht.

 

Sie war beim Singen ganz in sich versunken. Ich wollte nicht stören und entfernte mich. Vor dem Ausgang an der Mauer drehte ich mich noch einmal um. Da sah ich den Baron vor ihr stehen. Für eine lange Sekunde blickten sie einander an, so als könnten sie es nicht glauben, dass es Wirklichkeit wäre. Dann flogen sie einander in die Arme. Ihre Körper wurden heller und lösten sich dann in Licht auf.

Staunend blickte ich auf die nun leere Stelle und wachte im nächsten Augenblick auf.

 

Es ist an dieser Stelle das erste Mal, dass ich hierüber berichte. Jedenfalls hatte die Stadt durch die diversen archäologischen Funde und die Erzählungen um die Gräfin an ihrem Leben stark Anteil genommen. In manchen Lokalen finden sich an der einen oder anderen Stelle Bilder von der Gräfin, auch einige Gedenktafeln an sie gibt es. Das Turminnere, das durch viele Jahre verwahrlost dahin schlummerte, wurde von der Stadtverwaltung in einen Rosengarten umgewandelt. In Mitten der Rosen steht eine Marmorstatue von der Gräfin und zu ihrer Seite auf einer bemalten Tafel ihre Lebensgeschichte. Gelegentlich legen Unbekannte Blumen zu Füßen der Statue.

 

Nachtrag

 

Die Geschichte über die Gräfin ist in vielen Belangen frei erfunden. Der Rahmen dieser Erzählung jedoch stammt aus diversen Astralreisen, von denen ich (Autor Alfred Ballabene) einige zum Abschluss bringen möchte. Diese Astralreisen waren sehr bewegend und ließen viele Fragen offen. Deshalb habe ich mich an eine Frau gewendet, die als einmalig begabtes Medium die Fähigkeit hatte in gezielten Astralreisen die Gräfin aus meinen Astralreisen aufzusuchen, mit ihr zu reden und ihr zu helfen. Die Gräfin verdankte ihren anschließenden geistigen Aufstieg dieser Frau. Auch konnten viele Erklärungslücken geschlossen werden. Dadurch war es möglich die Geschichte der Gräfin in einen logischen, historischen Zusammenhang zu bringen.

 

Die Kommentare hier werden in Ich-Form geschrieben. Diesmal ist jedoch nicht der Gymnasialprofessor Friedrich Wangerer aus der Geschichte gemeint, sondern der Autor Alfred Ballabene.

 

Das Haus auf dem Hügel

 

Sehr oft habe ich von einem kleinen Schloss auf einem Hügel geträumt. Obwohl die Umgebung einer erdnahen jenseitigen Ebene angehörte, waren sich die Menschen dort dessen kaum dessen bewusst und lebten so wie auf der Erde ein gleichsam irdisches Leben weiter. Schweben, Fliegen und andere Fähigkeiten, von welchen auf Astralebenen gerne Gebrauch gemacht wird, waren ihnen fremd.

 

Das Haus oder kleine Schloss, das ich gerne aufsuchte und als mein dortiges Heim betrachtete, war ein größeres Haus auf einem langgestreckten, zu einer Kleinstadt hin steil abfallenden Hügel. An das Haus anschließend befand sich eine Burgruine, von welcher nichts außer einem Turm erhalten geblieben war. Im Erdgeschoß des Turmes befand sich in den ersten Reisen ein bewohnbarer Raum, der von mir "Alchemistenstube" bezeichnet wurde. Anschließend an den Burgteil und von meinem Haus nur durch einen engen Gang getrennt, war das mächtige Bauwerk einer Kathedrale.

 

Ich habe mein Haus, den Burgraum, die Kathedrale und die Stadt sehr oft besucht.

Allerdings, nachdem ich das Haus in Zeitreisen im Laufe einiger Jahrhunderte immer wieder besucht hatte, musste ich feststellen, dass sich im Laufe der Zeit da einiges geändert hatte. Die Turmmauer bröckelte ab und wurde nieder und von dem Raum im Turm, der Alchemistenstube, war in meiner letzten Reise letztlich nur noch ein offener Platz mit hart getretener Erde über. Leider verlor bei dieser Reise auch die einst liebliche Stadt viel von ihrem einzigartig schönen Charakter. An Stelle alter Häuser waren Neubauten und die einst entzückende alte Stadt wurde zu einer farblosen Kleinstadt.

 

In den früheren Träumen war der Besuch des Hauses und der Stadt für mich nichts anderes als eine Heimkunft in einer anderen Dimension. Erst in den letzten Astralreisen tat sich ein mir bis dahin verborgenes Geheimnis auf.

 

Folgendes geschah: Im benachbarten Turm war ein großer Raum, die sogenannte Alchemistenstube, der als Wohnküche diente. Dort lebte ein etwa 18 jähriges Mädchen, das sich in mich verliebt hatte. Die Eltern schienen Grafen zu sein, deren Anwesen, die Burg, zumindest in dieser erdnahen Ebene zu einer Ruine verkommen war und die nun im intakt gebliebenen Turm lebten, mit einigen Vorbauten, die als Nebenräume dienten. Arm und ohne Einfluss schienen die Grafen jedoch nicht gewesen zu sein, denn im Haushalt war eine größere Anzahl von Gesinde.

 

Hier nun die Klarträume, die von diesen Geschehnissen handeln:

 

 

Die Geliebte von der Burg (22. Feb. 2017, zwei Träume in dieser Nacht)

 

1. Traum:

Als ich die Seitentüre meiner Wohnung vom Haus auf dem Hügel verließ, war ich offenbar in einer anderen Zeit wie schon oft. Mein erster Blick galt der darunter liegenden Stadt, an der ich ungefähr die Zeit, in der ich mich jeweils befinde abschätzen kann. Ich ging die wenigen Schritte des Bergweges zur Burg. Draußen vor der Burg, auf einem kleinen Stück felsiger Wiese, traf ich eine in weiß gekleidete junge Frau, die, wie sich sofort zeigte, in mich verliebt war, und die ich gut kannte. Wir waren ein Liebespaar. Da ich sofort freudig begrüßt wurde, hatte ich anscheinend das Aussehen der damaligen Zeit. Just zu dem Augenblick als ich dem Mädchen begegnete, wollten die Eltern sie herein rufen. Doch als sie sahen, dass ihre Tochter mich draußen getroffen hatte, hörte ich die Mutter zum Vater sprechen, dass ein Versuch sie herein zurufen in diesem Fall zwecklos wäre. Die Mutter hatte wohl recht. Wir zwei plauderten dann noch eine kurze Weile, wobei ich sie zu einem Ausflug einlud.

 

 2. Traum:

Es handelte sich wiederum um eine Zeitreise.

Ich ging in Begleitung von Ada, in die Burg. Ada ist eine meiner jenseitigen Helferinnen und war in meiner Jugend eine gute Bekannte, mit der ich noch durch viele Jahre Briefe wechselte. Ada, eine Holländerin, war damals ungefähr im gleichen Alter wie die junge Gräfin in meinem vorherigen Traum. Allerdings, da Ada kein Wort zu mir sprach, wurde ihre Begleitung für mich etwas verwirrend. Mag sein, dass da noch eine andere Querverbindung mitspielte, die ich noch nicht durchschaut habe.

 

Ada und ich gingen zusammen in die Wohnung im Burgturm. Es war wie schon zuvor beschrieben ein einziger, jedoch großer Raum. Dieser Raum, eine Wohnküche,  war bei unserem Kommen ziemlich bevölkert. Es waren etwa 5 bis 8 Leute anwesend. Sofort erspähte ich meine Geliebte. Dann schweifte mein Blick zu ihren Eltern und anschließend zu den Hausgehilfen. Ein oder zwei weitere Hausgehilfen kamen gerade durch eine weitere Türe herein. Alle im Raum hielten mit ihrer Arbeit inne und sahen sofort zu mir und meiner schwarzhaarigen Begleiterin Ada, die mich in diesem Traum schweigend und wie ein Geist begleitete. Es erschien mir als würden rätselnde Blicke auf mich gerichtet sein ob der fremden Frau an meiner Seite. Es war für mich eine unangenehme Situation und ich befand mich in Erklärungsnot. Um von vornherein jegliche Eifersucht zwischen den zwei Frauen zu vermeiden und die Anwesenden zu beruhigen, stellte ich meiner Geliebten Ada als eine Bekannte aus Holland vor und erklärte anderseits Ada, dass die Geliebte meine Verlobte wäre. Ich meinte das nicht so ganz ernst, sondern wollte hierdurch nur die größere Nähe der Geliebten festlegen und dadurch von vornherein Rivalitäten vermeiden. Das Pech war, dass ich mein gegenwärtiges Bewusstsein aus dem 21. Jahrhundert hatte und auch so dachte, wie wir gegenwärtig denken. In heutiger Zeit nimmt man voreheliche Versprechen wie es die Verlobung ist nicht mehr so ernst als vor etwa 400 Jahren. Damals war eine Verlobung ein Eheversprechen, sie war bindend und eine Frau, die stehen gelassen wurde, war entehrt.

"Das geht aber schnell", meinte die Geliebte ohne Ada zu beachten und eilte zu mir. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und gab mir einen Kuss. Ob sie Ada als meine Geistbegleiterin gar nicht gesehen hatte?

 

Ich war durch die gesamte Situation mit den zwei Frauen, und der schnell ausgesprochenen Verlobung überfordert und verließ sofort wieder den Raum durch eine weitere der drei Türen und ging mit Ada in die benachbarte Kirche. Retrospektiv gesehen war es sehr merkwürdig, dass mich Ada wie ein Schatten begleitete, wie ein Geist. Wir hatten die ganze Zeit kein einziges Wort gesprochen und auch keinen einzigen Augenkontakt gehabt.

 

In der Kirche war der Beginn einer Feier. Zahlreiche Männer mit schwarzen Zylinderhüten ohne Krempe marschierten in einer Prozession ein. Ich sah mir die Prozession aufmerksam an. Irgendwie schienen die Menschen nicht in die vertraute Umgebung zu gehören. Etwas Fremdartiges nicht in die Zeit und Umgebung Gehörendes war mit ihnen verbunden. Vielleicht handelte es sich hierbei um eine die Umgebung überlagernde Vision, welche ein nahendes Unheil ankündigte?

 

 

Ein weiterer Traum mit der Geliebten von der Burg (5. März 2017)

 

Ich war wieder in dem Haus auf dem Hügel. Ich ging zur Türe des ersten Zimmers, die auf den Bergweg hinaus führt, um einen Blick auf die Stadt zu werfen. Die astrale Umgebung hatte einen fast gegenwärtigen Charakter. Vor vierzehn Tagen als ich dort war, befand ich mich einige Jahrhunderte in der Vergangenheit.

Was ich nun sah schien etwa 40 Jahre vor der Gegenwart zu liegen. Es gab keine Fernsehantennen, aber auch keine Autos. Aber vielleicht waren sie auch nicht da, weil man in astralen Welten weder Fernsehen noch Autos benötigt? Ich sah die Straße mit ihren Häusern unten am Fuß des Hügels sehr klar und deutlich, gestochen scharf, wie man so sagt. Den Weg hinunter in die Stadt gab es nicht mehr. Der abfallende Felsenhang war abgetragen worden zugunsten eines Bahngeleises. Schade, der Hang mit den herausschauenden Felsen und dem spärlichen Bewuchs war sehr idyllisch. Ich habe ihn sehr geliebt. Er war sozusagen mein Privatweg hinunter in die Stadt, auch wenn am Sonntag viele Kirchenbesucher herauf kamen, an meiner Außentüre vorbei gingen und dem Weg um die Burgruine hin zur Kirche folgten.

Nun ja, so ändert sich eben manches. Unten in der Stadt, gegenüber von meinem Standort, war ein Haus mit einem großen ländlichen Tor. Offenbar war es ein Reitstall, denn eine Gruppe von ca. 5 Reitern, sie hatten englische Reitsättel, ritten gerade beim Haustor ein. Schon wollte ich mich entschließen die Stadt zu besichtigen, als mir die Burgstube einfiel. Ich beschloss hin zu gehen, um mehr Klarheit über die Verlobte zu finden. Die Alchemistenstube erwies sich als ein verlassener Geisterort. Sie schien ein Ort zu sein, der schon lange von keinem Menschen mehr betreten worden war. Der Raum zeigte Staub und Spuren des Verfalls. Vielleicht war der Raum ein Geisterort, der von anderen Leuten nicht wahrgenommen werden konnte.

 

Es folgte eine kurze Zwischenszene, vielleicht nur innerlich erschaut: Bei der Burgruine gab es noch den leicht abschüssigen felsigen Berghang. Hier war er nicht abgetragen worden. Unten am Fuß von dem sanften Berghang erblickte ein etwa 12 jähriges Mädchen. Es saß dort auf dem felsigen Boden und schien verwirrt zu sein. Als ich mich mental einstimmte, gewahrte ich, dass sie an einen Mann dachte, der ihr viel zu bedeuten schien.

Anschließend war ich wieder in der Alchemistenstube. Ein großer schwerer Holzkasten, gut zwei Meter und dreißig cm hoch, erweckte mein Interesse. Er war von der Mauer weggerückt und stand schräg in den Raum. Das war auffällig.

 

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Es schien mir ein Hinweis zu sein und ich ging deshalb dort hin. Hinter dem Kasten war ein mit Holz umrahmter Spiegel von etwa 40 cm Höhe. Als ich ihn hoch hob, zerfiel das Spiegelglas. Ich sammelte die Splitter auf und gab sie in ein gehämmertes Messinggefäß in der Größe etwas kleiner als ein üblicher Eimer. Stück für Stück sammelte ich die Splitter ein. Als darunter ein Stück dickes Glas war, sonderte ich dieses aus und legte es zur Seite. Ich handelte wissend intuitiv, von innen geleitet, ohne über ein Wie und Warum zu grübeln. Bei dem dicken Stück Glas etwa hatte ich das Empfinden, dass es die Reinheit der gesamten Komposition eines erneuerten  Spiegelbildes stören könnte.

 

Anschließend ging ich zu dem Mädchen und führte es zur Alchemistenstube. Dort wies ich es an den Kopf zum Eimerrand zu senken und half etwas nach. In diesem Augenblick hatte das Mädchen eine Vision ihrer Vergangenheit und war zugleich geheilt. Selbst ihr Äußeres änderte sich. Sie hatte auf einmal ein Kleid aus dunkelgrüner Naturseide an und war gepflegt. Das Kleid war schon etliche Jahrhunderte alt und ich machte das Mädchen darauf aufmerksam. Dann fragte ich sie, ob sie sich an ihren früheren Geliebten erinnern könne. Sie bejahte und ich sagte ihr, dass ich es wäre. Sie freute sich mich wieder gefunden zu haben.

 

Ich konnte mir anfangs nicht erklären, weshalb ich meiner Geliebten im Alter eines  12 jährigen Mädchens begegnet bin. Zusätzlich war das Mädchen gestört. Da musste Schreckliches vorgefallen sein.

In meiner Handlungsweise mit dem Spiegel während der Astralreise hatte ich eine sichere innere Intuition. Da war mir klar: die Persönlichkeit war zerbrochen. Das sah man deutlich am Spiegel, in dem man zu jener Zeit ein magisches Objekt sah, durch das man gleichsam in die Anderswelt blicken konnte. Man vermeinte damals zumindest gelegentlich seine eigene Seele im Spiegel zu sehen. Beim Tod eines Menschen mussten die Spiegel verhüllt werden und auch eventuelle Portraits. Die Verstorbenen könnten über diese Tore in die irdische Welt hinein wirken, so dachte man.

Geleitet vom damaligen Glauben und von einer inneren Intuition geführt, versuchte ich die  Spiegelsplitter wieder zusammen zu fügen und als das nicht ging, sammelte ich sie zumindest, was auch eine Art des Zusammenfügens ist. Das gesamte Seelenbild war, wie der Spiegel zeigte, zerstört. Die einzelnen Splitter entsprachen den einzelnen Persönlichkeitsaspekten oder Erinnerungen und den wesentlichen Lebenserinnerungen, aus welchen sich eine jeweilige Persönlichkeit zusammen setzt. Somit waren mit den Spiegelsplittern die Erinnerungen an das eigene Ich des Mädchens verbunden. Es sind die Lebenserinnerungen, welche uns unsere Individualität verleihen und das ausmachen, was wir als Ich bezeichnen. Durch einen Blick auf die Spiegelteile, wollte ich die Erinnerungen wieder reaktivieren, auch wenn es schmerzen mochte. Aber es musste sein. Durch Verdrängung kann niemals eine Heilung erfolgen. Nur eine schmerzhafte Konfrontation und Verarbeitung ermöglicht dies. Das schien mit dem magischen Vorgang gelungen zu sein, allerdings nur teilweise, denn da war noch das jüngere Alter der Geliebten. Sie war ein erwachsener Mensch als wir in Liebe zueinander fanden und kein Kind.

 

Erst viel später, durch die Hilfe des Mediums M. fand sich eine Erklärung, weshalb meine Geliebte, die junge Gräfin, ein Geisterleben als zwölfjähriges Mädchen geführt hatte. Allmählich, dadurch dass die Lebensgeschichte der Geliebten sich enthüllte, fand ich die Erklärung für dieses Paradoxon.

Vorwegnehmend will ich die Ursache erklären, damit dieser Teil der Astralreise nicht unverständlich bleibt.

Mit der Reife zu einer Erwachsenen, entstanden für die junge Gräfin Probleme, die es in ihrer Kindheit nicht gab: Freundinnen wurden zu Konkurrentinnen um die Gunst der Männer. Frustrierte, abgewiesene Männer wurden zu Feinden. Es gab Verleumdungen beim Inquisitionsrichter. Zudem verfügte die Familie der jungen Gräfin über Geheimnisse und Vermögen auf welche zumindest einer der Mächtigen Zugriff haben wollte. Letztlich kumulierten diese Probleme in Kerker, Verhören, Folter und Gehirnwäsche. Das Erwachsenendasein wurde zu einer nicht mehr kontrollierbaren Katastrophe. Die Persönlichkeit der jungen Gräfin wurde zerschlagen, kriminalisiert und mit Schuld beladen. Das einzige Heile woran die junge Gräfin noch Halt finden konnte, wenn sie ihre psychische Eigenexistenz nicht vollkommen aufgeben wollte, war die Erinnerung an die Kindheit. Ein sorgenloses Kind wollte die junge Gräfin nach ihrem Tod wieder sein und so nahm sie die Gestalt eines zwölfjährigen Mädchens an.

 

 

Die Geisterfrau (4.Apr.2017; wieder waren es zwei Träume innerhalb der Nacht)

 

Erster Traum

Ich war wieder zu Hause, nämlich in dem Haus auf dem Hügel, was mir zunächst nicht so bewusst war. Doch sobald ich Klarheit gefunden hatte, ging ich sofort durch die Seitentüre auf den Weg hinaus.

Dort sah ich zwei Männer nicht weit von mir auf der Anhöhe stehen. Zunächst jedoch sah ich mir die Gegend an. Sie war unschön und irgendwie verwahrlost. Unten wurde die Straße saniert und ein Pferdefuhrwerk mit Teerzeug fuhr vor. Nach diesem ersten, wenig erfreulichen Eindruck wandte ich mich den zwei Männern zu. Sie blickten mich misstrauisch an und ich entnahm ihren Gedanken, dass sie mich für einen Spion des Regimes hielten. Sofort fragten sie mich wer ich wäre. Ich gab zur Antwort, dass ich alle hundert Jahre hierher käme, um mir die Gegend anzusehen. Momentan hier wäre die Stadt so hässlich wie noch nie. Beide starrten mich an, unwillig ein weiteres Wort mit mir zu reden. Da sie beide mit mir nicht weiter sprechen wollten, erklärte ich ihnen, dass ich laut rufen würde, falls sie ein Gespräch mit mir ablehnten. Da bekamen sie Angst, dass die Obrigkeit auf sie aufmerksam werden könnte. Der eine machte sich aus dem Staub. Den Verbliebenen schien mutiger und neugierig zu sein. Ich fragte ihn nach der Alchemistenstube. Er machte als Antwort eine Geste, indem er eine Grimasse mit schrägem Mund machte und einen debilen und körperlich missgebildeten Menschen nach ahmte. Widerwillig sagte ich ihm barsch: "das genügt schon" und wendete mich von ihm ab und dem Turm zu.

 

Ich ging zur schmalen Passage, auf deren rechten Seite der Turm mit der Alchemistenstube war. Dieser Teil war diesmal durch einen Holzverschlag, der mit weißen Folien abgedeckt war, versiegelt. Ich brach durch den Holzverschlag durch und ging in die Mitte des ehemaligen Alchemistenraumes, ungeachtet, dass ein Teil der Folien sich um meinen Körper gewickelt hatte und an ihnen hängend ich auch einige Bretter mitschleppte. Links neben der Stelle wo früher der Kasten war, war ein kleiner Tisch mit einer Vase und einem großen Strauß roter Blumen. Ich fühlte die Geliebte im Raum und eine große Traurigkeit erfüllte mich. Ich fühlte deutlich ihre Gedanken, in welchen sie mir mitteilte, dass ich nicht unser kurzes Wiedersehen mit traurigen Gedanken trüben möge. Dem Gefühl nach war sie etwa 18 Jahre alt und gesund, aber an den Ort gebunden.

 

Zweiter Traum

Wieder befand ich mich in dem Haus auf dem Hügel. Wie immer erlangte ich hierbei ein tagklares Bewusstsein.

Ich wendete mich der Seitentüre zu, um auf meinen Lieblingsweg mit dem Blick zur Stadt und zur Burgruine hinaus zu treten. Die Türe war zwar vorhanden aber mit allerlei Dingen zugestellt. Davor waren etwa 5 große Kirchenkerzen, nicht brennend. Die Kerzen waren wohl ein Hinweis, welchen ich in diesem Augenblick noch nicht deuten konnte. Für mich ergab sich nur, dass die Türe zur momentanen Zeit nicht mehr in Verwendung war. Solche Veränderungen waren für mich nicht weiter verwunderlich, als ich ja bislang das Haus zu den verschiedensten Zeiten, quer durch die Jahrhunderte betreten hatte. Ich machte die Türe frei und ging hinaus. Vor der Türe war kein Weg mehr. Der Weg hatte sich abgesenkt, war nur noch ein dünner Saum und war etwa zwei Meter tiefer. Das Haus war an dieser Stelle mit einer Betonmauer abgestützt. Der obere Rand der Betonmauer war etwa 50 cm breit und ich kletterte darauf an einem Pfeiler vorbei zur Passage. Auf der Stadtseite war ein Teil der Burgmauer so weit abgetragen und nieder, dass man über den Mauerrest in die ehemalige Alchemistenstube hinein sehen konnte. Ein Stück weiter war eine rostige Eisentüre, die sich jedoch nicht öffnen ließ. Ich ging wieder zu dem niederen Mauerrest zurück und kletterte auf einen Stein, um besser hinein sehen zu können. Innen war nichts mehr von früher zu erkennen. Es war blanke festgetretene Erde auf der einige Stellen waren, an denen Leute ein Lagerfeuer gemacht hatten. Als ich hinein sah, begann an verschiedenen alten Feuerstellen so etwas wie ein Elmsfeuer aufzuleuchten. Ich weinte. Da hörte ich wie von innen her an der Eisentüre gerüttelt wurde. Dann wachte ich auf.

 

Weitere Informationen

 

Mit Hilfe einer medial begabten Frau, deren Namen ich mit M. abkürzen will, konnte vieles aus der früheren Existenz der Gräfin aufgeklärt werden. Auch hat sie der Gräfin sehr geholfen ihre selbstgewählte Isolation zu überwinden und diese zu verlassen. Die Gräfin wurde im Anschluss von jenseitigen Heilern umsorgt und dann sogar von diesen ausgebildet. Ich bin jener medial hochbegabten Frau für ihre selbstlose Hilfe sehr dankbar. Die Gräfin habe ich im Anschluss daran nur einmal in einem Astraltraum kurz gesehen und dann nie wieder. Sie kam mich in Begleitung einer Heilerin besuchen, um zu sehen, wer oder wie dieser Mann wäre, der vielleicht einmal der von ihr geliebte Baron gewesen war.

 

Rechtshinweise

 

Erstausgabe 2018, Wien.

Illustrationen und Texte stammen von Alfred Ballabene,

Urheber- und Publikationsrechte aller Bilder und Texte ebenfalls von Alfred Ballabene

 

Ich bedanke mich für Ihren Besuch

 

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Alfred Ballabene